Unsere Buchempfehlungen im Februar

                     


altes leid 150x237

 

Heyne 16,00€

 

Lea Stein: "Altes Leid"

Die patente Ida Rabe macht sich Ende des zweiten Weltkrieges ausgerechnet in das zerbombte Hamburg auf. Die junge Frau muss der Enge und ihrem lieblosen zu Hause auf der Insel Amrum entfliehen.
Es dauert nicht lange und sie wird zur rechten Hand der gefürchteten Untergrundqueen Marlise, wohnhaft in den Bunkergängen unter St. Pauli, wie so viele andere ärmste Kreaturen ohne Dach über dem Kopf. Doch in Ida steckt soviel Ehrgefühl, dass sie das Leben als Halbkriminelle nicht lange aushält und stattdessen eine totale Kehrtwendung macht. Sie marschiert zum Karl Muck Platz und bewirbt sich als weibliche Polizistin und tatsächlich: sie wird an der Polizeischule aufgenommen. Am 1.Mai 1947 hat sie ihren ersten Arbeitstag in der Davidswache, ausgerechnet in ihrem alten Kiez St.Pauli. Die weiblichen Polizistinnen sind im Keller zu Schreibtischarbeiten verbannt. Das passt der abenteuerlustigen, unerschrockenen Ida so gar nicht und auch die schüchterne Blondine, mit der sie einen Raum teilt und die zu allem Überfluss noch die Tochter des angesehenen Kommissars Brasch ist, kann sie von Anfang an nicht leiden.

Mehr als auf das Protokollschreiben und Kontrollen auf dem Schwarzmarkt richtet sich Idas Aufmerksamkeit auf Überfälle in den Vierlanden. Dort werden junge Frauen, die auf Hamsterfahrt gehen hinterrücks ausgeraubt und auf brutale Weise vergewaltigt. Die Opfer  sind derart traumatisiert, dass sie nur den Diebstahl ihrer Werttauschgegenstände zur Anzeige bringen, nicht aber über die furchtbaren Misshandlungen sprechen mögen. Schon gar nicht mit männlichen Polizisten, von denen sie niemals ernst genommen würden. Ida fühlt sich auf den Plan gerufen und ermittelt auf eigene Faust. Damit bringt sie nicht nur ihren Vorgesetzten gegenüber in Schwierigkeiten, sondern sich selbst in höchste Lebensgefahr. Nur gut, dass sie den charismatischen Gerichtsmediziner Ares Konstantinos als Verbündeten an ihrer Seite hat.

Ein spannender Kriminalschmöker, der uns als Leser einmal wieder die bittere Nachkriegsarmut in Gedanken ruft. Es ist unvorstellbar, wie sich manche Menschen aus den Trümmern der Großstädte ohne einen Krümel im Magen und ohne Schlafstatt herausgearbeitet haben. So auch Ida, der am Ende dieses Buches noch eine gehörige Überraschung winkt.
Für Leser*innen von der Hebamme Fräulein Gold oder den Elbstürmen die ideale Lektüre.

Annette Matthaei

 


tanners erde 150x237

 

Rowohlt 22,00€

 

Lukas Maisel: "Tanners Erde"

Tanner ist ein Schweizer Bergbauer, der gemeinsam mit seiner Frau Marie einen kleinen Hof bewirtschaftet: ein paar Kühe, ein paar Weiden für das Futter, das ist alles. Das Einkommen ist bescheiden, aber für Tanner und seine Frau reicht es, die beiden sind zufrieden. Das Leben ist sicher kein leichtes und das Paar kein im Reden großes, aber sie sind sich einig und bewältigen ihren Alltag gemeinsam.
Eines Morgens muss Tanner allerdings eine außergewöhnliche und besorgniserregende Entdeckung machen. Auf einer seiner Weiden hat sich ein Krater aufgetan, groß, tief und unerklärlich. Bald kommt ein zweiter hinzu, niemand versteht, wie es dazu gekommen ist. Tanner sieht seine und Maries Lebensgrundlage bedroht, wie soll er die Kühe füttern, wenn er kein Heu ernten kann? Das Leben gerät aus den Fugen, Geologen und Journalisten bevölkern den Hof, die Nachbarn beäugen diese Aufmerksamkeit misstrauisch: Ob nicht doch Tanner selbst das verursacht hat?

Eines dieser kleinen, schmalen Bücher, die scheinbar so unspektakulär daherkommen, beim Lesen aber eine große Wucht entfalten und lange nachklingen. Sicher eine gute Empfehlung für alle, die „Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler gern gelesen haben.

Astrid Henning

 


flamingo150x237

 

mareverlag 24,00€

 

Rachel Elliott: "Flamingo"

Daniel Berry steht auf der Straße, sowohl im übertragenen, als auch im sprichwörtliuchen Sinn! Seine Freundin verließ ihn und der Vermieter kündigte fristlos und mit sofortiger Wirksamkeit die Wohnung - die Nächte im Park sind noch nicht zu kalt, aber eine heiße Dusche würde ihm gerade sehr helfen...
Als er in der Stadtbibliothek Zuflucht sucht und wie ein Häufchen Elend zusammengesunken über sein Schicksal nachdenkt, sorgt die Begegnung mit einer Fremden für einen Geistesblitz: drei schillernde Flamingos auf einer Rasenfläche stehen plötzlich vor seinem geistigen Auge!

Als Kind lebten Daniel und seine Mutter Eve neben dem Haus mit den drei pinkfarbenen Vögeln! Sherry, ihr Mann Lesly und die beiden Töchter Rae und Pauline sorgten schon bald dafür, dass die beiden Neuankömmlinge sich in der neuen Umgebung wohl fühlten, immerhin war es der zigste Umzug für den kleinen Jungen und seine junge Mutter... Im Haus der Flamingos wurde gelacht, lautstark gesungen, viel debattiert und heftig gestritten - die anschließenden Versöhnungsessen waren legendär. Familienleben, wie man es sich nicht normaler und besser wünschen könnte! Doch dann geschah etwas, womit niemand rechnen konnte... Jetzt, auf dem kalten Boden der Bibliothek sitzend, möchte Daniel ganz schnell zurück in die Stadt, die er vor vielen Jahren verließ...

Ein absolutes Wohlfühlbuch! Der Lambertiplatz befindet sich im "Flamingo" - Rausch ;)

Andrea Westerkamp

 


bissle spaetzle habibi 150x237

 

Ullstein Verlag 11,99€

 

Abla Alaoui: "Bissle Spätzle, Habibi?"

STOPP!
Geben Sie diesem Buch eine Chance! Trotz des haarsträubenden Covers… Bitte nicht lange den Kopf schütteln, schnell aufschlagen und anfangen zu lesen! Es lohnt sich total! So unterhaltsam, so kurzweilig, so kulturvermittelnd, so berührend, so viel Hamburg und so viel Essen – „Bissle Spätzle, Habibi?“ macht einfach nur Spaß und öffnet einem Augen und Herz.

Amaya Baysan ist als Tochter marokkanisch-muslimischer Migranten und Älteste von drei Geschwistern in Hamburg geboren und aufgewachsen. Ihre Kindheit und Jugend waren geprägt von einem typisch norddeutschen Schulalltag und der engen Freundschaft zu Klara Luise Dietrich sowie einem liebevollen, fröhlichen Zuhause, in dem die Familienbande, das Leben marokkanischer Traditionen und die vom Islam geprägten Werte der Eltern wesentliche Bestandteile ausmachten. Für die 30-jährige Amaya, die sich selbst als moderne Muslima und das Ausüben ihres Glaubens als etwas sehr Privates betrachtet, hat dies schon immer einen ständigen Spagat zwischen westlichem Lebensstil und den konventionellen Wertevorstellungen ihrer Eltern bedeutet. Die Familie ist ihr über alles wichtig, ihr eigenes Leben und die Freiheit, für sich selbst zu bestimmen, aber eben auch.
Gegen Babas Willen hat Amaya ein Schauspielstudium absolviert. Recht erfolgreich! Zum (späten) Stolz ihrer Familie spielt sie eine große Rolle in einer beliebten Soap. Doch der Preis für die Verwirklichung ihrer eigenen Träume war hoch: Ihre Eltern brachen aufgrund dieser „unzüchtigen“ Ausbildung den Kontakt zur ältesten Tochter ab. Vier Jahre konnte Amaya nur über ihre Geschwister erfahren, wie es den Eltern geht. Den Fehler, offen ihre eigenen Wünsche über die Grundsätze ihres Vaters zu stellen, macht Amaya nicht noch einmal. Regeln wie das strikte Alkoholverbot lassen sich recht leicht umschiffen. Doch dass sie sich ausgerechnet in den attraktiven, bodenständigen, verständnisvollen, sehr geduldigen Kinderchirurg Daniel verliebt, stellt Amaya vor eine große (kulturelle) Herausforderung. Denn Daniel ist nicht nur KEIN Muslim, sondern auch noch SCHWABE! Der Kulturclash wird schnell überwunden. Aber wie soll Amaya umgehen mit ihrer Liebe zu diesem quasi perfekten Mann, den ihre Eltern konsequent als Partner ablehnen würden? In die Enge getrieben von den Verkupplungsversuchen ihrer Mutter und Schwester mit Hilfe von tinder (nein: minder!), stellt Amaya ihrer Familie Daniels besten Freund Ismael als potentiellen Zukünftigen vor. Nach einem Jahr überaus anstrengender Geheimhaltung ihrer wahren Liebe passiert dann, was passieren muss: Die Bombe platzt – natürlich im unpassendsten Moment. Baba Baysan bricht ob der Offenbarung dieser unsäglichen Lüge zusammen. Amaya hyperventiliert; der Gedanke daran, ihre Familie ein zweites Mal, endgültig zu verlieren, reißt ihr den Boden unter den Füßen weg. Zum Glück siegen manchmal dann aber doch Liebe und Verständnis über Glaubenssätze und Traditionen…

Abla Alaoui, selbst Hamburgerin und Musicaldarstellerin mit marokkanischen Wurzeln, hat, so scheint es, ganz viel von sich selbst in ihren Debütroman gesteckt. Wie sonst könnte jemand so empathisch, so sensibel, so echt diese schmerzvolle innere Zerrissenheit einer jungen Frau beschreiben, die mit Leib und Seele den marokkanischen Traditionen und den Werten des islamischen Glaubens ihrer Eltern verschrieben ist und gleichzeitig ihr Leben selbstbestimmt und frei von Konventionen leben möchte; die sich zwischen der Liebe eines Mannes, den ihre Eltern niemals akzeptieren würden, und der Liebe ihres Vaters entscheiden muss? Man fragt sich, ob es ein Stück weit Abla Alaouis eigene Geschichte ist.
Lebendig, humorvoll und dabei immer sensibel schildert sie Szenen wie die erste Begegnung zwischen der hamburgisch-marokkanischen Amaya und Daniels schwäbischen Eltern, nimmt sie deutsche sowie marokkanische Gepflogenheiten aufs Korn. Herzzerreißend spürbar dargestellt sind Amayas Panikattacken bei dem Gedanken daran, ihr Vater würde sie erneut aus der Familie verbannen. Mit den zwischengeschobenen Passagen über Amayas Kindheit und Jugend sorgt Alaoui für Abwechslung und erklärt nebenbei, wie diese innere Zerrissenheit Amayas entstehen konnte.
Als Überschriften für alle Kapitel fungieren zum Nachdenken anregende arabische Sprichwörter, in arabischen Schriftzeichen sowie deutscher Übersetzung gedruckt.

Nina Chaberny-Bleckwedel

 

 

Unsere Buchempfehlungen im November


koenigsmoerder 150x237

 

Heyne 24,00€

 

Robert Harris: "Königsmörder"

Nach dem erbitterten Bürgerkrieg zwischen Royalisten und Republikanern wird Karl I am 30. Januar 1649 vor der Residenz Whitehall in London hingerichtet. Unter infernalischem Gejohle des Volkes fällt sein Kopf. Oliver Cromwell bekleidet ab jetzt die Rolle des Lordprotektors und steht dem Parlament vor. Er und 58 weitere Mitstreiter unterschreiben das Todesurteil des Königs aus dem Hause Stuart.
11 Jahre später hat sich das Blatt für die Parlamentarier gewendet. Karl II hat den Thron zurückerobert und verabschiedet einen Schulderlass für alle. Die Unterzeichner des Todesurteils aber sind ausgenommen und werden bedingungslos gejagt und brutal ermordet. Mehr als die Hälfte der Männer Cromwells kommen in England ums Leben. Einige setzten sich nach Holland, Deutschland oder die Schweiz ab. Aber auch dort wird ihnen nachgestellt und nur wenige sterben eines natürlichen Todes.

Ned Whalley und William Goffe, zwei enge Mitstreiter Cromwells, lernten sich in dessen Regiment kennen. Der junge Will verliebte sich in die Tochter des älteren Whalleys und ehelichte diese. Schnell erkennen die beiden nun verwandten Oberste, dass es für sie in England kein Entrinnen gibt und setzen sich mit einem Schiff im Mai 1660 nach Neuengland ab. Im Juli gehen sie in Boston von Bord und werden von dortigen Puritanern versteckt. Was sie nicht wissen ist, dass ihnen ein Mann auf der Spur ist, der kein Erbarmen kennt und vor Fanatismus glüht, Richard Nayler! Er hat gute Gründe für seinen Feldzug, waren es doch Goffe und Whalley, die den Tod seiner Frau und seines Kindes verursacht haben.
Es beginnt eine, wirklich bis auf die letzte Seite, enorm spannende Jagd durch ganz Neu England nach den beiden letzten Königsmördern.

Da ist Robert Harris mal wieder ein ganz großer Wurf gelungen. Minutiös recherchiert und mit Sogwirkung bringt er uns Lesern eine dunkle Seite der englischen Geschichte nahe. Ein tolles Buch, das ganz sicher unter dem Tannenbaum für Begeisterung sorgen wird.

Annette Matthaei

 


hoehenrausch 150x237

 

Rowohlt Berlin 28,00€

 

Harald Jähner: "Höhenrausch"

Schon mit „Wolfszeit“ hat Harald Jähner bewiesen, wie packend Zeitgeschichte sein kann, das Buch war 2019 ein großer Erfolg und erhielt den Preis der Leipziger Messe.

In seinem neuen Buch widmet sich Jähner der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert, beginnt also im November 1918, endet allerdings bereits im Frühjahr 1933, als Hitler Reichskanzler wird und die Weimarer Republik ein Ende findet. Die Stärke von Jähners Beschreibung liegt zum einen in seiner intensiven Recherche, in seiner Kompetenz und seinem glänzenden Stil, zum anderen aber in der umfassenden Beschreibung des Alltags der Weimarer Republik. Natürlich geht es um den politischen Übergang vom Kaiserreich zur Republik, den der Autor faktenreich und dennoch sehr lesbar und spannend schildert. Aber Jähner berichtet eben auch von sämtlichen Bereichen des Alltags, die jedermann und jede Frau betrafen: Wohnen, Verkehr, Mode, Freizeitvergnügen, die veränderte Arbeitswelt als Folge der zunehmenden Technisierung, das Verhältnis zwischen Männern und Frauen – es wird deutlich, wie alles mit allem zusammenhängt, und nicht jede Veränderung von jedem begeistert auf- und wahrgenommen wird.

Sehr erstaunlich, wie viele Themen in den 20er Jahren aufkamen, die unseren Alltag auch heute maßgeblich prägen: die zunehmende Individualisierung, das Aufbrechen der Geschlechterrollen (auch wenn es das Wort „queer“ so noch nicht gab), es ist die Rede von „Kommunikationsblasen“, auch das Wort „Lügenpresse“ gab es bereits und das Tischtelefon beim Tanztee kann als Vorläufer von Dating-Apps gelten. Man kann nicht umhin, gewisse Parallelen zu heutigen Verhältnissen zu entdecken und blickt nach der Lektüre dieses Buches noch eine Spur nachdenklicher und hoffentlich wacher auf unsere Gegenwart.

Astrid Henning

 


mit dir bis ans andere ende der welt 150x327

 

Eisele 24,00€

 

Mary Beth Keane: "Mit dir bis ans andere Ende der Welt"

Die Geschichte beginnt in den 60er Jahren in einem Dorf im bettelarmen Irland.

Big Tom und seine Frau haben fünf Kinder, drei große Jungen, die bildhübsche Lily und dann noch Greta, die Nachzüglerin. Greta wird in der Familie „die Gans“ genannt, denn mit schief gehaltenem Kopf und flatternden Armen läuft sie wie ein Gänslein immerfort linkisch ihrer älteren Schwester hinterher.
Lily zieht es in die weite Welt. Das Volk der Traveller hat es ihr besonders angetan. So ist sie kaum zu halten, als das fahrende Volk auch in ihr Dorf kommt. Michael Ward ist ein junger Gipsy mit dunklen Locken und Lily verliebt sich in ihn.
Niemals hätte Greta sich vorstellen können ihr Dorf und vor allem ihre Familie zu verlassen. Aber als ihr Vater Big Tom ums Leben kommt, weiß die Mutter sich keinen Rat und gibt dem Drängen von Lily nach, nach New York auszuwandern wie so viele Menschen aus Irland. Bedingung ist, dass die sechszehnjährige Greta sie begleitet. Und so stehen die beiden Mädchen eines Tages beklommen an der Reling eines großen Schiffes, das sie in die verheißungsvolle neue Welt bringen soll und sehen ihre Familie an Land immer kleiner werden. Was die Mutter nicht weiß: auch Michael Ward ist mit an Bord.
New York erfüllt erwartungsgemäß nicht die Träume der Neuankömmlinge. Lily zerbricht fast an ihrem Schicksal, doch Greta und das hätte keiner, am wenigsten sie selbst, geglaubt, wächst über sich hinaus.

Frau Keane ist ein wunderbarer Familien- und Auswandererroman gelungen, den ich nicht mehr aus der Hand legen wollte. Die Figur der Greta hat mich in ihrer Zähigkeit, bedingungslosen Liebe zur Schwester und Bescheidenheit zutiefst berührt.
Viele Themen, die ein gutes Buch braucht, werden hier behandelt, einfach toll!!!

Annette Matthaei

 


ein lied vom ende der welt 150x237

 

Goldmann Verlag 24,00€

 

Erica Ferencik: "Ein Lied vom Ende der Welt"

Lieben Sie Kälte, Eis und Schnee? Träumen Sie auch von einer Reise nach Nordgrönland, zu Gletschern und Eisbergen, in die Stille und Weite des Ewigen Eises? Mögen Sie spannende Geschichten mit erträglichem Nervenkitzel? Dann sollten Sie unbedingt dieses Buch lesen!

Valerie, um die vierzig, geschieden, ist Linguistik-Professorin an einer Universität in Boston und Expertin auf dem Gebiet der Altnordischen Sprachen. Zu ihrem Vater, einem renommierten Klimawissenschaftler, der seit einer schweren Lungenkrebserkrankung in einem Pflegeheim dahinsiecht, ohne sein herrisches Auftreten und seinen messerscharfen Verstand eingebüßt zu haben, hat Val seit jeher ein schwieriges Verhältnis. Ihre Psychosen haben sich durch den angeblichen Selbstmord ihres geliebten Zwillingsbruders Andy, der als leidenschaftlicher Umweltschützer und Klimaforscher tot im Arktischen Eis aufgefunden wurde, noch verstärkt. Schon lange lebt Val mit einer lähmenden Angst vor allem Unbekannten; nun kann sie ihre Panikattacken nur noch mit der regelmäßigen Einnahme von Beruhigungstabletten und einem mäßig moderatem Alkoholkonsum in Schach halten.
Eine Email von Andys Mentor Wyatt, der sich nach wie vor zu Forschungszwecken auf einer internationalen Klimaforschungsstation im Nordwesten Grönlands aufhält, reißt Valerie aus ihrem deprimierend, aber beruhigend eintönigen Alltag: Wyatt und seine Kollegin Jeanne haben ein Inuit-Kind gefunden, eingefroren im Eis, und es in der Station aufgetaut. Unerklärlicherweise lebt es! Und es spricht eine völlig unbekannte Sprache...
Es kostet Val mehr als pure Überwindung, sich auf die Reise zu begeben, an einen unwirtlichen, fast menschenleeren Ort, an den Ort, an dem ihr Bruder ums Leben kam. Doch die fremdartigen Laute auf der mitgeschickten Tonaufnahme, die wie verzweifelte Hilferufe klingen, faszinieren und berühren die einsame Frau. Mit einem Militärflugzeug landet sie kurze Zeit später in der Arktis. Dort trifft Val nicht nur auf ein kleines, wildes Mädchen, dessen mysteriöse Sprache sie zwar nur langsam dechiffrieren, dessen Vertrauen sie jedoch recht schnell gewinnen kann. Der narzisstische, attraktive Wyatt drängt auf Ergebnisse und zeigt sich zunehmend skrupelloser. Indessen bringt die ruhige und fürsorgliche Jeanne nach und nach ihr wahres Ich zum Vorschein. Und dem jungen, britischen Polarmeerforscherpärchen Nora und Raj wird sein Engagement letztlich zum Verhängnis.

„Ein Lied vom Ende der Welt“ ist fantastische Unterhaltung vor einer atemberaubenden Kulisse! Wann, bitte, wird dieses Buch verfilmt? Mit zunehmend steiler ansteigender Spannungskurve läuft die Story auf ihren Höhepunkt zu. Gekonnt lässt die Autorin uns Leser*innen Valeries Perspektive einnehmen, macht uns genauso atemlos und lässt unser Herz schneller schlagen.
Der englische Originaltitel „Girl in Ice“ ist dabei eigentlich viel passender. Denn genau darum geht es in diesem (Climate Fiction?-)Roman, vielleicht sogar im doppelten Sinne: Auch Valerie ist eingefroren, gefangen in ihren Ängsten und ihrem Alltag, bis sie durch die Begegnung mit Naaja auftaut…
Wissenschaftliche Fakten gepaart mit fiktiven Elementen, die zum Nachdenken anregen, interessante, scharf gezeichnete Figuren, die alle ihre eigene Geschichte haben, und nicht zuletzt die wunderschönen, fast poetischen Abschnitte über Linguistik, Ausdruck von Sprache und Bedeutung von Wörtern machen Erica Ferenciks ersten Roman in deutscher Übersetzung zu einem echten Lesevergnügen!

Nina Chaberny-Bleckwedel

 


denk an mich wenn du stirbst 150x237

 

Penguin 11,00€

 

Jennifer Hillier: "Denk an mich, wenn Du stirbst"

Die Vorweihnachtszeit fordert uns Jahr für Jahr heraus. Besonders anstrengend gestaltet sich in diesen Wochen das Einkaufen mit Kindern...
So hat auch Marin an diesem folgenschweren Tag mindestens eine Hand zu wenig! Bepackt mit diversen Tüten, telefoniert sie mit ihrem Mann. Das wiederum nutzt der 4jährige Sebastian aus, um Richtung Süßigkeiten abzuwandern...

Ein ganzes Jahr später ist der kleine Junge immer noch verschwunden. Derek und Marin sind am Boden zerstört, und dieser Schicksalsschlag bekommt ihrer Ehe nicht gut. Während die Polizei über keine neuen Erkenntnisse verfügt, wird die von Marin heimlich beauftragte Detektivin eine Bombe platzen lassen: Derek hat seit einiger Zeit eine heimliche Geliebte! Die junge Kenzie mit ihrem lächerlich rosa gefärbtem Haar muss verschwinden! Marins ohnehin mehr als angeschlagene Psyche erträgt diese neue Herausforderung auf gar keinen Fall mehr. Wie gut, dass ihr alter Freund und ehemaliger Partner Sal eine Lösung parat hält. 100.000 Dollar wechseln den Besitzer und Marin muss nur noch zustimmen, dann verschwindet die unerwünschte Person aus Dereks Leben...
Währenddessen lernen wir Kenzie näher kennen, und erfahren, dass es oftmals mehr, als nur eine Wahrheit gibt!

460 Seiten, die man mal eben kurz inhaliert. Allerdings höre ich schon Ihre Bedenken: Wenn es um Kinder geht.....VERTRAUEN Sie mir!

Andrea Westerkamp

 


mimik 150x237

 

Droemer HC 24,00€

 

Sebastian Fitzek: "Mimik"

Hannah Herbst ist Deutschlands erfahrenste Mimikresonanz-Expertin und hat sich u.a. auch bei der Polizei einen Namen gemacht. Kleinste mimische Veränderungen kann sie auswerten, so dass mit ihrer Hilfe und Expertise bereits so einige Gewaltverbrecher überführt werden konnten.
Als Hannah Herbst nun an einem fremden Ort, in einem kargen Hotelzimmer erwacht, kann sie sich nicht orientieren. Nach einer Operation leidet sie an einem partiellen Gedächtnisverlust. Völlig überfordert mit der Situation findet sie sich gefesselt in einem Bett wieder, voller Schmerzen, nahezu bewegungsunfähig. Und sie kann sich nicht einmal ansatzweise daran erinnern, wie (und vor allem auch warum) sie hier gelandet ist.
Ein fremder Mann kommt aus dem Badezimmer auf sie zu und zeigt ihr ein Geständnis-video der Polizei, in dem eine bis dato unbekannte Frau zugibt, ihren Mann Richard und seine Tochter aus erster Ehe bestialisch ermordet zu haben. Hannah Herbst soll die Mimik dieser Frau analysieren, um herauszufinden, ob sie lügt. Eine an und für sich bizarre Situation, jedoch es kommt noch schlimmer: die Frau in dem Video, so wird ihr offenbart, ist sie selbst.
Seit Jahrzehnten hat Hannah Herz ihr eigenes Gesicht nicht mehr gesehen, sämtliche Spiegel in ihrem Zuhause sind abgehängt, die Fenster entspiegelt und verdunkelt. Sobald sie sich nämlich selber in die Augen schaut, kann sie ihrer Gefühle und ihrer Mimik nicht Herr werden. Und nun also die Konfrontation mit dieser entsetzlichen und erschütternden Polizeiaufnahme. Hannah Herz muss sich ihrem schwierigsten Fall stellen, wenn sie das Leben ihres jüngsten Sohnes Paul noch retten will…

Ein Fitzek der allerersten Güte – spannend und klug konstruiert, mit Irrwegen und falschen Fährten und einem Plot, der es in sich hat!

Heike Kasten

 


unter den wolken 150x237

 

Heyne 22,00€

 

Achim Bogdahn: "Unter den Wolken"

Auf diese Idee muss man erstmal kommen…

Andere besteigen die höchsten Berge Europas oder gar den Mount Everest, Achim Bogdahn ist da eine Nummer kleiner unterwegs: Er nimmt sich vor, den jeweils höchsten Berg, naja, sagen wir teilweise mal lieber „Erhebung“ der 16 Bundesländer zu erwandern/besteigen, und zwar mit prominenter Begleitung.
Wir sprechen da vom kleinen Hügel in Bremen, 32,5 m, ein Spaziergang mit Henning Scherf, aber natürlich auch von der Bezwingung des höchsten Bergs Deutschlands, der Zugspitze, zusammen mit Felix Neureuther. Entstanden ist so ein sehr vergnügliches Buch mit vielen Facetten, denn man lernt sowohl etwas über das jeweilige Bundesland, über die Menschen, die dort wohnen, ihre Geschichte und Mentalität, aber natürlich erfährt man ebenso viel über Bogdahns Begleitung, und da hat er wirklich viel zu bieten: Zwei Mitwanderer habe ich eben schon erwähnt, dazu kommen so unterschiedliche Menschen wie der Schauspieler Devid Stresow (MVP), Margot Käßmann (Niedersachsen), Ex-Fussballer Mehmet Scholl (BW) oder aber „Brocken-Benno“, der 84-jährige Rentner, der seit Jahrzehnten täglich den Brocken bezwingt.

Ein Buch für Menschen, die gern wandern, ein Buch für Menschen, die gern mehr über Deutschland und seine Geographie wissen möchten, aber auch für alle, die sich gut unterhalten lassen wollen.
Achim Bogdahn hat als Radiomoderator und Talkmaster vielfältigste Erfahrung im Umgang Prominenten, was seiner Gesprächsführung absolut zugutekommt. Humorvolle Begegnungen auf Augenhöhe, sowas liest man gerne.

Astrid Henning

 


weiter atmen 150x237

 

Kampa 24,00€

 

JJ Bola: "Weiter atmen"

$9.021 halten Michael Kabongo am Leben. Das ist sein gesamtes Erspartes und er hat sich vorgenommen: wenn das Geld alle ist, bringt er sich um.
Bis dahin reist er durch die Weltgeschichte und lernt Menschen kennen, die ihn daran erinnern, was gut am Leben ist. Menschen, die seine Mauern durchbrechen. Doch die Zweifel und Ängste sitzen tief. Auch seine Kollegin Sandra hat er zurückgelassen, mit der er sich so gut versteht. Seinen besten Freund Jalil, der zwischen kulturellen Erwartungen und eigenem Willen gefangen scheint. Die Mutter, die nur im Glauben ihren Frieden findet. Den „Problemschüler“ Duwayne, dem er so gerne geholfen hätte. Auch die traumatischen Ereignisse seiner Flucht aus dem Kongo, das ständige Gefühl zwischen den Welten gefangen zu sein, schleppt er mit sich wie den Reisepass, dieses kleine und doch so wichtige Dokument, das nicht nur für ihn den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten kann.

Trockenhumorig, sympathisch, herzerwärmend, vor allem aber traurig und sehr nachdenklich kommt Michael daher, der sich stets verändert und wir, die wir über ihn lesen, können nicht anders als ihn auf seinen Reisen anzufeuern und gleichzeitig in seine stille Verzweiflung zu versinken.
JJ Bolas Roman über einen Mann, der sich allzu tief in seine Gedanken zurückzieht, bedient sich einer leicht zugänglichen Poesie, die der Dramatik um den immer weiter sinkenden Kontostand – und damit dem näherkommenden Todesurteil – einen angenehmen Ruhepol entgegensetzt.

Mattes Daugardt

 


unschuld 150x237

 

Penguin 22,00€

 

Takis Würger: "Unschuld"

35 Tage. So viel Zeit bleibt Molly zu beweisen, dass ihr Vater kein Mörder ist.

Casper Rosendale musste damals sterben, aber niemand spricht über das, was geschehen ist. Kollektiv scheinen alle schweigen und vergessen zu wollen. Was ist damals wirklich mit dem sensiblen Goldjungen geschehen, dem die gesamte Stadt zu Füßen lag?
Als Hausmädchen schleust Molly sich in das herrschaftliche Anwesen der Rosendales ein, blickt hinter die efeubedeckten, altehrwürdigen Mauern, doch ihre eigenen psychischen Probleme behindern die Ermittlungen.
Auch Joe, Caspers kleiner Bruder, ist eine geplagte Seele und leidet unter der Last des alten Geldes seiner Familie. Gemeinsam begeben sie sich auf einen Wettlauf gegen die Zeit, um die Hinrichtung eines Unschuldigen zu verhindern.

So reduziert und effektiv, wie nur ein Journalist einen Roman schreiben kann: Takis Würger schafft es mit scheinbar gefühlsfernen Worten von ganz großen Emotionen zu erzählen, die tief in die Erlebniswelt der handelnden Personen eintauchen lassen. Rasant in der Struktur und dennoch erzählerisch auf zarte Momente verweilend, ist „Unschuld“ ein Text der Gegensätze. Arm wird reich gegenübergestellt, Schuld der Unschuld, das Gute dem Bösen. Eine Studie über die Tragödien des Lebens und deren Einfluss auf das Miteinander, die gleichzeitig das Rechts- und Gesellschaftssystem der Vereinigten Staaten hinterfragt.

Mattes Daugardt

 


ein sommer in niendorf 150x237

 

Rowohlt 22,00€

 

 Heinz Strunk: "Ein Sommer in Niendorf"

Roth, ein bis dato erfolgreicher Wirtschaftsanwalt, Ehe in Dutt, Verhältnis zur Tochter zerrüttet, alles zu viel, vieles zu wenig, beschließt, ein kurzes Sabbatical an der Küste zu nehmen, um seine eigene Familiengeschichte in einen Roman zu packen und damit, das steht außer Frage, auf allen Kanälen Erfolg zu haben. Er imaginiert sich bereits als "Starautor auf ausverkaufter Lesereise, an dessen Lippen allabendlich Hunderte (Tausende) von Menschen hängen“.
Und so landet er in Niendorf, in den ein wenig heruntergekommenen „Ostsee-Appartments“, ein denkbar kleinbürgerliches Setting, was die Fallhöhe nur noch vergrößert. Die Restaurants tragen Namen wie „Brimborium“, und auf den Speisekarten wird Salat „als etwas Frisches vorweg“ angekündigt. In diesem Milieu ist auch Roths distanzloser Zimmervermieter zuhause, der örtliche Strandkorbverleiher und Spirituosenhändler Breda, der selbst sein allerbester Kunde ist: kaputt, alkoholkrank, mit fast dämonischen Zügen.
Roth nun widmet sich akribisch seinem Buchprojekt, nach zwei Tagen allerdings bedarf er der Abwechslung und wird von Breda warm empfangen. Die beiden Männer verbringen immer mehr Zeit miteinander, begleitet von Cola und Rum, Cola und Whisky, Weinbrand und Cognac, und Roth wird unausweichlich in dieses prekäre Universum des Suffs und der Demütigungen hineingezogen. Und weil die Arbeit fehlt, die all die Jahre verlässlich den Alltag strukturiert hat, bricht rasch das nicht sehr stabile Persönlichkeitsgerüst zusammen, und der Anwalt entpuppt sich als bedürftiger, sich selbst über-schätzender, Schwächling.

Heinz Strunk vermag sämtliche Personen, die seinen Roman bevölkern, scharf und eindrücklich zu skizzieren, er vermag es, Situationen zu zeichnen, die wir alle kennen, die allerdings mit seinem zum Teil humorgetränkten Blick zu lautem Lachen verführen.
Ein Irrtum wäre es allerdings, Heinz Strunks Ostseeroman als oberflächliche Unterhaltungslektüre abzutun – er schafft es, das Existenzielle durch Komik aufzufangen.

Heike Kasten

 


lincoln highway 150x237

 

Hanser  26,00€

 

Amor Towles: "Lincoln Highway"

Nach dem Motto : das Beste zum Schluss, möchte ich Ihnen heute meinen  Herbstliebling vorstellen.

Spätestens seit dem "Gentleman in Moskau" gehöre ich zu Amor Towles Fangemeinde. Sein im Juli erschienenes Roadmovie spielt 1954 in Amerika. Die Stimmung im Land ist verhältnismäßig ausgelassen, ein Krieg liegt gerade hinter vielen Soldaten, der nächste bahnt sich noch nicht an. Die Jugend möchte leben, wild und frei und ohne an morgen zu denken. Die Musik, besonders der Rock ´n Roll, spiegelt das ungezähmte Lebensgefühl einer jugen Generation wider.
Der 18.jährige Emmett bekommt davon anfänglich wenig mit. Sein Vater ist überraschend verstorben, und so wird ihm der Rest seiner Jugendstrafe erlassen, damit er sich um Billy, seinen kleinen Bruder, kümmern kann. Hoch verschuldet bietet die Ranch, auf der die zwei Jungs aufwuchsen, keine Option mehr. Also bittet Billy, die vor Jahren weggelaufene Mutter zu suchen. Acht Postkarten von ihr, sollen ihnen den Weg zu ihr zeigen.... Dieser entzückende Junge, der sich als wandelndes Lexikon erweist, glaubt fest an den Erfolg.
Kurz vor Abfahrt der beiden stehen plötzlich Duchess und Wooly in der Garage. Beide verbüßen ebenfalls Jugendstrafen. Heimlich türmten sie im Kofferraum des Fahrzeugs, das Emmett nach Hause brachte, aus der Anstalt... Ihre Pläne sind ziemlich konkret, unterscheiden sich geographisch jedoch gewaltig von denen der Brüder. New York ist ihr Ziel. Dort haben beide wichtige Dinge zu erledigen. Da man sich nicht einig wird, stehlen sie kurzerhand Emmetts Auto und brausen los. Die Verfolgung per Eisenbahn ist überaus unterhaltsam...

Aus acht unterschiedlichen Perspektiven wird dieser großartige Roman erzählt. Alle vier Jungs sind überaus sympathisch, und vier weitere Figuren vervollständigen diese spannend-amüsant-berührende Geschichte. Leseempfehlung ab 18!

Andrea Westerkamp

 


diese wilde freude in mir 150x237

 

dtv 22,00€

 

Samantha Silva: "Diese wilde Freude in mir"

Der Untertitel dieses wunderbaren Romans lautet: Mary Wollstonecraft: Ikone der Frauenbewegung, furchtlose Denkerin, Mutter.

Ende August 1797 lernen wir die hochschwangere Mary kennen. In wenigen Tagen soll ihr zweites Kind zur Welt kommen, und während sie ungeduldig darauf wartet, rät ihr die ebenfalls wartene Hebamme, dem Ungeborenen die eigene Lebensgeschichte zu erzählen: Schon als 13 Jährige verlangte die kleine Mary damals Bildung für sich und ihre jüngeren Schwestern. Aufgewachsen in sich ständig verschlechternden Lebensumständen, der Vater verlor sein Vermögen beim Spielen, fand sie es ungerecht, dass die Brüder unterrichtet wurden, während sie höchstens zum Sticken und Nähen angehalten wurde.
Der Wunsch nach Gleichberechtigung, die Sehnsucht nach Bildung und die Unerschrockenheit im Umgang mit Autoritäten sorgten dafür, dass Mary Wollstonecraft als junge Frau bereits über die Grenzen Londons hinaus bekannt wurde. Als sie mit Gleichgesinnten nach Paris reiste, geriet sie in Lebensgefahr Immerhin wütete dort die Revolution....

Am Ende des Berichts wird ein kleines Mädchen geboren,  das seinerseits noch viel berühmter werden sollte, als es die Mutter je war!

Andrea Westerkamp

 

 

Unsere Buchempfehlungen im Oktober

 


das ende des kapitalismus 150x237

 

Kiwi 24,00€

 

Ulrike Herrmann: "Das Ende des Kapitalismus"

Der Titel dieses spannenden Buches ist vielleicht etwas unglücklich gewählt, klingt er doch ein bisschen plakativ und ideologisch. Der Inhalt allerdings ist ein höchst aktueller, kompetenter und angenehm differenzierter Bericht über die Lage unserer (Wirtschafts)-Nation.

Seit 50 Jahren wissen wir, dass es „Grenzen des Wachstums“ gibt, der berühmte Bericht des Club of Rome erschien 1972. Wollte man aber gar nicht gerne hören, damals nicht und heute auch nicht. Denn unser Wirtschaftssystem, der Kapitalismus, verträgt sich überhaupt nicht mit Wachstumsgrenzen, im Gegenteil: Dieses System benötigt das Wachstum, weshalb es ziemlich finster mit der Zukunft des Kapitalismus aussieht. Und zwar nicht aus ideologischen Gründen, sondern deshalb, weil in naher Zukunft aus rein ressourcen-bedingten Gründen kein Wachstum mehr möglich sein wird: zu wenig Rohstoffe, zu wenig Energie, für zu viele Menschen.

Insofern kritisiert Herrmann auch den Begriff des „grünen Wachstums“ und beschreibt in ihrem Buch sehr nachdrücklich, weshalb es eher um „grünes Schrumpfen“ gehen muss. Vor allem aber beschreibt sie, wie eine demokratische, pluralistische Gesellschaft diesen Prozess überleben und gestalten kann, ohne daran zugrunde zu gehen und in Extremismus auszuarten.
Ein unglaublich aktuelles und kluges Buch, dem man viele LeserInnen wünscht.

Astrid Henning

 


jahre mit martha 150x237

 

Fischer Verlag 24,00€

 

Martin Kordic: "Jahre mit Martha"

Zeljko Kovacevic wächst als mittleres von drei Kindern in einer Zweizimmerwohnung in Ludwigshafen auf. Aus Bosnien-Herzegowina sind die Eltern nach Deutschland umgesiedelt. Seinen Vater sieht er oft wochenlang nicht. Der schuftet lange Tage auf dem Bau, schläft in Containern, fernab der Familie. Die Mutter hat so viele Putzstellen, dass sie diese allein gar nicht bewältigen kann. So müssen Jeljko und seine kleine Schwester mit anpacken und sie begleiten. Er ist ein wissbegieriges, phantasievolles Kind. Seinen Lesehunger befriedigt er, indem er alte Zeitschriften aus den Altpapiercontainern fischt.

Eine Stelle bekleidet die Mutter in dem hochherrschaftlichen Haus der Professorin Martha Gruber. Diese Frau ist wie eine Göttin für den kleinen Jeljko. Er lässt sie nicht aus den Augen und bewundert ihre Schönheit, ihre Bildung und die elegante Ausstrahlung. In den späten 90ern, der Junge ist fünfzehn und nennt sich jetzt nur noch Jimmy, um dem herzegowinischen Namen mit den Zischlauten zu entkommen und nicht sofort als Jugo entlarvt zu werden, kommt es zwischen ihm und der mehr als doppelt so alten Frau zu einem ersten Kuss, aus dem sich langsam eine echte Affäre entwickelt.
Der intelligente Jimmy möchte lernen, es zu etwas bringen, nur nicht in die Fußstapfen seines Vaters steigen. Martha protegiert den Heranwachsenden, bringt ihm Kultur und Lebensstil nahe und tatsächlich schließt Jimmy ein Universitätsstudium ab. Doch das Leben erfährt eine Planänderung: „Ich war ein junger Mann mit Universitätsabschluss, der illegal Autos in das Land einführte, aus dem seine Eltern vor Jahrzehnten fortgegangen waren, weil sie sich und ihrer Familie eine Welt ermöglichen wollten, in der für ein gutes Leben keiner etwas tun muss, was nicht rechtens ist.“

Was wie eine Liebesgeschichte á la Mrs. Robinson beginnt, entwickelt sich im Laufe des Buches zu der Geschichte eines Mannes, der in Deutschland geboren und aufgewachsen, leidvoll seine Identität suchen muss und zwischen Baum und Borke hängt. Geprägt durch deutsche Kultur, Bildungssystem und Menschen, fließt doch herzegowinisches Blut durch seine Adern und letztlich ist die Bindung zur Familie das dicke, tragende Seil.
Einfühlsam und wunderschön geschrieben, macht dieses Buch deutlich, wie schwer es ist Fuß zu fassen in einem Land, das Menschen aus anderen Kulturkreisen noch immer mit derartig großen Vorurteilen gegenüber steht.

Annette Matthaei

 


luegen ueber meine mutter 150x237

 

Kiwi 24,00€

 

Daniela Dröscher: "Lügen über meine Mutter"

„Lügen über meine Mutter“ entging dem Deutschen Buchpreis dieses Jahr nur knapp, bis auf die Shortlist hatte er es geschafft.
Was den Text für mich ausmacht, ist dass er trotz heftiger Thematik doch so wunderbar lesbar bleibt. Ein zärtliches Denkmal einer Kindheit, die nicht einfach war, aber doch vor allem von der liebevollen Mutter geprägt ist.

Daniela Kröscher lässt ihre Kindheit der 1980er Jahre wieder aufleben: die kleine Ela lebt mit ihren Eltern und Großeltern in einem kleinen Dorf, wo das Ansehen nicht trennbar ist vom Familienglück. Ela findet ihr Leben ziemlich perfekt, aber bald sieht auch sie die Risse in der Fassade. Ihre Mutter, die sie so wunderschön findet, ist dem Vater zu fett. Die Eltern verbergen ihre Streitthemen erst vor der Tochter, aber der wird bald klar – ihre erst immer stark wirkende Mutter, diese gütige Frau, die ihr zeigt wie besonders sie, Ela, ist, wird von dem Vater systematisch klein gehalten. Ihr Gewicht spielt dazu immer wieder eine große Rolle, ob nun Zuhause, im Urlaub oder gar während der Schwangerschaft. Als Diät über Diät keine Abhilfe schaffen, kommen wir und Ela langsam hinter die Strategien, die eine Frau verfolgt, die sich niemals wird unterkriegen lassen, schon gar nicht von einem Mann.

In Zwischenkapiteln springen wir in die Gegenwart und direkt in den Schreibprozess einer (fiktiven?) Daniela Dröscher, die über so heftige Situationen aus dem eigenen Leben schreibt, aber dennoch unglaublich behutsam und liebevoll mit ihrer Mutter und ihrer Kindheit umgeht.
Diese Güte, die sie ihren Charakteren  trotz aller Heftigkeit zukommen lässt, ist beim Lesen ganz besonders und ein Testament an das Talent der Autorin. Die Mutter, die sich immer durchkämpfen musste, um ihre Größe zu wahren, ist nun überlebensgroß in diesem wunderbaren Text verewigt.

Mattes Daugardt

 


chamaeleon 150x237

 

Eichborn Verlag 23,00€

 

Annabel Wahba: "Chamäleon"

Dieser autobiografische Roman wirkt gewaltig, insofern passt das Bergmassiv auf dem Cover auch in dieser Hinsicht.

Annabel sitzt am Bett ihres todkranken Bruders. Der ägyptische Totengott Anubis blickt von einem großen Bild an der Wand gegenüber auf André herab... Das klingt düster, und ich frage mich, ob ich bereit bin, in diesen nicht unbedingt hellen Zeiten ein solches Buch zu lesen. Zwei Seiten später hat mich die Autorin bereits dermaßen mit ihrem Erzählstil in den Bann gezogen, dass ich weiter lesen MUSS.
Wir reisen mit ihr von München in die Vergangenheit nach Ägypten. Im Nildelta wuchs Annabels und Andrés Vater auf. Weiter geht es in nach New York. Dort arbeitete die Mutter in den Fünfzigerjahren und Annabel erinnert den Bruder an die Geschichte, wie sich die Eltern damals kennen lernten.
Zu Beginn schreibt die Autorin: "Viel Zeit bleibt uns nicht mehr. Wenn ich nun an deinem Bett sitze und dir die Geschichte unserer Familie erzähle, erzähle ich nicht um mein Leben, sondern gegen deinen Tod. Bald wirst du nicht mehr da sein. Ich kann dich nicht festhalten, aber ich will festhalten, was wir beide erlebt haben. Auch du sollst weiterleben, und mit dir das ägyptisch-deutsche Chamäleon."

So bunt wie das Cover, so vielfarbig und unterhaltsam ist die Geschichte dieser beiden Geschwister!

Andrea Westerkamp

 


the dark 150x237

 

Droemer Knaur 15,99€

 

Emma Haughton: "The Dark"

Das hatte sich zu Hause auf dem Sofa in Bristol doch nach einem tollen Abenteuer angehört: 12 Monate als Ärztin auf der Forschungsstation in der Antarktis zu arbeiten. Eine völlig neue Erfahrung für Kate und außerdem eine willkommene Abwechslung nach der schlimmen Zeit, die hinter ihr liegt. Doch als Kate auf die Station eingeflogen wird, ist sie sich nicht mehr ganz so sicher. Dieses absolute Weiß, diese absolute Stille, dazu die Gewissheit, dass es in Kürze hier kein Entkommen mehr geben kann, weil selbst für Flugzeuge die Außentemperatur zu feindlich wird und eine Landung so gut wie unmöglich ist.
Das mulmige Gefühl verstärkt sich, als der Empfang durch die Kollegen und Kolleginnen vor Ort eher frostig und unterkühlt ausfällt, Antarktis auch im zwischenmenschlichen Bereich. Einzig Drew, der Amerikaner, der sie in Empfang genommen hat, verströmt ein wenig menschliche Wärme und Freundlichkeit. Kates Vorgänger übrigens kam bei einem Unfall auf der Station ums Leben, und allmählich werden Kates Zweifel an diesem „Unfall“ immer stärker.
Schließlich – wir sind in einem Thriller – gibt es einen weiteren Toten: Ein Mitarbeiter wird draußen erfroren aufgefunden, mit viel zu dünner Kleidung, die Stationsleiterin beschließt: Suizid.

Es wird nicht bei diesen beiden Opfern bleiben, in diesem Thriller geht es ganz schön zur Sache und Kate gerät immer stärker in Bedrängnis. Die einzigartige Landschaft der Antarktis mit monatelanger Dunkelheit und feindlicher Kälte, ist natürlich ein absoluter Pluspunkt in diesem Spannungsroman.
Da kommen einem die gesetzlich verordneten 19 Grad doch fast wie Saunatemperaturen vor und man kuschelt sich umso lieber in wärmende Decken oder Pullis.

Astrid Henning

 


die pestinsel 150x237

 

Inselverlag 16,95€

 

Marie Hermanson: "Die Pestinsel"

An einem späten Abend im Jahr 1925 wird der Göteborger Kommissar Nils Gunnarson auf dem Heimweg von einem verwahrlosten Knirps regelrecht genötigt, ihm zu folgen und mit ihm in ein Boot zu steigen. Der Kleine spricht nicht, legt sich aber kräftig in die Riemen. Das hat seinen Grund. Weit draußen im Fluss Göta, fast an der Einmündung zum Kattegat, ist die Leiche eines Mannes angeschwemmt worden.
Nils fällt sogleich die vornehme Kleidung des Toten auf, aber etwas anderes lässt ihn stutzen. Die Todesursache des Unbekannten ist nicht etwa Ertrinken, sondern Ersticken. Der Ermordete weist äußerst ungewöhnliche Strangulationsabdrücke am Hals auf. Bei Nils klingelt etwas. Hat er nicht in einem Kriminalroman genau von dieser Todesart gelesen? Recherchen ergeben, dass der höchst erfolgreiche Autor einer Krimireihe ein absolut Unbekannter ist, ein untergetauchtes Phantom. Nils lässt nicht locker und findet sich alsbald auf der  Göteborg weit vorgelagerten, seeumtosten Insel Bronsholmen wieder, der„Pestinsel“! Hier wurden früher Seeleute in Quarantäne genommen und Krankheiten wie Cholera und Pest auskuriert. Das ist lange her und die Räder des vereinsamten Krankenhauses drehen sich heute nur noch um einen einzigen Insassen: den gefährlichen Massenmörder Arnold Hoffmann. Nils merkt sofort, dass hier auf der Insel etwas so gar nicht stimmt, doch mangelt es ihm an Beweisen, seine Untersuchungen fortzusetzen.
Da springt ihm eine verflossenen Liebe zur Seite. Die couragierte Reporterin Ellen Grönblad lässt sich inkognito als neues Hausmädchen auf der Insel einstellen, nicht im Entferntesten ahnend, was ihr bevorsteht…

Dieser Historienkrimi ist spannend, skandinavisch düster und kommt fast ohne Blut aus, genau das richtige Buch für lange Herbstabende.

Annette Matthaei

 


die lodge 150x237

 

Nagel & Kimche 24,00€

 

Peter Heller: "Die Lodge"

Wer den „Gesang der Flusskrebse“ vor allem wegen des Krimianteils gelesen hat, könnte an Peter Hellers „Die Lodge“ großen Gefallen finden, ein packender Thriller trifft hier auf wunderschöne Naturbeschreibungen in der bergigen Landschaft Colorados.

Die Kingfisher Lodge in Colorado dient der Entspannung und dem Fliegenfischen. Hier können die Superreichen abschalten und sind von der modernen Welt, von ihrer Technologie und ihren neuen Virusvarianten abgeschirmt – in Sicherheit.
Jack soll hier den Gästen beim Angeln behilflich sein und ihnen die besten Spots zeigen, die Ausrüstung bereitstellen und für die Einhaltung wichtiger Regeln sorgen, wie niemals in der Nähe des benachbarten Grundstücks angeln zu gehen: die Einheimischen scheinen waffenvernarrt und sehen Hausfriedensbruch gar nicht gerne. Sein erster Gast ist Allison K., eine berühmte Sängerin. Die beiden sind fasziniert voneinander; Jack ist geplagt von den frühen Verlusten in seinem Leben, Allison geprägt von dem Preis, den der Ruhm mit sich bringt. Verbinden tut die beiden ihre Liebe für die Natur; das Angelparadies scheint idyllisch.
Nur allzu bald schleichen sich Zweifel ein: aus Sicherheitsgründen ist das Ressort eingezäunt, aber soll der Stacheldrahtzaun wirklich nur Gefahren abwehren und warum braucht man auch auf der Innenseite einen Code, um das Tor in die Außenwelt zu öffnen? Als Allison und Jack nachts Schreie vernehmen, beschließen sie Nachforschungen anzustellen…

Dieser Thriller besticht durch seine literarische Qualität, bei der nicht nur Angler*innen auf ihre Kosten kommen. In der Ruhe der Natur verarbeitet Jack seine Trauer und so treiben wir in der Erzählung mit seinen Gedanken mit, fast wie der Fluss in dem sie fischen, der langsam dahinplätschert und ab und an durch die kräftigen Flossen seiner Bewohner aufgewirbelt wird.
Besonders für Krimi Fans geeignet, die auch gerne in die literarische Richtung gehen oder für belletristische Leser*innen, die mal einen Spannungsroman probieren wollen.

Mattes Daugardt

 


der sandkasten 150x237

 

Luchterhand 22,00€

 

Christoph Peters: "Der Sandkasten"

Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar am Niederrhein geboren und studierte nach dem Besuch des Bischöflichen Internatsgymnasiums "Collegium Augustinianum Gaesdonck" Malerei an der Staatlichen Akademie der bildenden Künste in Karlsruhe, 1993 als Meisterschüler. Von 1995 bis 1999 war Christoph Peters am Flughafen Frankfurt/Main als Fluggastkontrolleur beschäftigt. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Berlin. 1999 erschien sein erster Roman "Stadt Land Fluß".
Zitat aus dem "PERLENTAUCHER": Kurz und scharfzüngig, präzise beobachtet, politisch "korrekt", teilweise herrliche Situationskomik, so könnte man den neuen Roman von Christoph Peters umschreiben.

Kurt Siebenstädter ist Radiomoderator in Berlin. Seine Stimme kennt man seit Jahren, seine frühmorgendlichen Sendungen erreichen nicht selten Spitzenquoten. Wer von ihm interviewt wird, der ist wichtig! Zimperlich darf man da nicht sein als Gesprächspartner, Siebenstädter nimmt kein Blatt vor den Mund und provoziert gerne. Jahrelang schwamm er ganz oben auf der Erfolgswelle. Doch jetzt scheint plötzlich Sand im Getriebe zu sein. Da scheint etwas zu kippen, aus dem Gleichgewicht zu geraten und Siebenstädter steht mitten im Auge des Orkans. Während sich Frau Siebenstädter darüber auslässt, dass die 15 jährige Tochter einige Monate in Amerika zur Schule gehen möchte, plagen ihren Mann ganz andere Sorgen. Die Liberalen haben ihm wenige Stunden zuvor ein Angebot unterbreitet, das anzunehmen sowohl berufliche, als auch private Konsequenzen hätte... Soll er alles auf eine Karte setzen?

Großartig geschrieben, gefüllt mit vielen "Bekannten" aus der aktuellen Politszene, lässt uns der Autor den 09.11.2020 noch einmal erleben.

Andrea Westerkamp

 

 

Unsere Buchempfehlungen im September


sisi 150x237

 

Galiani 26,00€

 

Karen Duve: "Sisi"

Vielleicht eine kleine „Warnung“ vorweg: Wem sein zuckersüßes Romy-Schneider-Sissi-Bild heilig ist, der wird mit Karen Duves „Sisi“ seine Schwierigkeiten haben – für alle anderen ist es eine wunderbare Ergänzung oder ein Kontrapunkt, der glänzend unterhält.

Karen Duve hat drei Jahre ausführlich zur österreichischen Kaiserin recherchiert und schildert in ihrem Roman zwei Jahre im Leben von Sisi, im Alter von 36 – 38 Jahren.
Sisi begegnet uns hier als eine Frau mit äußerst vielen Facetten, und der Roman beginnt gleich mit einer ihrer stärksten Leidenschaften: Die österreichische Kaiserin ist zur Fuchsjagd in England und stöhnt bei der Aussicht, wegen eines Besuchs bei der englischen Königin eine dieser Jagden verpassen zu müssen. Weshalb sie noch nicht einmal zum Essen bleibt: große Verstimmung am englischen Hof. Sisi war eine der besten Jagdreiterinnen ihrer Zeit und sprang im Damensattel in atemberaubenden Tempo über Hecken, Gatter und andere Hindernisse, je schneller und gefährlicher es zuging, desto besser. Bei den Jagden in England lässt sie sich am liebsten von Captain Middleton begleiten, der sie wenig später auch auf ihrem Schloss in Ungarn besuchen wird…
Und ja: Sisi war sicherlich sehr charmant und liebreizend, konnte aber ein paar Sekunden später eiskalt, intrigant und höchst manipulativ sein. Offensichtlich nahm sie in der Beurteilung anderer kein Blatt vor den Mund, durchaus zu unserem Vergnügen, so wird z.B. die adelige Helene Baltazzi als „orientalische Salonflirteuse“ bezeichnet.
Geradezu obsessiv hat sich die Kaiserin mit ihrem Aussehen beschäftigt, ihre Haarpracht, ihre schlanke Figur, ihre jugendliche Erscheinung waren ihr nicht nur Vergnügen, sondern geradezu Pflicht – was das Altern nicht gerade erleichterte.

Wer eintauchen möchte ins 18. Jahrhundert, in schönen Roben schwelgen mag, nichts gegen kleine Bosheiten in adeligen Kreisen hat, der wird mit größter Freude „Sisi“ lesen.

Astrid Henning

 


treue 150x237

 

Hanser Berlin 27,00€

 

Hernan Diaz: "Treue"

Was sich erst liest, wie ein Erfahrungsbericht durch die Finanzgeschichte der Vereinigten Staaten, ist bald Sinn- und Wahrheitssuche. Ein Roman der goldenen 1920er Jahre New Yorks, in dem vier Perspektiven auf dieselbe Geschichte die wirtschaftspolitischen Ereignisse des frühen 20. Jahrhunderts fiktiv erklären. Im Vordergrund steht dabei allerdings eine mitreißende Erzählung über eine Ehe und über die beeindruckenden Frauen hinter Männern, die beeindruckend sein wollen.

Wir begleiten Benjamin Rasks, der privilegiert aufwächst und aus angeborenem Reichtum ein unermessliches Vermögen wachsen lässt: Rasks lebt in einer Welt des Geldes – in der die Realität formbar gemacht wird, wenn der Geldfluss nur liquide genug ist. Eine Welt, in der nicht Dinge, sondern Gefühle, ganze Identitäten und die Vergangenheit mit grünen Dollarscheinen aufgewogen werden. Dabei wird uns erfahrbar gemacht, wie das Leben derjenigen aussah, die den Finanzsektor durch die liberale „laissez-faire“ Devise, den Börsencrash von 1929 und Roosevelt‘s New Deal lenkten. Rask ist allerdings kein verträumter Antiheld à la Gatsby, der nach seiner verlorenen Liebe schmachtet: Einfluss durch Reichtum zu erlangen ist nicht das Mittel, sondern das Ziel.
An seiner Seite steht ihm die mysteriöse Helen, geistreich und philanthropisch, eine Liebhaberin klassischer Musik, doch bald schwirren Gerüchte um das mächtige Paar und Helen leidet an einer Krankheit, die auch Geld nicht zu heilen vermag… und doch ist sicher nicht alles, wie es scheint.

Ein vielschichtiger Roman über den Einfluss des Geldes, aber auch über den Wert von Geschichten, der nicht monetär aufzuwiegen ist. Überraschende Wendungen und vier einzigartige Erzählstimmen machen diesen Roman von Hernan Diaz zu einem großartigen Werk moderner Erzählkunst, das nicht an emanzipatorischen Befreiungsschlägen spart. Am Ende fragen wir uns nur, wem diejenigen, die alles haben, Treue schulden. Sich selbst? Dem bewährten Gelde? Oder doch der Liebe, was auch immer sie bedeuten mag?

Mattes Daugardt

 


schnee 150x237

 

Btb 17,00€

 

Yrsa Sigurdardóttir: "Schnee"

Die Thrillerqueen aus Island meldet sich mit einem neuen abgeschlossenen Nervenkitzel pünktlich zur kälteren Jahreszeit zu Wort und ich kann Ihnen sagen, ziehen Sie sich warm an.

An der Nordküste Islands im tiefen Winter, wo es nicht hell wird, dafür bitterkalte Schneestürme über die raue Natur hinwegfegen, tauchen wir ein in drei Erzählstränge, einer spannender als der andere.
Zwei Yupeepaare aus Reykjavik wollen ihrem luxuriösen Alltagseinerlei entfliehen und kommen auf einer Party auf die Schnapsidee einen jungen Geologen für einen Dreitagestrip in die Wildnis zu begleiten, um an einer Messstation wichtige Forschungsergebnisse abzulesen. Haukur ist nicht begeistert die verwöhnten Städter auf seine gefährliche Mission mitzunehmen, lässt sich aber trotzdem breitschlagen.
Hjörvar hat einen Job in einer Radarstation an einem der nördlichen Zipfel angenommen. Er ist ein Eigenbrötler und das einsame Leben in unwirtlicher Natur macht ihm eigentlich nichts aus, ist er doch genau auf diesem Fleckchen Erde aufgewachsen. Als Jugendlicher brach er alle Kontakte zu seinem Elternhaus ab und ging in die Hauptstadt. Nun sind Vater und Mutter verstorben, das Elternhaus verkauft und tatsächlich findet er sich, einzig in Begleitung eines zugelaufenen Katers, auf dieser verlassenen Station wieder. Nur ein Job für den Übergang. Lange kann es hier keiner aushalten. Schon sein Vorgänger drehte durch und nahm sich mit einem Sprung über die Klippe ins tosende Meer das Leben.
Jóhanna ist Mitglied des Rettungssuchtrupps eines kleinen Ortes hoch im Norden, in dem ihr Mann als Polizist arbeitet. Sie war ehemals eine hoffnungsvolle Sportlerin, wurde aber beim Joggen angefahren, verunglückte schwer und leidet seitdem bei Belastung unter starken Schmerzen. Doch sie ist der Typ, der die Zähne zusammenbeißt und sich nichts anmerken lässt. Im Gegenteil, sie freut sich, wenn sie dem Alltag im Büro einer Fischverarbeitenden Firma entkommen und sich körperlich für eine sinnvolle Aufgabe verausgaben kann.
Eine Wandertruppe junger Reykjaviker wird vermisst und Jóhanna und ihre Kollegen strömen in ein abgelegenes Naturschutzgebiet aus, um hoffentlich rechtzeitig Menschenleben zu retten „Es gab keine menschlichen Spuren. Überall blendend weißer Schnee. Nichts Lebendiges war zu sehen, kein Wunder, denn an diesem öden Ort konnten im Winter nur wenige Tiere überleben.“ Und nun das Ganze Szenario des Nachts. Kein Stern am Himmel, brausender Sturm, Kälte, die den Körper zerstört und dann immer wieder dieses unheimliche Gemurmel…mach auf….mach auf…

Meine Nerven haben bei der Lektüre dieses Buches gelitten, das versichere ich Ihnen und ich bin froh, dass ich Island vor Jahren im Sommer kennen und lieben lernen durfte. Keine zehn Pferde würden mich freiwillig an den Ort dieses Grauens bringen. Faszinierend ist, wie Sigurdardóttir die drei Erzählstränge verknüpft und vor allem wie sie Spannung bis zur Ohnmacht aufbauen kann. Ein wirklich doller Thriller mit einer gehörigen Portion isländischer Spiritualität.

Annette Matthaei

 


haie in zeiten von erloesern 150x237

 

Luchterhand 22,00€

 

Kawai Strong Washburn: "Haie in Zeiten von Erlösern"

Ein tieftragisches Buch, in dem Hoffnung und Güte standhalten und verzauberte Worte uns in die tiefen Gewässer Hawaiis stoßen, um uns verändert wieder auftauchen zu lassen.

Das Paradies hat seinen Preis und den können auf Hawaii nur wenige der Einheimischen zahlen. Wer auf den Inseln nicht mindestens ein Anwalts- oder Ärztinnengehalt Heim bringt, führt ein hartes Leben. Malia und Augie sind über beide Ohren ineinander verliebt, auch nach all den Jahren, aber sie machen sich Sorgen, ihren drei Kindern nicht mehr ermöglichen zu können. Eines Tages kratzen sie etwas Geld zusammen und nehmen Dean, Nainoa „Noa“ und Kaui mit auf eine dieser überteuerten touristischen Bootstouren: Noa ist gerade mal sieben Jahre alt, als er aus dem beschleunigenden Boot fällt. Zu schnell ist er nur noch ein kleiner Punkt in der Nähe des Horizonts. Augie hält die beiden anderen Kinder in Schach, während Malia ins Wasser springt. Verzweifelt schwimmt sie ihrem Sohn entgegen, denn Haie beginnen sich um ihn zu kreisen und reißen das gefährliche Revolvergebiss weit auf… um den kleinen Noa, wie treue Labradore, sicher zurück zu seiner Mutter zu bringen.
Auf den Inseln verbreiten sich die Neuigkeiten schnell und Noa ist bald in aller Munde – die Macht der Götter scheint zurückgekehrt. Dean und Kaui geraten dabei immer mehr in den Hintergrund und versuchen sich im Schatten ihres Bruders selbst zu verwirklichen, aber auch Noa hat immer mehr mit seiner Last zu kämpfen…

In diesem besonderen Debutroman von Kawai Strong Washburn, begleiten wir eine Familie in ihrem Streben, ihr einheimisches Leben mit den externen Anforderungen unserer Zeit in Einklang zu bringen. In wechselnden Perspektiven kämpfen sie über drei Jahrzehnte hinweg mit dem kulturellen Identitätsverlust Hawaiis, der vor allem durch regen Tourismus und stetige Zuwanderung begünstigt wird. Behutsam beleuchtet Washburn dabei den Zerfall des amerikanischen Traums und verbindet ihn mit den letzten Überbleibseln der mythischen Vergangenheit von Hawaii. Definitiv ein Jahreshighlight und ein originelles, sprachgewaltiges Debut.

Mattes Daugardt

 


das leben vor uns 150x237

 

C.H.Beck Verlag 25,00€

 

Kristina Gorcheva-Newberry: "Das Leben vor uns"

„Das Leben vor uns“, das klingt wie eine Verheißung, wie die berechtigte Hoffnung auf eine bessere Zukunft, und das ist es auch, was die besten Freundinnen Anja und Milka unbedingt erreichen wollen.
Vorerst müssen sie sich aber noch mit dem tristen Grau am Moskauer Stadtrand abplagen, wo sie in den 80ern aufwachsen. 1982 ist Breschnew gerade gestorben, Gorbatschow mit Glasnost und Perestrojka aber noch weit entfernt. Dennoch bekommen Milka und Anja genug vom so völlig anderen Leben im Westen mit, um zu wissen, dass ihr Leben dringend anders werden muss als das ihrer Eltern: Ständig ist das Geld knapp, nicht nur für Lebensmittel muss man stundenlang anstehen und dann das nehmen was halt da ist, in der Schule zählen Linientreue und Disziplin.
Freiräume nehmen die beiden sich im Rumstromern nach der Schule, in den langen Sommerferien, die die Freundinnen gemeinsam mit Anjas Eltern in deren Datscha verbringen dürfen, und beim Träumen vom wilden Leben, während man zum 1000. Mal die leiernde Kassette mit „We are the champions“ hört. Und weil man in seiner Freizeit nicht viel anderes anfangen kann, kommen bald die Jungs ins Spiel, hier vor allem Lopatin und Trifonow – der eine gerissen und lebenshungrig, der andere Tschechow-begeistert und sensibel.

Man spürt, wie sich die gesamte Jugend zu dieser Zeit in Wartestellung befindet, jederzeit bereit zum Aufbruch, gehindert durch die Umstände und deswegen zu Grenzüberschreitungen immer bereit. Als Milka jedoch ungewollt schwanger wird, ist es vorbei mit der Leichtigkeit, die eh eine Illusion war und alles ändert sich.

Ein eindrucksvolles Debut, in dem die Autorin für ihre Figuren jederzeit den passenden Tonfall findet, mal roh und direkt, dann wieder sehr zart und verletzlich. Man spürt deutlich, dass in dieses Buch eigene Erfahrungen eingeflossen sind.

Astrid Henning

 


die definition von glueck 150x237

 

Julia Eisele 24,00€

 

Catherine Cusset: "Die Definition von Glück"

Das Leben von zwei Frauen, die scheinbar nichts miteinander zu schaffen haben, bringt uns auf wunderbar erzählte Weise, beginnend in den sechziger Jahren, die französische Autorin Cusset nahe.

Clarisse ist ein Freigeist, eine Lebenskünstlerin, obwohl ihr das Leben nicht immer freundlich mitgespielt hat. Trotz einer traumatischen Erfahrung als junges Mädchen, bereist sie ferne Länder und hängt ihr Herz bedenkenlos an Männer, die ihr nicht gut tun. Mit einem unerschütterlichen Lebenswillen zieht sie letztendlich drei Kinder alleine groß. Paris ist ihr Pflaster, eine kleine Dachgeschosswohnung ihre Oase. Mit dem Alter hadert sie, obwohl sie sich ihre Atrraktivität bewahrt. Dennoch, ein Leben ohne Begehren und mit einem Körper, der für die Liebe zu alt ist, ist für sie nicht vorstellbar.
Ganz anders die pragmatische Ève. Auch sie wuchs in Frankreich auf, ging aber der Liebe wegen mit ihrem Mann in die USA, lebt nun in New York mit zwei recht anstrengenden Töchtern. Obwohl sie ein Studium absolviert hat, merkt sie schon bald, dass ihr das geistig anspruchsvolle Arbeiten nicht gelingt in der Rolle der Mutter, Haus- und Ehefrau. Sie baut ein erfolgreiches Cateringunternehmen auf, das sich schnell einen guten Namen erarbeitet.
Was die beiden so verschiedenen Frauen verbindet, das erfahren wir im letzten Teil des Buches, wo sich für beide überraschend, ein enges Band zwischen ihnen entspinnt. Bis das der Tod sie scheidet...

Mit französischer Leichtigkeit und einem intimen Blick in das Seelenleben der Protagonistinnen erzählt uns Frau Cusset über Frausein mit den entsprechenden Bedürfnissen, Ängsten, der Mutterrolle mit all ihren Facetten und dem Älterwerden und dem Spiegel der Männerwelt. Ich kam beim Lesen in einen regelrechten Sog und kann mir vorstellen, dass es vielen Frauen ganz genauso gehen wird bei der Lektüre dieses eindrucksvollen Romanes.

Annette Matthaei

 


die tote im sturm 150x237

 

Limes Verlag 16,00€

 

Kristina Ohlsson: "Die Tote im Sturm"

August Strindberg, nein, nicht verwandt mit DEM Strindberg, hat die Nase voll von Stockholm. Während der vergangenen Jahre hat er viel Geld verdient und wenig gelebt. Das soll nun anders werden. Spontan erwirbt er ein ehemaliges Bestattungsunternehmen im beschaulichen Hovenäset, und möchte darin einen Seconhand-Laden eröffnen. Noch muss allerdings kurzfristig einiges renoviert werden. Angeblich hat das Unwetter der vergangenen Tage im Haus feuchte Stellen hinterlassen, so der Makler... Vorübergehend zieht August in ein gemütliches Ferienhaus.

Während August noch seine diversen Umzugskartons von rechts nach links schiebt, wird es im Dorf unruhig: die Lehrerin Agnes ist spurlos verschwunden! Eine fieberhafte Suche beginnt, an der sich auch der neue Bewohner beteiligt. Acht Tage nach ihrem Verschwinden gibt es noch immer keine heiße Spur.Die sympathische Kommissarin Maria bezweifelt, dass man Agnes lebend finden wird. Und in dieser angespannten Stimmung erfährt August, dass viele Jahren zuvor ein junges Mädchen in seinem idyllischen Ferienhaus zum letzten Mal lebend gesehen wurde...

August & Maria ergeben ein ungewöhnliches, aber dadurch umso passenderes Team. Kristina Ohlsson unterhält auf spannende Art und Weise, ohne blutgetränkte Horrorszenarien zu ersinnen. Ein für mich absolut gelungener Auftakt zu einer neuen Krimireihe!

Andrea Westerkamp

 


snowflake 150x237

 

mareverlag 24,00€

 

Louise Nealon: "Snowflake"

"Heute ist mein erster Tag an der Uni, und ich habe den Zug verpasst. Billy war sich ganz sicher, dass ich ihn noch kriege. Er hat zu lange mit dem Melken gebraucht und konnte mich erst danach zum Bahnhof fahren. Also komme ich jetzt zu spät. Wozu, weiß ich allerdings nicht so genau. Ich brauche Freunde, aber bis zum Mittag sind bestimmt schon alle guten weg. Es ist Orientierungswoche, und ich habe Collegefilme gesehen – wenn ich an der Uni meine zukünftig beste Freundin oder meine große Liebe treffe, dann am ersten Tag."

Debbie ist ein echtes Mädchen vom Land. Aufgewachsen auf dem familieneigenen Milchviehbetrieb in der Region Kildare, wird sie künftig täglich nach Dublin pendeln, um dort im Trinity College zu studieren. Zwar ist die Welt in Kildare auch nicht unbedingt in Ordnung, eine depressive Mutter, die oftmals tagelang das Bett nicht verlässt, und ein unbekannter Erzeuger nahmen Debbies Kindheit die Unbeschwertheit, aber Onkel Billie sorgte bislang immer für eine gewisse Verlässlichkeit.
In der quirligen Xanther findet sie schon bald eine Freundin, aber das Leben auf der Farm steuert einer Katastrophe entgegen, die Debbies Abnabelung stark beeinflussen wird...

Mit Leichtigkeit und großem Einfühlungsvermögen schreibt diese junge irische Autorin in ihrem Debüt. Ihr Stil und die Geschichte erinnern an "Hardland" von Benedict Wells und/oder an Sally Rooney. Unbedingt empfehlenswert auch für junge Leser:innen!

Andrea Westerkamp

 

 

Unsere Buchempfehlungen im August

 


die ewigkeit ist ein guter ort 150x237

 

Kindler 22,00€

 

Tamar Noort: "Die Ewigkeit ist ein guter Ort"

Der Katalog ärztlicher Diagnosen muss um eine Krankheit erweitert werden: „Gottdemenz“ – was das bedeutet und wie man sie erkennt, dazu gleich mehr.

Elke ist Theologin, angehende Pastorin, momentan arbeitet sie in einem Hospiz und begleitet dort Sterbende und ihre Angehörigen. Eines Tages muss sie feststellen, dass ihr das ganz normale Vokabular der seelsorgerischen Tätigkeit abhanden gekommen ist, eindeutig ein Fall von Gottdemenz. Beim „Vater unser“ kommt sie über die erste Zeile nicht hinaus, das feste Repertoire an Kirchenliedern hat sich verflüchtigt und überhaupt klappt es mit dem Dialog mit Gott so gar nicht mehr. Dass Elke aus einem Pastorenhaushalt kommt und ihr Vater sie schon in seiner Gemeinde als Nachfolgerin sieht, macht die Lage nicht gerade entspannter. Noch dazu setzt sie die Beziehung zu Jan in den Sand, obwohl der sich gerade alle Mühe gibt, besonders empathisch und sensibel zu sein.
Doch dann wird Elke dringend gebraucht: Ihr Vater hatte einen Herzinfarkt und muss in die Reha, da liegt nahe, wer ihn vertreten soll… Aber eine Pastorin mit Gottdemenz? Wie gut, dass der Vater seine ganzen Predigten auf dem PC gespeichert hat, nach 10 Jahren kann man da schon mal wieder alten Stoff bringen, merkt doch keiner. Oder??
So ganz nebenbei erfahren wir dann auch, weshalb Elke eigentlich so neben der Spur ist, dem kann sie nämlich in ihrem Elternhaus nicht ausweichen: Ihr Bruder Chris starb mit 17 Jahren bei einem Badeunfall, nach einer Party war man noch an den See zum Paddeln gegangen, etwas alkoholisiert, keine gute Idee.

In Tama Noorts Debütroman geht es um die ganz großen Themen, und das mit leichter Hand und viel Humor: Wer will ich sein, was gibt mir Halt, wie überwindet man Schmerz, was bedeuten Freundschaft und Familie?  Ein wirklich gelungener Auftakt, hoffentlich liest man bald mehr von dieser Autorin.

Astrid Henning

 


tristania 150x237

 

Mare 24,00€

 

Marianna Kurtto: "Tristania"

Tristan da Cunha ist wohl der abgelegenste Ort, der auf dieser Erde von Menschen bewohnt wird. Knappe 100 Quadratkilometer misst die Insel auf der sich mächtig der Vulkan Queen Marys Peak erhebt. Sie ist Teil einer britischen Inselgruppe im südlichen Atlantik zu der unter anderem auch St.Helena, Napoleons letztes Exil, gehört. Zum afrikanischen wie zum südamerikanischen Kontinent sind es um die 3000 Seemeilen und es gab Jahre in denen die Inselbewohner (aktuell 243 Menschen) nicht mal aus der Ferne ein Schiff zu Gesicht bekamen. Am 8.Oktober 1961 brach der Vulkan aus und begrub das sonst grüne Eiland unter einer Schicht glühender Lavamassen. Fast alle Bewohner konnten sich mit Booten auf ein nur von Vögeln bewohntes Inselchen retten und wurden von einem englischen Schiff nach Kapstadt und von dort ins  britische Königreich gebracht. Dort wurde Ihnen  ein kleines Militärdorf in der Nähe von Southampton zur Verfügung gestellt. Doch trotz allen ungewohnten Komforts und der Vorteile der Zivilisation setzte die Mehrheit der Insulaner durch, 1965 zum Wiederaufbau auf ihre Insel zurückzukehren.

Schon als Sachbuch wäre es hochinteressant über dieses abgelegene Fleckchen Erde zu lesen. Die finnische Autorin Kurtto entschied sich zum Glück aber für einen Roman und hängt die Geschichte über den Vulkanausbruch an dem Leben unterschiedlichster Bewohner von Tristan da Cunha auf.
Lars war nie für das Leben des Fischers geboren und obwohl er Frau und Sohn hat, zieht es ihn als Händler in die weite Welt. Martha, kinderlos und vom Leben enttäuscht, träumt von Schiffen, die sie einfach nur fortbringen. Jon vermisst seinen Vater und sucht nach einem Goldschatz, von einem der ersten Siedler bei den Wasserfällen versteckt.

Es gibt noch mehr Dorfbewohner in deren Köpfe wir schauen dürfen, aber ein Großteil des Reizes dieses wirklich außergewöhnlichen Buches liegt in der Beschreibung der wunderschönen Natur. Selten war ich atmosphärisch derartig eingesogen. Ein typisches Buch des tollen Mareverlages, das ich ganz sicher nie mehr vergessen werde.

Annette Matthaei

 


denk ich an kiew 150x237

 

Lübbe 24,00€

 

Erin Litteken: "Denk ich an Kiew"

Und wieder so ein Buch, das einen komplett gefangen nimmt, schockiert und eindringlich darum bittet, gelesen und besprochen zu werden!

Die junge Cassie versucht, über den Verlust ihres Mannes hinwegzukommen, als ihre Mutter Anna sie dazu überredet, mit ihrer kleinen Tochter Birdie zu ihrer geliebten Großmutter Bobby zu ziehen, die tüdelig und gebrechlich wird. Die alte Frau versteckt neuerdings an den merkwürdigsten Orten Lebensmittel und macht Notizen auf kleinen Zetteln in ihrer Muttersprache Ukrainisch. Außerdem findet Cassie ein sehr altes, in Leder gebundenes Tagebuch in kyrillischer Schrift. Die leidenschaftliche Schriftstellerin, die seit dem Tod ihres Mannes ein Jahr zuvor kein Wort mehr geschrieben hat, erhofft sich, in den Aufzeichnungen ihrer Großmutter endlich Antworten zu finden. Mit der Begründung, wichtig sei die Zukunft, nicht die Vergangenheit, hat sich Bobby seit jeher allen Fragen Cassies vehement verweigert; ihr Leben, bevor sie in die USA gekommen war, ist Tochter und Enkelin ein Rätsel. Doch nun scheint die Vergangenheit die alte Frau einzuholen. Auf Bobbys Bitte hin übersetzt der junge, sympathische und attraktive Nachbar Nick, dessen kürzlich verstorbene Großmutter ebenfalls aus der Ukraine stammte, die Tagebucheintragungen peu à peu für Cassie ins Englische. Diese ist erschüttert von der unfassbar tragischen Lebensgeschichte ihrer Großmutter und erfüllt ihr deren letzten Wunsch: diese Geschichte niederzuschreiben und endlich zu veröffentlichen…
Denn Bobby, die eigentlich Katja heißt, ist Überlebende des Holodomor 1931/1932, der unter Stalin gezielt herbeigeführten Hungersnot im damals sowjetischen Teil der Ukraine. Katja führte in ihrer Bauernfamilie mit ausreichend Vieh und Land ein gutes, sicheres und behütetes Leben, bis russische Parteigenossen und deren ukrainische Aktivisten in ihr Dorf kamen und der jungen Frau (fast) alles nahmen – Besitz, Angehörige, Nahrung, Würde, nur ihren festen Glauben an eine bessere Zukunft und ihren eisernen Willen nicht – und der Kampf ums nackte Überleben begann. Katja musste ihrer Schwester Alina damals ein Versprechen geben, bei dem es um Leben und Tod ging, und ihrem jungen Ehemann schwören, dass sie der Welt berichten würde, welchem Terror und welch ungeheurem Leid das ukrainische Volk unter Stalin und den Bolschewiken ausgesetzt war.

Erin Litteken hat ihren von der eigenen Familiengeschichte inspirierten „Roman über die Unterdrückung des ukrainischen Volkes in der Vergangenheit“, der erschreckenderweise in einer Zeit erscheint, da die Ukrainer*innen schon wieder um ihr Leben und ihr Land kämpfen, in zwei sich abwechselnde Erzählstränge gegliedert: Cassies Geschichte Anfang der 2000er Jahre in Illinois / USA und Katjas Geschichte zwischen 1929 und 1932 in der Ost-Ukraine. Vielleicht bedarf es dieses literarischen Stilmittels, um dem Todschweigen der eigenen Vergangenheit, der Unerträglichkeit des Erinnerns Raum zu geben. Und um die eigentliche Geschichte, die so intensiv und grausam daherkommt, durch Unterbrechung nicht nur spannender, sondern vor allem erträglicher zu machen.
Der Teil des aktuelleren Erzählstranges gestaltet sich ein wenig schnulzig und auf jeden Fall vorhersehbar. Doch verknüpft die Autorin beide Stränge auf geschickte Weise, findet schlüssige Überleitungen und endet stets in Spannungsmomenten, so dass ich bei der Lektüre am liebsten jene Kapitel, die 2004 spielen, übersprungen und nur Katjas Jahre in der Ukraine gelesen hätte.
„Denk ich an Kiew“ ist ein Roman über Liebe, Familienbande, Verlust, Überlebenskampf, unterdrückte Traumata und unbeugsame Zuversicht, der ein kaum beachtetes, ja sogar verleugnetes brutales Kapitel der ukrainischen Geschichte ins Bewusstsein rückt, auf einfühlsame und doch schonungslose Weise. Dieses Buch klärt auf und rüttelt wach – in vielerlei Hinsicht. Dass ein Teil des Erlöses als Spende der Ukraine zugutekommt, ist nur ein weiterer guter Grund, dieses Buch zu kaufen.

Nina Chaberny-Bleckwedel

 


an den ufern von stellata 150x237

 

Ullstein Verlag 23,99€

 

Daniela Raimondi: "An den Ufern von Stellata"

Diese äußerst lebendige und unterhaltsame Familiengeschichte, die fast zwei Jahrhunderte umfasst, begeisterte mich dermaßen, dass ich sie Ihnen unbedingt vorstellen möchte!

510 Seiten lang begleiten wir die Familien Casadio, deren Haus in Stellata, irgendwo in der Nähe des Flusses Po steht.
Zu damaligen Zeiten reiste das fahrende Volk in ganz Europa umher, so auch die geheimnisvolle und bildschöne Viollca und ihr Clan. Auf ihrem Weg durch die Lombardei geraten die Planwagen in sintflutartige Regenfälle. Eine Weiterfahrt ist unmöglich, und der Dorfälteste von Stellat genehmigt eine längerfristige Rast auf dem Anger. Als sich der Eigenbrödler Giacomo Casadio von Violcca aus der Hand lesen lässt, geschieht das, was in der Familie niemand mehr für möglich hielt: er verliebt sich! Das ungleiche Paar heiratet, und die Schwiegereltern gewöhnen sich nur schwer an die "Exotin". Der Grundstein für eine ganz außergewöhnliche Nachkommenschaft ist aber damit gelegt.... Während sich der kleine Dollaro begeistert mit den Toten der Familie Casadio unterhält, werden später geborene andere Besonderheiten aufweisen können...

Während sieben Generationen Casadios an uns vorbei ziehen, tauchen wir tief in die gesellschaftspolitische Geschichte Italiens ab 1800 ein.

Andrea Westerkamp

 


der plot 150x237

 

Heyne Hardcore 16,00€

 

Jean Hanff Korelitz: "Der Plot"

Jakes‘ Zukunft sah auch schon mal besser aus: Sein erster Roman war ein beachtlicher Überraschungserfolg, das zweite Buch hat der Verlag pflichtschuldig veröffentlicht, das dritte Werk erschien dann bei einem kleinen No Name-Verlag und am vierten sitzt er seit mehreren Jahren. Über Wasser hält sich Jake als Dozent für Kreatives Schreiben,  eine Tätigkeit, die im Prinzip völlig unter seiner Würde ist und bei der er sich mit Menschen herumschlagen muss, die ihre Fähigkeiten total überschätzen.

Jetzt ist es wieder soweit, das jährliche Sommercamp in Ripley findet statt, Jake graut schon davor, aber er hat keine Wahl. Bereits am 2. Tag macht er Bekanntschaft mit Evan Parker, einem Studenten, der Jakes‘ Büro mit einer absolut blasierten und herablassenden Haltung betritt, total davon überzeugt, den Stoff für den nächsten Bestseller zu haben. Und damit meint er nicht einfach nur ein Buch, das sich „ganz gut“ verkaufen wird, sondern einen Mega-Bestseller, der alles in den Schatten stellen wird, der nach Verfilmung schreit, New York Times Platz 1 usw. Jake erkennt die Qualität des Stoffs, die Story ist ziemlich unwiderstehlich und Evan schreibt soweit ganz gut, aber ein paar Verbesserungen wären durchaus angebracht. Nichts zu machen, man fragt sich, wieso Evan überhaupt am Seminar teilnimmt.
Dann springen wir ein paar Jahre, Jakes‘ Situation hat sich in keiner Weise verbessert, da erinnert er sich an Evans Romanstoff, recherchiert und stellt fest, das Buch ist entweder nie geschrieben worden oder zumindest nicht erschienen. Wenig später hat Jake selbst das Buch fertig, mit geklauter Story, aber immerhin selbst geschrieben und tatsächlich passiert genau das, was Evan erwartet hatte: Das Buch erklimmt sämtliche Bestsellerlisten, Jake wird eingeladen in Oprahs Talkshow, Steven Spielberg wird es verfilmen und bald gibt es niemanden mehr, der seinen Roman nicht kennt. Jake schwimmt auf einer mächtigen Erfolgswelle, lernt durch das Buch sogar seine zukünftige Frau kennen und kann sein Glück kaum fassen. Bis…er die erste anonyme Twitter-Nachricht sieht: „Du bist ein Dieb. Das wissen wir beide.“

An dieser Stelle wird nichts weiter verraten, dass wäre übelstes Spoilern. Egal, ob Krimi- oder Nicht-Krimi-LeserIn: Schnappen Sie sich dieses Buch und tauchen ein in Jakes „Plot“.

Astrid Henning

 


freundin bleibst du immer 150x237

 

hanserblau 24,00€

 

Tomi Obaro: "Freundin bleibst Du immer"

Drei enge Freundinnen aus Studienzeiten treffen nach 30 Jahren das erste Mal wieder aufeinander. Anlass ist die prunkvolle Hochzeit der Tochter einer dieser Frauen in Lagos.

Sunmi, die Mutter der Braut, hat einen reichen Mann geheiratet und lebt mit ihm in einer riesigen Villa in der nigerianischen Hauptstadt. Die Ehe ist eine reine Zweckgemeinschaft. Lieblos geht das Paar miteinander um, tröstend für Sunmi ist einzig Prestige und materielles Prassen.
Anders ist es der früher so schüchternen Enitan ergangen. Sie hatte den unfassbaren Mut mit einem Oyinbo, einem Weißen europäischer Abstammung, nach Amerika durchzubrennen. Auch Charles und Enitan haben eine Tochter, Remi, die als Kind der freien westlichen Welt aufgewachsen ist, kein Blatt vor den Mund nimmt, zum Teil fassungslos der Rolle der Frau im männlich geprägten Nigeria gegenüber steht. Das Elternpaar hat sich im beidseitigen Einvernehmen getrennt, aber für Enitan steht es nicht zur Debatte, in ihr Heimatland zurückzukehren.
Die dritte im Bunde ist die damals bildschöne Zainab. Ihr flogen die Blicke der Männer zu. Doch im Gegensatz zu der eher leichtlebigen, frechen Sunmi, hielt sie sich keusch vor ihrer Heirat. Ihre große Liebe Ahmed und sie leben mit vier Kindern im Norden des Landes, führen eine Ehe, geprägt von Liebe und Respekt. Seit ein paar Jahren ist Ahmed nach einem schweren Schlaganfall gelähmt und Zainab kümmert sich rührend um ihn.

Dieser Roman handelt von drei sehr unterschiedliche Frauen mit sehr unterschiedlichen Lebenswegen, die eine unerschütterliche Freundschaft verbindet. Es ist eine Geschichte von schillernden Farben, afrikanischen Traditionen und starken Emotionen. Süffig und mitreißend.
"Nigeria erinnerte einen täglich an die eigene Sterblichkeit: Autounfälle, Überfälle, einstürzende Brücken, Flugzeugunglücke, ein besonders schlimmer Malaria-Verlauf, eine schlampige Bluttransfusion, eine Entführung mit fatalem Ausgang, Herzinfarkte durch Stress, Lebensmittelvergiftung, schwarze Magie, Armut. Und darum musste man leben, und zwar wild und hemmungslos, oft auch rücksichtslos und ausbeuterisch…“
Diese Erkenntnis sickert ein bei der Lektüre dieses tollen Buches und man fühlt sich mittendrin im heißen, brodelnden Nollywood.

Annette Matthaei

 


kummer aller art 150x237

 

Dumont 22,00€

 

Mariana Leky: "Kummer aller Art"

Das neue Buch von Mariana Leky ist da! Ehrlicherweise ist es mein erstes von dieser bekannten und beliebten Autorin. Aber ich kann alle Leky-Fans gut verstehen: Wenn ihre kurzen Texte schon dermaßen geistreich, witzig, lebensnah, tiefgründig ohne literarische Überforderung daherkommen, wie muss es sich dann erst mit ihren Romanen verhalten?

Diesmal beglückt Mariana Leky uns mit einer Sammlung ihrer überarbeiteten Kolumnen aus der „Psychologie Heute“, in denen sie uns von ihrem Umgang mit dem Leben berichtet. „Kummer aller Art“ folgt keinem bestimmten Handlungsstrang und keiner speziellen Thematik; Lekys Figuren – und auch die Autorin selbst – ringen mit ganz individuellen und alltäglichen Situationen, Sorgen und Problemen, mit ihrem Gewissen und ihrem inneren Schweinehund.
Einigen Personen begegnen wir dabei immer wieder, wie den Nachbar*innen der Ich-Erzählerin, dem klaustrophobischen Herrn Pohl oder der konfliktscheuen Frau Wiese, und bald fühlt man sich fast so, als würde man selbst mit in dem Haus wohnen und sich über eine frische Verliebtheit, schlaflose Nächte oder Erlebnisse in der Warteschlange beim Bäcker austauschen. Onkel Ulrich, bis vor Kurzem noch praktizierender Psychotherapeut, erhält in mehreren Texten das Wort bzw. ergreift es einfach, hat in jeder Situation einen analytischen oder gleich therapeutischen Kommentar parat. Und wie begegnet man der liebeskummerigen Teenager-Patentochter oder dem kleinen Patensohn mit dessen großen Fragen?

Alle Figuren Lekys stellen sich den großen und kleinen Fragen des Lebens, allein oder in der Begegnung mit anderen Menschen, finden manchmal sogar eine Antwort, eine Lösung; manchmal ist es aber auch einfach, wie es ist. Wie im echten Leben halt.

Es ist zu empfehlen, Mariana Lekys 39 literarische Kolumnen in wohl dosierten Portionen zu genießen, optimalerweise nur eine pro Tag, etwa zum Frühstück oder vor dem Schlafengehen. Das Buch reizt, es in einem Zuge durchzulesen. Vielleicht weil es sich anfühlt, als würde man aus dem eigenen Leben lesen, so sehr kann man sich mit den Charakteren identifizieren, so bekannt erscheint einem der Kummer aller Art, hier auf intelligente und humorvolle Weise relativiert und teils sogar aufgelöst. Doch es wäre schade drum. Zu viel Lebensweisheit steckt in jedem einzelnen Text; jeder einzelne Beitrag klingt lange nach, wenn man ihn nur lässt. Und ruft ein gutes, ein leichtes Gefühl hervor. Bei mir zumindest.

Nina Chaberny-Bleckwedel

 


london rules 150x237

 

Diogenes 18,00€

 

Mick Herron: "London Rules"

Jackson Lamb und seine lahmen Gäule in ihrem 5. Fall!

In Slough House (der Regent Park spricht eher von slow horse) lesen die in Ungnade gefallenen Agenten des Geheimdienstes die neueste Twitternachricht: Eine Söldnertruppe löschte brutal 20 Leben eines Dorfes in Derbyshire aus! Wenig später wird ein Pinguingehege im Londoner Zoo gesprengt. Während der MI5 Alarmstufe Rot signalisiert, sind unsere Lieblingsagenten unter Jackson Lamb noch damit beschäftigt, die Bleistifte zu spitzen...
Erst in dem Augenblick, als der Nerd vom Dienst Roderick Ho nur durch das beherzte Eingreifen von Kollegin Catherine Standish einem recht dilettantischen Attentat entgeht, kommt so etwas wie Bewegung in die Truppe. Das bedeutet: Jackson legt seine Füße auf den Schreibtisch und genehmigt sich einen ersten Drink!

Mick Herrons Krimis sind in ihrer Art einzigartig und unnachahmlich. Der scharfzüngige Humor, die teilweise derben, aber immer passenden, wenn auch stets politisch unkorrekten Sprüche sind grandios und das Tempo flott. Auch wenn die Fälle gegen Ende der 70er angesiedelt sind, besitzen sie eine verblüffenden Aktualität. Beste Unterhaltung auf die feine britische Art!

Andrea Westerkamp

 

 

Unsere Buchempfehlungen im Juni


die psychologin 150x237

 

BTB 16,00€

 

Helene Flood: "Die Psychologin"

Dieser Debütthriller aus Norwegen hat in eigenen Land sofort einen Senkrechtstart hinlegt. Und ich weiß ganz genau warum!!!

Sara, Anfang 30, lebt mit ihrem Mann Sigurd noch nicht lange in einem kleinen Häuschen mit großartigem Blick über Oslo. Normalerweise würden sich die beiden, er als ambitionierter Architekt, sie als halbherzige Psychologin für Jugendliche, eine solche Immobilie gar nicht leisten können. Doch Sigurd erbte sie von seinem Großvater. Dessen Leiche wurde erst nach Wochen auf dem Dachboden eben dieses Hauses gefunden. Schon ein bisschen gruselig, aber da das junge Paar sowieso das gesamte Haus renovieren muss, wird danach sicher ein anderes Karma herrschen.
In dieser Baustelle wacht nun Sara eines morgens auf, mit der Aussicht, ein Wochenende allein zu verbringen. Sigurd hat sich im Morgengrauen mit einem Kuss von ihr verabschiedet. Ein Angelwochenende mit seinen Freunden ist geplant. Ihr ist nicht wohl dabei. Seit einiger Zeit fühlt sie sich sehr einsam. Sie hat sich eine kleine Praxis im Haus eingerichtet, empfängt ihre wenigen Patienten dort. Tag für Tag im Bauschutt und ohne normale Sozialkontakte. Außerdem hat sie den Eindruck, dass Sigurd in den letzten Monaten den gemeinsamen Kinderwunsch nicht mehr mit ihr teilt. Seine Arbeit, die Renovierung und Geldnöte fressen zu viel Energie. Er wirkt abgeschlagen und gereizt. Immer häufiger kommt es zum Streit zwischen den beiden.
Am Vormittag erhält sie von ihm dennoch eine Nachricht auf der Mailbox, dass er angekommen sei und sich schon mit den Freunden amüsiere.  Vielleicht tut ihm und somit ihrer Beziehung eine kleine Auszeit gut. Beunruhigt ist Sara allerdings, als sie am Abend einen Anruf eben einer der Freunde erhält, ob sie wisse, wo Sigurd stecke. Hat er sie angelogen? Ist ihm etwas zugestoßen? Was ist passiert? Paranoia schiebt sie endgültig, als sie in der folgenden Nacht Geräusche im Haus vernimmt und feststellen muss, dass sie unbekannten Besuch hatte. Die benachrichtigte Polizei nimmt Sara ins Verhör, verdächtigt sie, anstatt ihr zu helfen. Ist sie schuldig am Verschwinden ihres Mannes?
Je mehr Wahrheiten ans Licht kommen, desto mehr entgleitet Sara ihr bisheriges Leben. Sie, die anderen Menschen hilft, Gedanken und Gefühle zu sortieren, gerät zunehmend in einen Strudel aus Angst, Verwirrtheit und Kontrollverlust.

Die Autorin Flood ist selbst Psychologin und fantastisch in der Lage uns Leser mit in den Sog vegetativem Unwohlseins und Panik zu ziehen. Ein echter Pageturner mit überraschendem Ende.

Annette Matthaei

 


auf der strae heien wir anders 150x237

 

Klett-Cotta 22,00€

 

Laura Cwiertnia: "Auf der Straße heißen wir anders"

Eher zufällig bin ich auf den beeindruckenden Debütroman von Laura Cwiertnia gestoßen; Klett-Cotta hatte ihn im Zuge seiner Neuerscheinungen im Frühjahr den Buchhandlungen als eBook empfohlen. Das Thema hat mich angesprochen: eine junge, identitätssuchende Frau aus Bremen mit armenischen Wurzeln, eine Familiengeschichte, in der das Trauma des Völkermordes an den Armeniern von 1915 seit Generationen stillschweigend weitervererbt wird. Nun möchte ich diesen autofiktionalen Roman „Auf der Straße heißen wir anders“ nicht mehr missen und unbedingt weiterempfehlen!

Wie die Autorin selbst, wächst ihre Protagonistin Karlotta, die sich selbst Karla nennt, in den 1980er und 90er Jahren als Tochter einer deutschen Mutter und eines armenischen Vaters in Bremen-Nord auf. Das Buch beginnt mit der Beerdigung der Großmutter Maryam, die als junge Frau und Mutter ihre Familie in Istanbul zurückgelassen hatte und alleine als Gastarbeiterin nach Deutschland gegangen war. Hinterlassen hat sie eine Liste mit vierzehn letzten Wünschen. Einer davon ist, einer gewissen Lilit in Armenien ein Armband zu bringen. Auf der Suche nach dieser Unbekannten, die zweifelsfrei etwas mit der Familienvergangenheit zu tun hat, reist Karla mit ihrem Vater Avi nach Armenien – und wir mit den beiden in die Vergangenheit, ins Istanbul und nach Jerusalem der 1950er und 60er Jahre, nach Armenien vor hundert Jahren. Dabei tauchen wir immer tiefer in das Leben der einzelnen Familienmitglieder ein.
Der Roman spielt auf zwei Erzählebenen, die sich zeitlich voneinander wegbewegen: Auf der Gegenwartsebene wird vorwärts aus Karlas Perspektive erzählt, wie sie ihren Vater nach der Beerdigung zu einer gemeinsamen Reise in dessen nie gesehenes Heimatland überredet, was und wer ihnen in Armenien begegnet, wie sich Avi und die Vater-Tochter-Beziehung verändern.
Auf der Vergangenheitsebene wird rückwärts erzählt: Die einzelnen Familienmitglieder, welche jeweils für eine Generation stehen, erhalten eigene Stimmen in eigenen Kapiteln und werden im Lauf des Buches immer jünger – bis wir im vorletzten Kapitel des Buches in der Kindheit der Urgroßmutter Armine landen und den alles verändernden Schicksalstag miterleben. Armines armenische Kindheit findet ein jähes Ende, als ihre Familie von den Türken ausgelöscht wird und sie nur durch einen Zufall überlebt. „Du kannst nicht mehr nach Hause. […] Sie sind nicht mehr da, keiner ist mehr da, dein Dorf gibt es nicht mehr, verstehst du?“
Fortan lebt Armine in der Türkei, bekommt ein Kind – Maryam – von einem sehr viel älteren Mann, mit dem sie eine lieblose Zweckpartnerschaft eingegangen ist. Aus dem armenischen Familiennachnamen Kuyumcyan haben die Beamten die türkische Version Kuyumcuoglu gemacht. Um nicht aufzufallen, nennt Maryam sich auf der Straße Meryem, verbirgt ihr rotes Haar unter einem Kopftuch, wird ihren eigenen Sohn später Ali rufen, obwohl er eigentlich Avedis/ Avi heißt.

Cwiertnia sagt in einem Interview, der Grund für die von ihr gewählte Erzählstruktur sei, dass in der Geschichte von Menschen die Erklärung dafür liege, warum sie so geworden seien, wie sie geworden sind. Deswegen wollte sie mehrere Generationen zu Wort kommen lassen. Um die Charaktere und ihr langes Schweigen zu erklären. „Auf der Straße heißen wir anders“ ist „auch ein Buch über das Schweigen, das Nicht-Erzählen“ eines transgenerationalen Traumas. Laura Cwiertnia hat ihre eigene Methode gefunden, dieses Schweigen zu brechen: Sie hat ein Buch geschrieben. Und sich damit die Legitimation errungen, Fragen zu stellen. Und sie hat Antworten bekommen: von Genozid-Forschern, Armenier*innen, ihrem Vater. Es ist Cwiertnia gelungen, aus ihren Rechercheergebnissen ein detailliertes, authentisches, lebendiges Bild vom Straßenleben in Istanbul in den 60er Jahren, von der Pogromnacht 1955 und von Jerusalem während des Sechstagekrieges 1967 zu zeichnen. Wir bekommen Einblick in armenische Bräuche, lernen ein Stück des heutigen Armeniens, aber auch das Leben in Bremen-Nord vor 30 Jahren kennen. Cwiertnia führt uns nah an ihre Charaktere heran, schildert eindrücklich deren Erlebnisse.
Mit knapp 200 Seiten ist es ein eher dünnes Buch, aber sehr gehaltvoll und vor allem lange nachklingend.

Nina Chaberny-Bleckwedel

 


eine frage der chemie 150x237

 

Piper 22,00€

 

Bonnie Garmus: "Eine Frage der Chemie"

„Die Fernsehsendung „Essen um sechs“ von und mit Elizabeth Zott ist nicht bloß die Einführung in die Chemie, es ist ein dreißigminütiger, fünfmal die Woche stattfindender Unterricht in Sachen Leben.“ Ein halbes Leben wird es dauern, dass Mrs. Zott diese Zeilen lesen wird und ihr Lächeln wiederfindet.

Die kleine Elizabeth Zott wächst in unguten Verhältnissen auf. Ihr Vater, ein geldgieriger Wanderprediger, landet im Knast. Die Mutter setzt sich wegen Steuerhinterziehung nach Südamerika ab, der geliebte Bruder stirbt. John, dem Elizabeth alles zu verdanken hat! Nimmt er doch seine kleine, hochintelligente Schwester an die Hand, bringt ihr Lesen und Schreiben bei und öffnet ihr die Wunderwelt der Bibliotheken. Sein Verschwinden hinterlässt eine tiefe Wunde in der Seele des Mädchens.
Doch die Wissenschaft hilft! Die Chemie, das ist ihr Leben. Mit einem scharfen, analytischen Verstand gesegnet, nimmt sie in der Männerdominierten Welt der Wissenschaften kein Blatt vor den Mund. Zudem ist sie noch bekennende Atheistin. Das kommt überhaupt nicht gut in den USA der frühen 50er Jahren. Diese leidvolle Erfahrung muss Elizabeth mehr als einmal machen.
Doch das Leben scheint sich zu wandeln, als sie am Institut Hastings den berühmten Chemiker Calvin Evans kennenlernt, der sich auf den ersten Blick in die bildhübsche, junge Frau verliebt. Tatsächlich führen die beiden eine wunderschöne Liebesbeziehung auf Augenhöhe. Er nimmt sie ernst in ihrem Streben und sieht in ihr die brillante  Wissenschaftlerin, die sie ist. Leider währt das Glück nicht lange. Ein zweiter Verlust lässt sie verzweifeln. Doch Calvin hat ihr ein zunächst ungewolltes Geschenk hinterlassen. Elizabeth ist schwanger – und unverheiratet. Damals ein Grund zur Kündigung, doch die zähe Frau gibt nicht auf. In ihrer Küche richtet sie sich ein Labor ein, versorgt das schreiende Töchterchen und bekommt tatsächlich eine neue Lebenschance. Ihr Aussehen verhilft ihr zu einer Sendung im Nachmittagsfernsehen. Eine, wie man heute sagen würde, Kochshow, aber mit dem feinen, wichtigen Unterschied, dass sie nicht nur Rezepte, sondern  gegen alle Widerstände ihre Lebensklugheit per Bildschirm an die Frau bringt. Nicht lange wird es dauern und die weibliche Bevölkerung ganz Amerikas hängt an Elizabeth Zotts Lippen...

Witzig und skurril geschrieben, gehört dieser Roman zu einem der Highlights in diesem Frühjahr, der sich einer breiten Leserschaft erfreuen wird. Einfach gut!!!

Annette Matthaei



das fluestern der bienen 150x237

 

Ullstein 12,99€

 

Sofia Segovia: "Das Flüstern der Bienen"

Auf den ersten Blick nahm mich das Cover mit den farbig gezeichneten Orangen, deren Blüten und Blättern und den Bienen für sich ein. „Sommer!“, dachte ich. Nun, 475 Seiten später, weiß ich, dass das Buch eher wenig mit dieser Jahreszeit zu tun hat. (Mit Maja Lundes „Die Geschichte der Bienen“ übrigens auch nichts!) Dennoch war ich keineswegs enttäuscht! Segovias historischer Familienroman, der in ihrer Heimat wochenlang in den Bestsellerlisten verweilte, liest sich streckenweise wie ein Krimi und ist umso spannender, da er im fernen Mexiko spielt.
„Der Roman erzählt von der Liebe für das Land, das Leben, die Familie und von einem Verrat, der alles enden lassen kann.“ So steht es im Klappentext. Das Außergewöhnliche, was diesen Roman so besonders macht, ist die Magie, die Übersinnlichkeit, verkörpert durch das von einem Bienenschwarm umgebene Findelkind Simonopio, das nur die Sprache der Natur spricht…

Simonopio, der aufgrund seiner angeborenen Gaumenspalte nie richtig sprechen lernt und von abergläubischen Mitmenschen als vom Teufel geküsstes Kind gefürchtet wird, hat eine besondere Gabe: Mit all seinen Sinnen nimmt er die Natur und seine Umwelt wahr, spürt, was in den Mitgliedern seiner Familie vorgeht, und kann Geschehnisse vorhersehen. Der elternlose Junge wächst zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf der Hacienda La Amistad auf, unweit der kleinen mexikanischen Stadt Linares, am Fuße der Berge, umgeben von Zuckerrohrplantagen. Land und Gutshaus gehören seit Generationen der Familie Morales; die alte Nana Reja, die als Amme sämtliche Morales-Kinder – und noch viele mehr – gestillt hat, wird seit jeher mit vererbt. Schweigend und mit geschlossenen Augen verbringt sie die Tage auf der Veranda in ihrem geliebten Schaukelstuhl. Der Legende nach, ist sie die Einzige, die das ausgesetzte Baby hat schreien hören. Sie nimmt sich seiner an, bringt ihn auf die Hacienda und weicht ihm nicht mehr von der Seite, bis er groß genug ist, um alleine über die Ländereien, bis in die Berge zu streifen, immer begleitet von seinem Schwarm Bienen, deren Flüstern er verstehen kann… Don Francisco Morales und seine Frau Beatriz Cortés de Morales, die zu der Zeit zwei Töchter haben, nehmen Simonopio als Patenkind in ihre Familie auf und lieben ihn wie einen eigenen Sohn. Dank Simonopios Gabe, von der nur Nana Reja zu wissen scheint, entgehen sie mehrmals dem Unglück, überstehen sowohl die Spanische Grippe als auch den Bürgerkrieg der Mexikanischen Revolution relativ unbeschadet. Bei der Umstrukturierung der Zuckerrohrfelder in Orangenplantagen im Zuge der Landreform sind Simonopios magisches Gespür und einzigartiger Wissensschatz über die Natur Gold wert für den Großgrundbesitzer Morales, der zwar immer wirtschaftlich, aber auch sozial agiert und seine Pächter und Landarbeiter gut behandelt und bezahlt. Letzteres sehen jedoch nicht alle so: Anselmo Espiricueta hasst seine Existenz als Leibeigener und möchte sich und seine Familie um jeden Preis aus der Knechtschaft seines Patróns befreien. Simonopio ist ihm dabei ein riesiger Dorn im Auge…

Vielleicht geht Segovia nicht kritisch genug mit den Klassenunterschieden der mexikanischen Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts um, zeichnet ein etwas zu schwarz-weißes Bild des faulen, gewalttätigen indigenen Angehörigen der niederen Arbeiterschicht, der seinem Herrn zu Dank verpflichtet sei, und des gönnerhaften weißen Großgrundbesitzers, der seine Arbeiter zwar vermeintlich sozial und fair behandelt, ihnen faktisch aber jede Chance auf Freiheit und eigenen Besitz verwehrt. Wer sich an diesem Punkt nicht allzu sehr stört, wird sich verlieren in der Geschichte der Familie Morales, mit ihnen lachen, lieben und leiden. Segovia erzählt sie aus mehreren Perspektiven, lässt uns tief eintauchen in die Gedanken und Gefühlswelten des kindlich-sensiblen Simonopio, des verbitterten Anselmo Espiricueta, des gutherzigen Familienoberhauptes, dessen starker Gattin, und nicht zuletzt deren spät geborenen leiblichen Sohnes, Francisco Morales, der uns als alter Mann in der Ich-Perspektive rückblickend an seinen beglückenden wie schmerzhaften Erinnerungen teilhaben lässt.  Segovia verknüpft dabei in wunderschöner, teils fast poetischer Sprache Imagination und Realität und lässt einem angesichts der unerschütterlichen Liebe, Zuneigung und gegenseitigen Unterstützung des Ehepaares Morales das Herz aufgehen.
Dieses Buch beschreibt Zuversicht und Lebensmut in einer krisengebeutelten Gesellschaft. Nicht schmalzig! Einfach nur wohltuend!

Nina Chaberny-Bleckwedel

 


alles geben 150x237

 

Kiepenheuer & Witsch 22,00€

 

Neven Subotic: "Alles geben - Warum der Weg zu einer gerechten Welt bei uns selbst anfängt"

Der Fußballprofi Neven Subotic hat in den 32 Jahren seines Lebens so viel erlebt, dass seine Geschichte, und nicht nur seine sportliche, ein Buch füllen kann.

Anfang der 90er-Jahre flohen seine Eltern vor den Bürgerkriegswirren aus Bosnien nach Süddeutschland und fingen bei Null in einem fremden Land an, erlernten die Sprache, die Bräuche, integrierten sich. Und als ihre Aufenthaltsgenehmigung ablief und die Abschiebung in die alte Heimat drohte, zog die Familie beherzt weiter, Richtung Salt Lake City in den USA. Dort begann Neven Fußball zu spielen und wurde ziemlich schnell gesichtet und in die amerikanische Jugend-Nationalmannschaft berufen.
Als junger Mann von 17 Jahren folgte er einem Angebot und kehrte als Profisportler nach Deutschland zurück. Seine Karriere entwickelte sich rasant: Subotic spielte für Mainz 05, folgte Jürgen Klopp nach Dortmund, gewann Deutsche Meisterschaften, triumphierte im Pokalfinale – kurz: er war ganz oben, galt als einer der besten Verteidiger der Liga. Subotic verdiente Millionen Euro, es folgten rauschende Nächte, schnelle und teure Autos, eine riesige Villa mit allen Schikanen – also genau das, wann man so von einem erfolgsverwöhnten Star erwartet.
Aber es kamen auch Zweifel auf und Scham. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere entschied er, seine Leidenschaft und sein Geld denjenigen zu widmen, die ein Leben im anderen Extrem führen müssen, die Tag um Tag bangen müssen, nicht genug Wasser zum Trinken zu haben, die Tag um Tag weite Wege auf sich nehmen müssen, eine Quelle zu erreichen, die ihnen ihr Überleben sichert. Neven Subotic gründete nach langen und gründlichen Recherchearbeiten eine Stiftung, die Menschen in Äthiopien Zugang zu sauberem Wasser ermöglichen sollte. Mittlerweile fließen fast seine gesamte Zeit und ein Großteil seines Geldes in dieses Projekt. Voran ging ein jahrelanger Prozess der Reflexion und Selbstanalyse – und am Ende dieses Denkprozesses aus seinem privilegierten Status heraus und in einem der reichsten Länder der Welt lebend, stand für ihn fest, dass es um globale Gerechtigkeit gehen müsse – er nennt das selbst einen logischen Ansatz.

Subotic erzählt in seinem Buch ungeschönt von seinem sportlichen und gesellschaftlichen Werdegang, er lässt den Leser teilhaben an seinen Gedanken, seinen Zweifeln und seinen Wünschen. Mittlerweile ist er ein Experte auf dem Gebiet des Brunnenbaus, immer wieder interviewt er Fachleute und Politiker für die Webseite seiner Stiftung. Hunderte von Brunnen haben er und seine Mitstreiter in Äthiopien finanziert und gebaut, seit kurzer Zeit auch in Tansania und Kenia. Seine Partner sind durchweg lokale Organisationen, die Mitarbeiter kommen aus dem jeweiligen Land. Zweimal jährlich reist Neven Subotic selbst in die Regionen – und auch davon berichtet er: von kulturellen Unterschieden, von Gesprächen, von Menschen, die selbstlos ihr Leben den Ärmsten der Armen widmen, und das mit Begeisterung und Freude. Wenn er von diesen Begegnungen erzählt, von den Kindern und der Unmittelbarkeit der Hilfe vor Ort, dann spürt man seine Begeisterung, seinen inneren Auftrag und seine Vision. Es ist ja auch so, dass Wasser indirekt in die Bildung fließt. Die Mädchen und Jungen können die Schule besuchen und müssen eben nicht stundenlang zum nächsten Wasserloch laufen, um den täglichen Bedarf zu decken.
Das soziale Engagement von Neven Subotic ist mehr als eine Passion – es ist sein Lebensmittelpunkt.

Heike Kasten

 


der unbekannte 150x237

 

Blanvalet 15,00€

 

Christine Brand: "Der Unbekannte"

Als ihre Mutter Margret sie dringend um Hilfe bittet, passt es gerade eigentlich überhaupt nicht ins Leben der jungen, engagierten Journalistin Milla; doch irgendetwas in der Stimme ihrer Mutter lässt sie aufhorchen und bringt sie dazu, trotz all ihrer eigenen momentanen Probleme (und das sind nicht wenige), doch zu ihr zu fahren. Dort angekommen trifft sie auf eine unglaubliche Szenerie: Ausgerechnet der Schweizer Nationalratspräsident liegt tot - ... und nackt...-  im Bett der Mutter, offenbar verstorben an einem Herzinfarkt...
Da ist guter Rat teuer: Ihren Freund, den Polizeikommissar Sandro Baldini, kann Milla schlecht zu Hilfe holen. Sie will ihrer Mutter um jeden Preis ersparen, ins Kreuzfeuer der Medien zu geraten. Also muss der Tote so schnell wie möglich aus der Wohnung. Dies gelingt mit Hilfe von Millas Onkel, der ein Bestattungsunternehmen leitet.

Währenddessen kämpft Millas blinder Freund Nathaniel mit seiner Vergangenheit. Als er ein kleiner Junge war, brachte sein Vater seine Mutter, seine Schwester und schließlich sich selbst um und verletzte Nathaniel so schwer, dass er sein Augenlicht verlor, jedoch als Einziger überlebte. So zumindest wurde dem kleinen Jungen die Geschichte wieder und wieder erzählt. Nun möchte seine Freundin Gundula gerne ein Kind, doch Nathaniel fühlt sich einfach nicht bereit für diese große Verantwortung. Er beschließt, sich endlich seiner Vergangenheit zu stellen, fordert die alten Fallakten an und stößt dabei auf einige Ungereimtheiten. Wie kann es sein, dass der damalige leitende Ermittler, Felix Winter, der auch heute noch im Polizeikommissariat arbeitet, einige Akten einfach nicht mehr findet? Immer tiefer gräbt Nathaniel in den Abgründen seiner Vergangenheit, und die Geschichte, auf die er stößt, bringt absolut alles in seinem Leben ins Wanken. Auf der Suche nach Antworten begibt er sich zusammen mit seiner Blindenhündin Alisha in tödliche Gefahr...
Nathaniel versucht, Hilfe von Milla zu bekommen, doch deren Probleme nehmen ebenfalls gerade überhand: Der Politiker ist leider mitnichten einem unglücklichen Herzanfall erlegen, sondern wurde mit dem Gift der Herbstzeitlose umgebracht! Und ausgerechnet im Regal von Millas Mutter steckt ein Buch über Giftpflanzen und deren tödlicher Wirkung...

Auch der vierte Fall der Krimiautorin Christina Brand um die Journalistin Milla und den blinden Nathaniel Brenner ist wieder sehr spannend, hält viele unerwartete Wendungen bereit und lässt den Leser das Buch bis zum Ende nicht mehr aus der Hand legen!
Ich mochte auch schon die drei Vorläuferbände, allerdings kann man diesen Band auch völlig unabhängig von den anderen lesen. Ein wahres Krimivergnügen - raffiniert und nicht allzu blutrünstig!

Sabine Christ

 


die toten von fleat house 150x237

 

Goldmann Verlag 22,00€

 

Lucinda Riley: "Die Toten von Fleat House"

Wir befinden uns in Norfolk, Großbritannien, genauer gesagt in der ehrwürdigen St. Stephen`s School, die von Kindern betuchter Eltern besucht wird, die ihrem Nachwuchs die bestmögliche Schulbildung, aber auch eine vernünftige traditionelle Erziehung angedeihen lassen möchten. Das Internatsleben ist gerade für die jüngeren Schüler nicht immer einfach, es gab schon mehr als einen Fall von Mobbing und Drangsalierung. Einer, der ausgesprochen gerne die kleineren Jungen quält, ist Charlie, ein provokanter Großkotz, der sein Leben auf der Überholspur feiert. Leider nicht mit dem Einverständnis seines konservativen Vaters, der ihn als Nachfolger in seiner Anwaltskanzlei sehen will.
Eines Morgens nun wird Charlie tot in seinem Wohnheimzimmer in Fleat House aufgefunden – und was zunächst wie ein tödlicher epileptischer Anfall aussieht, entpuppt sich rasch als anaphylaktischer Schock! Charlie war hochgradig allergisch auf Aspirin. Seine abendliche Tablettenration musste ausgetauscht worden sein!

Natürlich darf ein solcher rufschädigender Fall die Mauern der Schule unter keinen Umständen verlassen. Daher beginnen die polizeilichen Ermittlungen unter besonders diskreten Umständen und werden geleitet von der charismatischen Jazz Hunter, die sich nach einer beruflichen Auszeit aus persönlichen Gründen einem, wie immer deutlicher wird, verzwickten Mordfall gegenüber sieht. Doch bevor sich Jazz überhaupt einen Reim auf Situation machen kann, begeht ein Lehrer Selbstmord und ein Kind verschwindet.
Jazz versucht, in den verschlossenen Kosmos des Internats vorzudringen und sticht in ein Netz von Beziehungen, emotionalen Abhängigkeiten und offenen Rechnungen.
Und sie erkennt, dass sie weit in die Vergangenheit zurückgehen muss, wenn sie das Rätsel von Fleat House enthüllen will. Clever verfolgt sie diverse Spuren, stößt dabei immer wieder auf eisiges Schweigen oder einsilbige Antworten – der Ruf von Schule und Familien soll zwingend gewahrt bleiben. Trotzdem: ganz offensichtlich waren viele Personen nicht gut auf Charlie Cavendish zu sprechen!

Schwierig ist die Rolle von Charlies Eltern einzuordnen: Da ist auf der einen Seite der erfolgsverwöhnte, ehrgeizige Vater, den der Tod seines Sohnes irgendwie nicht weiter berührt, da ist auf der anderen Seite die Mutter, eine beherrschte, aber undurchsichtige Frau, die sicherlich trauert, aber… DI Jazz trifft sie an unvermuteten Orten an, zudem bei Menschen, die sie leugnete zu kennen.

Heike Kasten

 


die frauen von schoenbrunn 150x237

 

Ullstein 11,99€

 

Beate Maly: "Die Frauen von Schönbrunn"

Im Sommer 1914 wird Emma Mosers Traum wahr: Sie bekommt eine Stelle als Tierpflegerin im Wiener Tierpark Schönbrunn. Eigentlich möchte Emma in die Fußstapfen ihres Vaters treten, der als Tierarzt jahrzehntelang im Zoo arbeitete. Doch Frauen sind in Wien nicht zum Studium der Veterinärmedizin zugelassen. Dafür müsste Emma nach Zürich gehen - doch das Geld ist knapp.

Dann bricht der Erste Weltkrieg aus und das sorglose Leben im schönen Wien findet ein jähes Ende: Emmas Vater und der Ehemann ihrer hochschwangeren Schwester Greta, Gustav, werden eingezogen. Auch die meisten Pfleger aus dem Zoo müssen als Soldaten in den Krieg und so lastet die meiste Verantwortung für die Tiere nun auf Emma. Diese wiegt schwer: Der Winter bricht herein und in Zeiten, in denen schon Nahrung für die Menschen knapp ist, bleibt für die Tiere erst recht nicht viel übrig. Dazu kommt, dass Emma erkennt, wie wenig artgerecht die Tiere gehalten werden, und sie verzweifelt - gegen die Widerstände des Zoodirektors und des unangenehmen Zoologen von Kochauf - versucht, etwas Abwechslung in den Käfigen und Gehegen zu schaffen. Greta bemüht sich, für Essen und Haushalt zu sorgen, während Emma im Zoo für ihre Schützlinge sorgt und das wenige Geld verdient, das ihnen das Überleben sichert.
Die Bevölkerung hungert und friert, und die Rufe, den Zoo in diesen Notzeiten zu schließen, werden immer lauter. Emma kämpft zusammen mit Julius Winter, einem jungen Arzt, der verletzt aus dem Krieg nach Wien zurückgekehrt ist, um das Überleben der Tiere. Zunehmend fühlt Emma sich zu ihm hingezogen; Julius jedoch wird von seinen schrecklichen Kriegserinnerungen gequält und ertränkt seine Sorgen regelmäßig in Alkohol. Als die Schwestern auch noch die Nachricht erreicht, dass Gustav gefallen und der Vater vermisst wird, scheint die Lage hoffnungslos zu werden. Doch Emma weigert sich aufzugeben!

Ein wunderbarer Schmöker über die Geschichte des Wiener Tiergartens und zwei starke Frauen in einer schwierigen Zeit, nebenbei eine angenehme Liebesgeschichte... nicht zu schwer und angenehm flüssig zu lesen!

Sabine Christ

 

Unsere Buchempfehlungen im Mai


eine gemeinsame sache 150x237

 

Kein&Aber 26,00€

 

 Anne Tyler: "Eine gemeinsame Sache"

Anne Tyler… muss ich noch mehr sagen? Na gut. Anne Tyler könnte ein Buch über den alltäglichen Einkaufstrip schreiben und wir würden ein vollständiges, spannendes und so gerne zu lesendes Bild einer Familie bekommen. In der Zeit, die es dauert, bis sie den Laden wieder verlassen haben, weiß man alles, was es über ihre Eltern, Großeltern, Kinder und Kindeskinder zu wissen gibt – und hat trotzdem das Gefühl nicht genug erfahren zu haben.
Mit den Garretts verbringen wir einen weitaus längeren Zeitraum. Wir begleiten sie von den 50er Jahren an bis in die heutige Zeit der Pandemie. Von dem einzigen Familienurlaub ausgehend, den die Garretts je unternehmen werden, fächert sich die Erzählung auf und über Jahre hinweg formen und verändern sich unglaublich unterschiedliche Charaktere dieser tragischen, aber hoffnungsvollen, liebenswürdigen Familie.

Eines Tages denkt sich Mercy Garrett, Matriarchin extraordinaire, wie niemand es bemerken würde, sollte sie verschwinden. Wenn sie sich einfach die Haare schwarz färben würde, einen Faltenrock anzieht und eine Zigarette rauchend die Stadt verließe – denn wer würde schon denken, dass Mercy Garrett raucht? Stattdessen nimmt sie sich ein Apartment und macht es zu ihrem Atelier. Alice, Lily und David, mittlerweile erwachsen, sind zu sehr mit sich und ihren Kindern beschäftigt, um zu bemerken, dass ihre Mutter nach und nach das Haus und ihren Vater verlässt. Sie sind eine Familie, die sich unglaubliche Mühe gibt, das zu sein was Familie im traditionellen Sinne bedeutet. Welche Dynamiken sie aber entwickeln und wie sich die Beziehungen untereinander entfalten, ist unglaublich spannend anzusehen.

Es ist ein Wunder, wie Anne Tyler ganze Leben zwischen zwei Buchdeckeln verpackt und dabei so unangestrengt, natürlich und behutsam bleibt. Ich liebe einfach ihre charakterfokussierten Texte, in denen die Lücken zwischen den vielen Details fast am aussagekräftigsten sind und damit ein ganz individuelles Leseerlebnis bieten. Ich vermisse die Garretts jetzt schon und kann ein Kennenlernen nur wärmstens empfehlen.

Mattes Daugardt

 


die hundert jahre von lenni und margot150x237

 

Bertelsmann 20,00€

 

Marianne Cronin: "Die hundert Jahre von Lenni und Margot"

Keine Frage: dieser Roman wühlt emotional auf. Marianne Cronin erzählt uns die fiktive Geschichte von Lenni und Margot und behandelt dabei ein großes und berührendes Thema: Was ist wichtig, wenn man nicht mehr viel Zeit zum Leben hat?

Lenni befindet sich seit längerem auf der sogenannten „Mai-Station“ des Glasgow Princess Royal Hospitals. Sie ist 17 Jahre alt, trägt nur Schlafanzüge und ist sterbenskrank. Ganz klar spürt Lenni, was ihr guttut und was nicht: Eine Maltherapie mit Gleichaltrigen, die sich locker miteinander unterhalten und thematisch anders unterwegs sind, bricht sie sofort ab. Hingezogen fühlt sie sich dagegen zur 83-jährigen, herzkranken Margot, die sehr gerne und zudem außerordentlich gut malt. Margot und Lenni sind beide energiegeladene, mutige und leicht eigensinnige Persönlichkeiten, das verbindet sie sofort. Lenni findet Margot so sympathisch, dass sie schließlich die Erlaubnis des Krankenhauses erhält, im „Rosensaal“ an den Malstunden der Ü-80-Senioren teilzunehmen. Als sie errechnet, dass sie und Margot zusammen genau 100 Jahre alt sind, ist Lenni völlig aus dem Häuschen und entwickelt die Idee für ein Riesenprojekt: nämlich für jedes ihrer hundert Jahre ein Bild zu malen und sich anschließend gegenseitig die jeweils dazugehörige Geschichte zu erzählen. Margot nimmt Lennis Idee begeistert auf und so tauchen wir Lesenden mittels Rückblenden in einzelne Stationen aus zwei sehr schicksalhaften Leben ein. Zwischen Margot und Lenni wächst mit dem Projekt eine tiefe Verbundenheit und Freundschaft.
Neben Margot wird auch Pater Arthur, der kurz vor seinem Ruhestand steht, zum wichtigen Ansprechpartner und zum Freund für Lenni. Mit ihm führt sie tiefe Gespräche über Glaube, Vergebung, Abschied u.a.m. Leichtigkeit gewinnt der Roman durch Lennis leicht freche, direkte, kraftvolle und kämpferische Art. Sie ist eine echte Persönlichkeit mit viel Herz und einfach zum Gernhaben.

Was mir besonders gefallen hat, ist, dass uns Cronin trotz der schweren Thematik dieses Romans nicht resignierend zurücklässt. Denn sie zeigt auf, wie sich das Ende eines Lebens so positiv wie möglich gestalten lässt: mit Kreativität, mit kleinen unerlaubten Abenteuern, die einen das Leben spüren lassen, mit dem Revue passieren lassen des eigenen Lebens, mit tiefgründigen Gesprächen über grundlegende Fragen des Lebens und Sterbens und mit der Begleitung von wirklich guten Freunden bis zum Schluss.

Gabi Pieper

 


das unglaubliche leben des wallace price 150x237

 

Heyne 16,00€

 

T.J. Klune: "Das unglaubliche Leben des Wallace Price"

Die Bücher von TJ Klune sind wirklich magisch, nicht nur ihrer fantastischen Schauplätze wegen, sondern vor allem wegen der liebenswerten Charaktere, die er erschafft. Nach "Mr. Parnassus' Heim für magisch Begabte" haben wir es mit einem weiteren Knaller zu tun, der nicht nur Fantasy-Fans zum Wohlfühlen einlädt.

Wallace Price liebt die Arbeit. Er liebt seine Arbeit so sehr, dass es ihm sehr ungelegen kommt, als er sich eines Tages auf dem Boden seines Büros wiederfindet – und zwar alles andere als lebendig. Sehr lästig ist es ihm schon, dass nun einige wichtige Deadlines in seiner Anwaltskanzlei verpasst werden, aber seine kaum besuchte, ziemlich groteske Beerdigung ist wohl die Krönung. Der Tod ist und bleibt ihm ein deutliches Ärgernis. Vor allem, wenn er in Form des freundlichen Teeladenbesitzers Hugo daherkommt, der Wallaces Geistführer (a.k.a. Wächter) ist. Zusammen mit einer frechen Wächterin-in-Training, einem noch ziemlich lebendig wirkenden Großvater-Gespenst und dem geistreichsten Hund, den man je getroffen hat, zeigen sie ihm, worum es im Leben geht. Und so beginnt Wallace im Tode zum ersten Mal wirklich zu leben ... aber die Zeit bleibt für niemanden stehen, nicht einmal für die Toten. Neben gruseligen Geisterwesen, noch gruseligeren Managern (der Tod ist die schlimmste Bürokratie) und sich viel zu voll nehmenden Promi-Geisterjägern, wird es nur allzu bald Zeit herauszufinden, was unter der flüsternden Tür wartet.

Eine Geschichte über die Toten und die Lebenden, über Trauer, wahre Liebe und das Jenseits. Ich kann es kaum erwarten, zu sehen, was als Nächstes von diesem brillanten Autor kommt, der uns weiterhin Charaktere schenkt, in die wir uns verlieben können.

Mattes Daugardt

 


sommerschwestern 150x237

 

Kiepenheuer&Witsch 16,00€

 

Monika Peetz: "Sommerschwestern"

Vielleicht kennen Sie bereits die Bücher um die fünf „Dienstagsfrauen“ von Monika Peetz? Wenn Ihnen diese gefallen haben, dann wird Ihnen „Sommerschwestern“ auch gefallen, da es einige Parallelen aufweist.

Das Buch beginnt mit Yella Thalberg. Yella befindet sich auf Einladung Ihrer Mutter im Zug auf dem Weg nach Bergen in den Niederlanden. Sie ist 33 Jahre alt, verheiratet, engagierte und leicht gestresste Mutter von zwei süßen Grundschuljungs und: Sie ist die zweitälteste der insgesamt vier Sommerschwestern. Neben ihr gibt es da noch die jüngeren zweieiigen Zwillinge Helen und Amelie und die ältere Schwester Doro. Sommerschwestern, so haben sie sich selber schon spaßeshalber als Kinder genannt. Warum? Weil sie sich ausschließlich im Sommer in den Ferien gut verstanden haben. Und jeden Sommer verbrachten sie ihre Ferien mit ihren Eltern im Niederländischen Bergen auf einen Campingplatz an der Nordsee. Dort fühlten sich die vier Mädchen frei und glücklich.
Als Yella 13 Jahre alt war, verunglückte ihr Vater an genau diesem wunderschönen Urlaubsort tödlich bei einem Autounfall. Seitdem ist keine der Schwestern je wieder dorthin zurückgekehrt. Die Mutter  Henriette ging kompromisslos ihren eigenen Weg in der Traumabewältigung, u.a. indem sie neu heiratete. Die Beziehung zur verhärteten Mutter war und ist für alle kompliziert und aufs Minimum beschränkt. Die Wege der Schwestern trennten sich und blieben bis heute getrennt.
Nun, 20 Jahre später, lädt Henriette ihre Töchter in ihrer herrischen und zwingenden Art äußerst kurzfristig zu einem fünftägigen Aufenthalt in Bergen ein, um ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen, sagt aber nicht, was es ist. Das große Rätselraten nach dem Grund der Einladung beginnt. Und warum soll es genau dort stattfinden? War es ein Trick, um die Familie wieder zusammenzuführen? Trotz der kurzfristigen Einladung schaffen es tatsächlich alle Schwestern, rechtzeitig nach Bergen zu kommen. Schon am ersten Abend, als die Mutter noch nicht zugegen ist, zeigt sich wieder, wie unterschiedlich die Schwestern sind und wie zerrissen die Familie ist.

Und genau hier liegt eine Stärke des Romans, wenn Peetz die Persönlichkeiten der einzelnen Schwestern, ihre Beziehungen untereinander und zur Mutter herausarbeitet sowie insbesondere aus Yellas Sicht aufzeigt, wie diese ihren Platz in der Familie sucht und Beziehungen klären will.
Sommerschwestern ist eine unterhaltsame, leicht zu lesende Lektüre mit einem gut aufgebauten Spannungsbogen und einer zum Teil überraschenden Auflösung des Mysteriums. Und ganz klar ist: Es wird wieder Fortsetzungen geben. Ich empfehle es als schöne Urlaubslektüre.

Gabi Pieper

 


iglhaut 150x237

 

Rowohlt 23,00€

 

Katharina Adler: "Iglhaut"

München, ein Hinterhof mit Werkstatt, die Iglhaut bei der Arbeit... Heiligenfiguren sind es gerade - ansonsten geht´s eher unheilig zu im neuen Roman von Katharina Adler.

Es menschelt gewaltig im Mehrfamilienhaus : Frau Ivanovic (3.Stock links),Tilda Rolff (gleiche Etage rechts), Jasmina (betreute Wohngemeinschaft 1.Stock), und das sind noch längst nicht alle. Eher unfreiwillig reist die Iglhaut nach Ägypten in den Urlaub. Schließlich kann man den Kreuzworträtselgewinn ja nicht einfach so verfallen lassen, und den Uli hat`s wirklich bös erwischt. Dabei wollte sie sich eigentlich nicht mehr "opfern", auch nicht für die Berge von Selbstgekochtem, die ihr Vater vorbei bringt. ("Deine Mama macht mir ja nicht mehr die Tür auf!") Der Sex mit Dori ist indes kein Opfer, sondern fühlt sich immer noch gut an. Obwohl das mit den beiden ja schon längst vorbei ist. Netterweise geht er sogar mit der Kanzlerin noch kurz Gassi. Die liebt ihn auch immer noch...

Turbulent, sehr launig, bezaubernd, das sind Begriffe, die mir spontan einfallen, wenn ich an den Roman denke! Ich hätte noch seitenlang verweilen wollen...

Andrea Westerkamp

 


ueber carl reden wir morgen 150x237

 

Zsolnay-Verlag 24,00€

 

Judith W. Taschler: "Über Carl reden wir morgen"

Diese Geschichte hier ist ein Leseknaller der allerfeinsten Sorte! Ein Buch, das einen von der ersten bis zur letzten Seite gefangen nimmt, das einen auch danach nicht so schnell wieder loslässt.

Judith Taschler hat einen großen und großartigen Familienroman geschrieben; über drei Generationen hinweg verfolgen wir gebannt das Leben der Familie Brugger, die im österreichischen Mühlviertel in einem sehr kleinen Ort eine Mühle betreibt. Beginnend im frühen 19. Jahrhundert verfolgt die Autorin die Schicksale und Geschicke der Bruggers über mehr als 100 Jahre und lenkt dezent den Fokus auf die Frauen der Familie, die das oftmals harte und karge Leben prägen. Sie zeichnet damit, fast wie nebenbei, ein Sittengemälde dieser Sippe, lakonisch, lapidar, mit leichter Distanz und viel Empathie – fest eingebunden in die Traditionen und Weisen des ländlichen Lebens.
Und so entsteht beim Lesen das Porträt eines Dorfes, ein Buch über Abschiede und die Liebe unter schwierigen Vorzeichen, über den Krieg und die unstillbare Sehnsucht nach vergangenem Glück. Das Leben auf dem Land, fernab der großen Städte und auch der sog. Zivilisation war und ist mehr als hart und zeichnet sich in den Seelen der Figuren deutlich wieder. Die eine geht ihren Weg in die Stadt, der andere wandert aus, aber im Herzen sind sie immer noch tief mit ihrer Heimat verbunden und verwurzelt.

Die ersten Mitglieder der Familie Brugger, die wir kennenlernen, sind Anton und seine Schwester Rosa. Sie fällt auf die Versprechungen einer Anwerberin herein und verdingt sich als Hausmädchen in Wien. Und hier kommt es wie es kommen sollte: sie wird schwanger, muss ihr Kind fortgeben, erfährt Ausbeutung und Misshandlung. Nach vielen Jahren kehrt sie auf den Bruggerhof zurück und übernimmt nach dem Tode ihrer Schwägerin die Betreuung der Kinder ihres Bruders.
Albert, der Sohn, der als Ältester die Mühle übernimmt, kehrt nach 12 Jahren im Dienste der k.u.k Marine in sein Heimatdorf zurück und erweist sich als guter Geschäftsmann. Er gründet ein schnell erfolgreiches Handelsgeschäft und etabliert die Familie durch den Warenhandel. Albert ist eine Rarität unter den Männern im Dorf: friedliebend, ausgleichend, aufgeschlossen und vielseitig interessiert.
In einzelnen, aber ineinander übergreifenden Episoden, erleben wir die Geschichten der Bruggers, sei es das Schicksal von Antons Frau Anna oder die Geschichte von Rosas Familienzweig, eingebunden in den historischen Kontext. Kraftvolle Bilder vermittelt Frau Taschler, man lebt mit den Protagonisten, man hat Figuren und Kulisse klar und deutlich vor Augen. Judith Taschler braucht keinen Kitsch, keine Verklärung; sie nutzt die Realität für ihre Erzählung, und die bietet genug Material und wird unsentimental beleuchtet.  Noch näher heran geht der Blick dann an die letzte Generation der Familie, den Kindern von Albert und Anna: Carl und Eugen, Zwillingsbrüder der dritten Generation, unzertrennlich in ihren jungen Jahren. Wir folgen Carl in die Schützengräben des 1. Weltkrieges, Eugen hingegen in sein unstetes Leben in den Vereinigten Staaten von Amerika. Im Jahr 1918 geschieht Unerwartetes…

Und dann ist da ja noch der Titel des Buches „Über Carl reden wir morgen“ – wird dieser Titel dem Buch gerecht? Ja, das wird er! Irgendwann reden wir endlich über Carl, und ich kann Ihnen nur sagen: machen Sie sich ruhig auf etwas gefasst!

Heike Kasten

 


wer ohne suende ist 150x237

 

Bertelsmann 22,00€

 

Asa Larsson: "Wer ohne Sünde ist"

Kiruna Schweden
Rebecka Martinsson ist zurück! In Nordschweden herrscht Kälte, und die Staatsanwältin fühlt sie nicht nur äußerlich. Längst schon will sie ihren Arbeitsplatz aufgeben und zurück nach Stockholm ziehen. Ihre gescheiterte Beziehung trägt auch nicht wirklich dazu bei, dass sie sich besser fühlt. Im Gegenteil! Während Krister, der Hundestaffelführer, von ihren Launen genervt aufgab, hat Mons, der smarte Jurist, ihr nie verziehen, dass sie ihn betrogen hat. Wie passend, dass ein neuer (alter) Fall auf ihrem Tisch landet: Vor vielen Jahren verschwand Börje Ströms Vater. Weder wurde seine Leiche je gefunden, noch fand die Polizei heraus, was damals geschah. Nun liegt die sehr alte und obendrein extrem kalte Leiche, da tiefgefroren, vom Vater des Ex-Boxchampions Björn in der Gerichtsmedizin und wirft jede Menge Fragen auf.

Parallel versucht die altgediente Krankenschwester Ragnhild Pekkari ihrem Leben ein Ende zu setzen. Wieso ihr das nicht gelingt, und welche Überraschung das Leben noch für sie bereit hält, ist ein weiterer Erzählstrang in diesem 6. Thriller um Rebecka Martinsson. Lange mussten wir Fans darauf warten.
Allerdings befürchte ich, die Autorin wird sich zukünftig anderen Themen widmen. Ich bin seit " Sonnensturm" mehr als angetan von ihren Thrillern!

Andrea Westerkamp

 


schreib oder stirb 150x237

 

Droemer HC 19,99€

 

Sebastian Fitzek/Micky Beisenherz: "Schreib oder stirb"

Wenn zwei Schnacker, zwei, die weiß Gott nicht auf den Mund gefallen sind, zwei Sprücheklopfer, zwei Alphatiere beschließen, gemeinsam einen Thriller zu schreiben, dann kann im Grunde genommen nichts anderes rauskommen als dieser hier: „Schreib oder stirb“. Ich muss offen zugeben, dass mich die ersten Seiten, auf denen ein Spruch den nächsten ablöst, eine Spur genervt haben. So ein bisschen konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass unsere zwei Autoren hier im Wettstreit standen. Aber dann, dann wird das Buch, wird der Plot richtig, richtig gut. Sehr unterhaltsam, das zieht sich durch das gesamte Werk, nichtsdestotrotz mit einer Story, die einen nicht aus ihren Fingern lässt.

„Tut mir leid, dass ich Sie töten muss“ – mit diesem Satz startet der Krimi nicht eben einfühlsam. Aber das ist wohl das, was man so zur Begrüßung sagt, wenn man zufällig in einem schlachthausähnlichen Gemäuer auf einen Unbekannten trifft, der nackt und gefesselt in der Badewanne zittert. Ein sanftes Heranführen an die Geschichte entfällt mit diesem Prolog, diesem Alptraumszenario. Doch dann lernen wir David Dolla kennen, einen erfolgreichen und eloquenten Literaturagenten. Dolla wacht eines Morgens auf und liest seinen Namen in der Presse. Natürlich nicht zum ersten Male, doch dieses Mal wird er von einem vermeintlich geständigen Kindesentführer aufgefordert, zu ihm in die Psychiatrie zu kommen, er wird geradezu dorthin bestellt. Carl Vorlau will, dass Dolla einen Buchdeal über eine Million Vorschuss aushandelt – für einen meta-fiktionalen Roman über einen Literaturagenten, der einen Roman über einen Kindesentführer schreibt. David Dolla soll umgehend mit dem Schreiben anfangen, es gibt bereits eine Deadline. Nimmt er an, wird er zum Helden und rettet ein kleines Mädchen; lehnt er ab, stirbt die kleine Pia in einem Bunker im brandenburgischen Nirgendwo.
Was David Dolla zunächst für einen schlechten Scherz hält, entpuppt sich als grauenvolle Realität. Als seine Verlobte brutal angegriffen wird, muss er handeln. Seine Recherchen führen ihn immer tiefer in den Dschungel irrwitziger Verstrickungen und höchst krimineller Machenschaften. Und je langsamer er mit seinen Ermittlungen vorankommt desto schneller und lauter tickt die Uhr: das Leben der kleinen Pia, und nicht nur ihres, ist in akuter Gefahr! Die scheinbar psychischen Auswüchse eines Verrückten entpuppen sich als reale Bedrohung. Dollas Lösungswege versickern im Nichts. Ihm bleibt keine andere Wahl, als zu versuchen, sich in die Gedankengänge von Carl Vorlau einzuspüren. Zum Glück kann auf seine loyale Sekretärin und seinen erfolgreichsten Klienten, ein ehemaliges Clan-Mitglied, zählen, die ihn beherzt und eher unkonventionell unterstützen. Mehr als einmal ist er dicht davor, die Nerven zu verlieren, die ob des Zeitdrucks ohnehin blankliegen, muss er doch auch noch erkennen, dass seine Verlobte nicht die zu sein scheint, die er zu kennen meint.

Sebastian Fitzek und Micky Beisenherz legen mit diesem tatsächlich humorvollen Thriller ein neuartiges Konzept, eine gewagte Kooperation und ein spannendes und unterhaltsames Ergebnis vor – lassen Sie sich überzeugen!

Heike Kasten

 

 

Unsere Buchempfehlungen im April


almas sommer 150x237

 

Kindler Verlag 20,00€

 

Lenz Koppelstätter: "Almas Sommer"

Dreimal Sommerfrische in Südtirol, dreimal Alma Mahler-Werfel und Gustav Mahler in Toblach, das präsentiert uns Lenz Koppelstätter in „Almas Sommer“. Und wenn Sie mit Sommerfrische vielleicht so etwas wie Erholung und Entspannung verbinden, kann ich nur sagen: Dass war zumindest Alma und Gustav nicht vergönnt. Als Leserin ist man sehr froh, dass man nur von außen zugucken darf – ein Vergnügen – aber nicht Teil dieser Sommerurlaube in den Jahren 1908 - 1910 sein muss.

Von beiden Protagonisten ist bekannt, dass sie keine einfachen Charaktere waren: Alma galt als eine der schönsten Frauen Wiens, hatte jede Menge Verehrer (und später auch Ehemänner), was sie offensichtlich für völlig angemessen hielt. Zudem war sie musikalisch extrem begabt, musste aber vor der Eheschließung mit Mahler versprechen, dass sie ihre Tätigkeit als Komponistin einstellen würde.
Gustav Mahler wiederum war der gefeierte Komponist und Dirigent, hatte über Europa hinaus auch die „neue Welt“, sprich New York, erobert und ist sich seiner Bedeutung absolut bewusst. Aber weiß man diese Bedeutung auch in Toblach zu schätzen und zu würdigen? Weit gefehlt, niemand nimmt Rücksicht auf die Sensibilität und Feinnervigkeit des Komponisten. Die Bauern singen während der Arbeit auf dem nahegelegenen Feld, das Postauto fährt am Haus vorbei durchs Dorf – so kann man nicht arbeiten.
Alma selbst ist vorwiegend langweilig, sie sehnt sich nach der anregenden Gesellschaft der Wiener Kaffeehäuser. Wie gut, dass wenigstens Walter Gropius ab und zu in der Nähe ist, mit dem sie eine Affaire beginnt. Dumm nur, dass Gropius einen Brief an Alma mit Gustavs Adresse versieht: Die Liaison fliegt auf und führt zu einer großen Krise.

Koppelstätter gelingt mit seinem Roman ein wirkliches Lesevergnügen. Gut recherchiert, kompetent und mit feiner Ironie portraitiert der Autor dieses außergewöhnliche Paar. Der Roman bietet Unterhaltung, lotet aber auch die Tragik der Persönlichkeiten und ihrer Beziehung zueinander aus. Ein schöner Kontrapunkt zu Robert Seethalers Roman „Der letzte Satz“.

Astrid Henning

 


nebenan 150x237

 

Luchterhand 22,00€

 

Kristine Bilkau: "Nebenan"

Eine Kleinstadt, eine Autostunde nördlich von Hamburg entfernt. Ein Ort im Niedergang, idyllisch am Kanal gelegen, aber doch vom Wegzug der Menschen bedroht. In diesem Szenario stellt uns die Autorin Bilkau in ihrem zweiten Roman einige Frauenschicksale vor.

Julia ist eine von ihnen. Mit Ende dreißig sind Chris und sie erst vor kurzen in das Efeuhaus gezogen, weg aus einem trendigen, wirrigen Stadtteil Hamburgs. Chris forscht als Umweltbiologe und ist erfüllt von seiner sinnvollen Arbeit. Julia eröffnete einen kleinen Töpferladen, doch am liebsten ist es ihr, wenn sie ihre Produktion nur verschicken kann und möglichst wenig Kundenkontakt haben muss. Scheusein war nicht immer eine Eigenschaft von ihr, aber seit der Wunsch ein Kind zu bekommen, immer mehr Raum einnimmt und später zur fixen Idee wird, meidet Julia Menschen, insbesondere junge Familien. Trotz intensiver, teurer medizinischer Behandlung, gelingt es Julia nicht schwanger zu werden. Eine schwere seelische Belastung und nicht einfach für eine Beziehung.
Astrid hat seit über dreißig Jahren eine Hausarztpraxis im Zentrum des Ortes. Eigentlich würde sie gerne demnächst verkaufen und mit ihrem Mann Andreas den Ruhestand genießen. Doch die Nachfolge erweist sich als Problem. Wer will schon in eine Kleinstadt, die ihre beste Zeit hinter sich hat? Seit einiger Zeit bekommt Astrid merkwürdige Beschwerdebriefe, die sie als schlechte Medizinerin bezeichnen. Wer steckt dahinter? Ein enttäuschter Patient? Muss sie sich Sorgen machen? Klar ist, dass sie die Situation als belastend empfindet. Hinzu kommt, dass ihre Tante Elsa, die sie an Mutter statt aufgezogen hat, physisch und auch im Geiste deutlich abzubauen scheint. Alles in allem ändert sich in Astrids Leben gerade einiges nicht zum Guten und sie versucht, ihre Mitte zurückzuerlangen.
Und dann gibt es noch Elsa, die ihr Ende gelassen nahen sieht, aber vorher noch ein Geständnis ablegen muss...

Die Frauenschicksale in diesem gefühlvollen Roman sind zart miteinander verknüpft. Freundschaft, Nähe, ein Achtgeben auf den anderen, aber auch ein Auseinandersetzen mit verschütteten Sehnsüchten, die an die Oberfläche drängen, diese Themen werden in dem Roman, in dem eigentlich gar nicht so viel passiert, fesselnd behandelt. Ich war tief drin in den Geschichten der so unterschiedlichen Frauen und das hat mir sehr gefallen.

Annette Matthaei

 


meine kleine welt familiengeschichten 150x237

 

Ars Vivendi 20,00€

 

Ewald Arenz: "Meine kleine Welt"

Den Schriftsteller Ewald Arenz kennen viele von Ihnen von seinen Romanen „Alte Sorten“ und „Der große Sommer“. Mit Begeisterung habe ich diese beiden Bücher gelesen, fasziniert von Arenz Sprachgewandheit und seiner Liebe zum Detail.
Nun ist ein neues Buch von ihm im fränkischen ArsVivendi-Verlag erschienen. Nein, neu ist es eigentlich nicht - es ist eine Sammlung von Kolumnen, die Arenz zwischen 2007 und 2009 für die Nürnberger Nachrichten geschrieben hat.

Arenz Alter Ego Heinrich berichtet in diesen Texten von kleinen Episoden aus dem Familienalltag mit seinen Kindern Theo, Philly und Otto, seiner Frau Juliane und der immer präsenten Hauskatze. Humorvoll, politisch manchmal nicht ganz korrekt, immer herzlich, herrlich skurril und unpädagogisch beschreibt Arenz Situationen, die jedem von uns auf die eine oder andere Art bekannt vorkommen werden. Er erzählt von den kleinen Missgeschicken und Desastern des Alltags so pointiert und witzig, dass man nicht umhinkommt, manchmal laut zu lachen: So landet er mit seinem jüngsten Sohn in einem Striptease-Lokal auf der Reeperbahn, beschreibt die Lebensgefahr, die an Samstagen auf Baumarktparkplätzen lauert, und versucht mehr oder weniger verzweifelt im Familienchaos nicht völlig unterzugehen. Arenz versteht es wirklich, mit einem Schmunzeln auf dem Gesicht von den kleinen und größeren Katastrophen des Alltags zu erzählen. Fest steht die ganze Zeit, dass alle Beteiligten lieben und geliebt werden und die Familie letztlich das ist, was trägt, auch wenn es manches Mal nicht ganz einfach ist!

Am Anfang war ich zugegebenermaßen etwas skeptisch, doch das Buch erwies sich für mich und meine Kinder als unerwartetes (Vor-)Lesevergnügen! Gemeinsam ist allen Büchern Ewald Arenz‘, dass die Quelle seines Tuns und Schreibens die Familie ist. Ein wunderbares Buch, um in diesen grauen Zeiten wieder einmal herzlich zu lachen!

Sabine Christ

 


die wut die bleibt 150x237

 

Rowohlt Hundert Augen 22,00€

 

Mareike Fallwickl: "Die Wut, die bleibt"

Selten hab ich ein Buch gelesen, das mit einem solchen Paukenschlag beginnt: Eine scheinbar harmlose Abendbrot-Szene in einer Familie, Johannes und Helene, die Eltern, dazu drei Kinder im Alter von anderthalb bis 14 Jahren. Johannes fragt/sagt „Haben wir kein Salz?“ und Helene steht auf, geht auf den Balkon und springt runter.

Nach dieser Eröffnung muss man erstmal tief durchatmen, aber dafür bleibt gar nicht so viel Zeit, denn Fallwickl richtet ihren Blick sofort auf zwei Personen: Zum einen auf Lola, die 14-jährige Tochter, in der vor allem ein Gefühl vorherrscht und das ist Wut. Natürlich ist sie auch traurig und fühlt sich verlassen, das spüren wir als Leser, aber in Lola selbst tobt – die Wut, ein heller Zorn.
Die andere zentrale Protagonistin ist Sarah, seit Kindertagen die beste Freundin von Helene, ca. Ende 30, selbst kinderlos, aber nicht unbedingt ohne Kinderwunsch. Ihre Gefühlswelt ist im Moment ganz schön komplex: Da ist die Traurigkeit, so viel hat sie mit Helene zusammen erlebt und so viel hatten sie noch vor. Aber auch bei ihr macht sich eine Wut breit, jetzt ohne Helene dazustehen – und natürlich macht sie sich Vorwürfe und fragt sich: „Was um Himmels Willen hab ich hier nicht mitbekommen?!“
Helene fehlt aber nicht nur als Mutter und Freundin, sie fehlt auch in ihrer Funktion als „Versorgerin und Kümmerin“. Der Roman spielt während des Lockdowns, eine Zeit, die Frauen nochmal ganz besonders viel abverlangt hat: Homeschooling, Haushalt, oft waren sie es, die im Beruf erstmal kürzer getreten sind – weil der Verdienstausfall meist nicht so groß war wie bei Männern. Womit wir schon bei den Strukturen sind. Jedenfalls ist es erstmal Sarah, die diese Lücke füllt und ganz direkt spürt, was es bedeutet, einen anderthalbjährigen und einen 5-jährigen Sohn zu versorgen und eine 14-jährige pubertierende Tochter ins Erwachsen werden zu begleiten. Große Frage: Wo bleibt Johannes, der Vater??

Mareike Fallwickl findet ganz außergewöhnliche Worte für die komplexen Gefühle ihrer Romanfiguren, das Buch macht aber auch nochmal sehr deutlich, welche Rolle Frauen in unserer Gesellschaft bis heute ausfüllen. Ein Buch, das mich über die Lektüre hinaus nachhaltig beschäftigt und über das man unbedingt mit anderen LeserInnen sprechen möchte.

Astrid Henning

 


der markisenmann 150x237

 

Heyne 22,00€

 

Jan Weiler: "Der Markisenmann"

Der Anblick des neuenBuches von Jan Weiler erweckt wohl bei jedem, der die Zeit mitgemacht hat, schrille Assoziationen an die 70er Jahre. Dieses abgrundtief hässliche Design war einzigartig für die wilden Jahre und ist heutzutage beinahe wieder Kult - der Hammer.

Die 15jährige Kim staunt nicht schlecht, als sie ihrem leiblichen Vater Ronald Papen das erste Mal in ihrem Leben gegenüber steht. Der „Unscharfe“, wie Kim ihren bis dato nicht existenten Vater nennt, haust in einer alten Fabrikhalle, Industriegebiet von Duisburg, direkt am Rhein-Herne-Kanal, gemeinsam mit unzähligen Rollen Markisenstoff in rotorangebraun (Mumbai), wahlweise blaugrün(Amsterdam). Es ist unfassbar, dieser schmächtige Kerl scheint völlig durchgeknallt. Ein Markisenvertreter, das geht gar nicht. Und bei diesem Typen soll sie die Sommerferien verbringen…
Kim wuchs bisher mit ihrer Mutter Susanne, dem lieblosen Stiefvater Heiko und dem sechs Jahre jüngeren Halbbruder Geoffrey im Luxusneureichtum in Köln auf. Nun hat sie es richtig verbockt. Aus einer pubertären Laune heraus und weil sie es satt hatte, in dieser Familie immer die ungesehene, nicht gewollte Tochter zu sein, verursacht sie eine Katastrophe bei der ihr Bruder beinahe ums Leben kommt.Jetzt also nicht Sommerurlaub in Miami mit der Familie, sondern Abschiebehaft bei diesem schrägen Vogel, der nichts mehr liebt als in seiner alten Schrottkarre zu sitzen und sich alte DDR Schlager auf die Ohren zu geben.
Kim macht es ihrem Vater nicht leicht, der unbekannten Tochter näher zu kommen, obwohl er sich doch so rührend bemüht. Im Laufe der Zeit entwickelt sich zwischen den beiden jedoch ein zartes Band der Verbundenheit. Die pfiffige Kim begleitet den wohl erfolglosesten Vertreter aller Zeiten auf seinen Touren durch den Pott und entwirft schnell eine Verkaufsstrategie, die die Geschäfte von Papen durch die Decke gehen lassen. Das wird ein unvergesslicher Sommer.

Jan Weiler hat es einfach drauf, skurrile Typen zu beschreiben. Seien es die harten Jungs, die sich täglich in Rosi‘s Pilstreff versammeln, den Schrott sammelnden Jungen Alik, aber eine besondere Liebe gilt den Loosern, hier der bescheidene, sanftmütige Papen und nicht zuletzt die Erzählerin. Tiefgang bekommt der Roman durch die Fragen nach Schuld, Vergangenheit und Wurzeln. Ein wirklich großartiges Buch!

Annette Matthaei

 


nachts im kanzleramt 150x237

 

Droemer Verlag 20,00€

 

Marietta Slomka: "Nachts im Kanzleramt"

Diese Autorin muss man nun wahrlich nicht vorstellen, Marietta Slomka ist als Moderatorin des „heute journals“ bestens bekannt.

Der Journalistin ist mit ihrem neuen Buch etwas wirklich Außergewöhnliches gelungen: Wer liest schon gern und freiwillig ein Buch über das Funktionieren von Politik, das auch Bereiche wie Wirtschaft und Recht nicht außer Acht lässt? Das klingt trocken und anstrengend. All dies ist aber „Nachts im Kanzleramt“ überhaupt nicht, im Gegenteil. Unterhaltsam und kompetent bietet Slomka einen Überblick über die Grundlagen unserer Demokratie: Wie funktionieren bei uns Wahlen, wie die Parteien, was passiert vielleicht auch hinter den Kulissen – wir erinnern uns an die Kür so manches Kanzlerkandidaten.
Dann geht es schon ein paar Etagen höher: Was macht eigentlich eine Ministerin und ist es dann wirklich sie, die inhaltlichen Linien des Hauses bestimmt? Oder sind das doch eher die StaatssekretärInnen? Und schließlich der Kanzler/die Kanzlerin: Wie sieht so ein Tag im Kanzleramt ganz konkret aus?
Aber Politik wird heutzutage nicht nur von Berlin aus gemacht, die EU ist ein ganz wichtiger Punkt bei vielen Entscheidungen, auch hier gibt Slomka einen guten, kompakten Einblick. Natürlich bleibt auch der Bereich der Medien nicht ausgespart, auch das ein wirklich interessantes Kapitel in diesem Buch.

Nicht unerwähnt bleiben sollen hier die kleinen Cartoons von Mario Lars, die in den Text eingestreut sind und ihn so nochmal pointiert unterstreichen. Insgesamt ist „Nachts im Kanzleramt“ ein Buch, dass wirklich viele unterschiedliche LeserInnen finden kann: Lesealter ab ca. 15/16 Jahren (toll zur Konfirmation!), aber auch für Erwachsenen hochinteressant.

Astrid Henning

 


rosenkohl und tote bete 150x237

 

Knaur Verlag 12,99€

 

Mona Nikolay: "Rosenkohl und die tote Bete"

Ach ja, so ein Schrebergarten, das könnte wirklich was Schönes sein. Ein Platz im Grünen, ein bisschen gärtnern, ein bisschen grillen – auf jeden Fall jede Menge Entspannung.
Genau das, wovon Caro von Ribbeck träumt, und jetzt ist es endlich so weit: Sie hat tatsächlich ein kleines Gärtchen ergattert und freut sich auf schöne Zeiten mit ihrem Mann Eike und Tochter Greta. Viel Ahnung vom Gärtnern hat sie zwar nicht, dafür umso mehr von Instagram etc., aber das wird schon.

Doch gleich am ersten Tag, Caros Mann Eike greift tatkräftig zum Spaten, um ein Beet umzugraben, macht man eine unschöne Entdeckung: Neben Regenwürmern und kleinen Käfern befindet sich eine veritable Leiche im Beet – das ist, oder vielmehr war: Kalle, Vorbesitzer des Schrebergartens. Damit hatte man ja nun wirklich nicht gerechnet, weder Familie von Ribbeck, noch der Nachbar nebendran, die zweite Hauptfigur in diesem amüsanten Krimi, nämlich Manne Nowak, Vorsitzender des Kleingartenvereins „Harmonie“. Manne ist Ex-Polizist und: Ex-Freund von Kalle, denn in letzter Zeit hatten die beiden sich eigentlich nur noch gestritten, weshalb auch bald Mannes alte Kollegen von der Polizei vor der Gartenpforte stehen und ihn des Mordes verdächtigen.
Was soll ich sagen: Hier schlägt ein neues Ermittler-Duo in der Berliner Krimi-Szene auf, denn Caro ist tatendurstig und kann doch ihren neuen Nachbarn Manne nicht im Regen stehen lassen. Wie wär’s mit der Gründung einer Detektei, „Nowak und Partner“? Manne ist zunächst skeptisch, Caro trinkt Kaffee mit Hafermilch, redet viel und trägt rot-weiß gepunktete Gummistiefel, aber eine Verbündete kann er tatsächlich gut gebrauchen.

Mona Nikolay hat einen erfrischenden „cosy crime“ geschrieben, der sich auf der Gartenliege leicht und flüssig wegliest, nachdem man hoffentlich ohne unangenehme Entdeckungen die Gartenarbeit erledigt hat.

Astrid Henning

 


alles spricht 150x237

 

Verlag Antje Kunstmann 22,00€

 

Nicolò Targhetta: "Alles spricht"

Sprechen Sie manchmal mit Ihren Topfpflanzen? Ganz bestimmt, jeder tut das ab und zu und angeblich soll es ja auch irgendwie helfen oder etwas bewirken; der Pflanze oder Ihnen, man weiß es nicht genau. Wenn Sie allerdings mit Ihrem Zahnputzbecher, Ihrem Mixer oder Ihrem Kerzenständer kommunizieren, sollten Sie sich doch Gedanken machen oder vielleicht auch nicht; möglicherweise ist auch das ganz normal. Wenn Ihnen die genannten Gegenstände dann jedoch beginnen zu antworten, dann ... geht es Ihnen wie der weiblichen Hauptperson im Roman „Alles spricht“ des italienischen Autors Nicolò Targhetta. Er ist Mitte dreißig und schreibt eigentlich Kurzgeschichten auf Facebook, mit denen er in Italien sehr bekannt geworden zu sein scheint.

In seinem Roman erzählt dieser (junge) Mann über die existentielle Lebenskrise einer Frau als wäre es seine eigene. Das hat mich sehr fasziniert. Eine Frau, ebenfalls vermutlich in den Dreißigern, wird von ihrem Freund verlassen, mit dem sie fünf Jahre zusammen war. Alles in ihrem Leben scheint innerhalb kurzer Zeit auseinander zu brechen, alles geht kaputt, wird zerlegt: Freund weg, Job weg, Ausweglosigkeit. Die kleinen blauen Pillen, die Erleichterung versprechen, winken aus der Dose im Badezimmerschrank. In ihrer Verzweiflung und Einsamkeit, in ihrem Zorn und ihrer Enttäuschung gefangen, versucht die Frau, Antworten, Wege und Lösungen zu finden, aber eben auch ihre Selbstzweifel und ihre Wut irgendwie loszuwerden. Das tut sie, indem sie mit Dingen spricht, bevorzugt mit ihrem geduldigen, alten, abgenutzten Sofa, aber auch mit der besserwisserischen Zimmerpflanze ihrer Therapeutin oder ihrem Aschenbecher. Und - oh Wunder - die Sachen antworten, erteilen Ratschläge, ernüchtern oder helfen, so gut es ihnen eben möglich ist.

Zu verrückt denken Sie jetzt? Zu deprimierend oder merkwürdig? Nein, Targhettas Buch ist weder das eine noch das andere. Es ist fein und nachdenklich, manchmal traurig, dann wieder zum Brüllen lustig. Der Autor jongliert mit den Worten, und das tut er wirklich meisterhaft. Mir jedenfalls ist es am Ende überhaupt nicht mehr seltsam vorgekommen, dass „alles spricht“ - und das Sofa habe ich nach der Lektüre wirklich vermisst!

Sabine Christ

 

 

Unsere Buchempfehlungen im März


die botschaft der riesenkalmare 150x237

 

S. Fischer 20,00€

 

Fabio Genovesi: "Die Botschaft der Riesenkalmare"

Manchmal gibt es diesen magischen Moment: Man beginnt ein neues Buch und schon nach ein paar Seiten ist man gefangen, ist man „drin“ – quasi schockverliebt. So ging es mir mit der „Botschaft der Riesenkalmare“, ein Buch wie ein Geschenk, überraschend, erstaunlich und vor allem ein Quell von Geschichten - was es nicht einfach macht, davon zu erzählen.

Fabio Genovesi macht uns mit unglaublichen Geschöpfen bekannt:  den Riesenkalmaren. Noch immer wissen wir nicht allzu viel über diese Tiere, die bis zu 18 Metern lang werden können, mit 10 Armen und Augen von bis zu 40 cm Durchmesser. Schon im 18. und 19. Jahrhundert gab es Berichte - vor allem von Seeleuten – die von Begegnungen mit diesen Tieren berichtet haben, aber geglaubt hat man ihnen nicht, „Seemannsgarn“, „zu tief ins Glas geschaut“, ganz klar. Genovesis Buch ist aber noch viel mehr, denn er erzählt auch von den Menschen, die sich der Erforschung der Riesenkalmare gewidmet haben. Und das waren wirklich ganz besondere Kaliber, leidenschaftlich und ein klein wenig verrückt. Auch wird klar, wie wenig wir Menschen von manchen Bereichen der Natur kennen, insbesondere vom Meer. Genovesi beschreibt es ganz treffend: Wenn wir einen Tag am Strand gewesen sind, sagen wir: „Ich hab heute das Meer gesehen“. In Wirklichkeit ist es aber so, als würden wir zum Zirkus gehen, einmal um das Zelt herumlaufen und sagen: „Ich habe heute den Zirkus gesehen“. Es bleibt also noch viel zu entdecken.

Was das Buch so ganz besonders macht, ist Genovesis Ton: charmant, leichtfüßig, voller Liebe zur Natur und geradezu mitreißend. Dass dann auch noch seine Großmutter eine spezielle Rolle spielt, eine echte italienische „Nonna“, sei hier nur kurz erwähnt. Dieses Buch hat alles, was es braucht, um uns zu begeistern, uns erneut klar zu machen, von welch magischen Welten wir umgeben sind und ich kann Sie nur ermutigen, sich auf eine Liebesbeziehung mit diesem Buch einzulassen.

Astrid Henning

 


der hypnotiseur 150x237

 

Galiani Verlag 20,00€

 

Jakob Hein: "Der Hypnotiseur"

Anfang der 80er Jahre in einem kleinen Dorf im Odertal, ehemalige DDR: Hier ist Micha gestrandet, nachdem er aus politischen Gründen aus dem Psychologie-Studium geschmissen wurde. Seine Ansichten zum Marxismus-Leninismus passten nicht so recht zu dem, was die offizielle Ansicht war – und das war’s dann mit der Psychologie.
Micha zieht ins Dorf und auch ins Haus seiner Großmutter Gerda, um in Ruhe zu überlegen, wie es beruflich mit ihm weitergehen soll. Außer Kraniche und neugierige Nachbarn gibt’s da nicht so viel, ist aber nicht weiter schlimm für Micha.

Nach dem Tod seiner Großmutter kommt er auf eine geniale Idee: Im Rahmen seiner zwei Jahre Studium hat er durchaus intensiver das Thema Hypnose gestreift und bietet nun „Hypnose-Reisen“ an – in Gedanken kann man in fernste Länder entschwinden. Offiziell natürlich politisch total korrekt in die sozialistischen Bruderstaaten, oder noch weiter, nach Nordkorea gar. Aber wohin wollen die Leute? Na klar, nach Paris, London, New York usw. Gleich seine erste Klientin Anika hat einen „Paris-Fimmel“ und ist so begeistert von ihrer Gedankenreise, dass sie den Hof gar nicht mehr verlassen will. Mit viel Energie und Geschäftssinn hilft sie Micha auf die Sprünge und professionalisiert das Unternehmen. Bald herrscht reges Treiben in dem Dorf, ein buntes Völkchen ist es, das sich da versammelt und teilweise auf dem Hof häuslich niederlässt, was natürlich den Argwohn der Stasi weckt. Zum anderen kann man etwas sehr Interessantes feststellen: Viele Menschen haben ja so ihre Traum-Urlaubsziele im Kopf, die Karibik meinetwegen. Doch kaum setzt man das Ganze dann in die Realität um, verträgt man das Essen nicht, man bekommt gemeine Insektenstiche und der Strand ist auch nicht so leer wie in der Phantasie.

Jakob Hein hat seinem Roman ein Zitat von Schopenhauer vorangestellt: „Im Reich der Wirklichkeit ist man nie so glücklich wie im Reich der Gedanken.“ Dem Autor ist ein schöner, sehr feiner Roman gelungen, ein Vergnügen, durchaus, aber eben auch ein unbedingtes Plädoyer für die Gedankenfreiheit.

Astrid Henning

 


was wir glueck nennen 150x237

 

 Aufbau TB 12,00€

 

Jan Steinbach. "Was wir Glück nennen"

Lüneburg im Jahre 1961.
Der Restaurator Heinrich Hansen hat den Auftrag bekommen, die Decke der Ratsstube des Lüneburger Rathauses zu restaurieren. Unterkunft wird dem Witwer und seinen drei Kindern im Gesindehaus des Stadtdirektors Doktor Priggen und dessen Familie gewährt.

Wolfgang, der Älteste und designierter Betriebserbe, interessiert sich wenig für Kunst und Handwerk. Sein Herz schlägt für Rock‘n Roll und Beatmusik. Ein großer Gitarrist will er werden und träumt von einer Karriere auf den Bühnen der Clubs in St.Pauli und einem echten Hit. Sehr zum Verdruss des strengen Vaters, der sich die Flausen seines Sohnes kategorisch verbietet.
Im Gegensatz zu Wolfgang hat Monika, seine wenig jüngere Schwester, offenbar das Talent für die Handwerkskunst von Ihrem Vater geerbt und brennt für die alten Meister der Renaissance. Sie kann sich gar nicht sattsehen an den Kulturgütern, die das Lüneburger Rathaus zu bieten hat. Besonders hat es ihr das Gemälde „Das Bildnis des gerechten Richters“ von Daniel Frese angetan. Stundenlang kann sie sich in der Betrachtung dieses von dunklem Firnis bedeckten, dringend renovierungsbedürftigen Meisterwerkes verlieren.
Doch in den 60er Jahren gehörte eine Frau nicht in eine Werkstatt, sondern an den Herd, zumal wenn die Hausfrau und Mutter fehlt. Das bekommt auch Monika zu spüren. Schwer kämpft sie gegen ihren Vater und die Gesellschaft, um sich ihren verdienten Platz in einer männerdominierten Welt zu erarbeiten.

Die Rahmenhandlung spielt in der Jetztzeit. Die junge Restauratorin Jordis hat einen Auftrag im Ratshaus übernommen. Hier bekommt sie Besuch von ihrem Großonkel Wolfgang, einem berühmten Schlagerproduzenten, der sich - wo auch sonst - in einer Suite in Hotel Bergström, Hauptschauplatz der „Roten Rosen“, einmietet. Gemeinsam decken sie mehrere Jahrzehnte zurückliegende Familiengeheimnisse auf.

Dieser Roman ist leichte, leichte Kost und hat mir doch auf charmante Weise ein Wochenende mit wirklichem Lesevergnügen beschert. Jan Steinbach war Stipendiat im Heinrich-Heine Haus und hat in dieser Zeit Lüneburg kennen und lieben gelernt. Das spürt man aus jeder Zeile. Und klar ist, am nächsten freien Termin steht für mich eine Führung durch unser wunderschönen Rathaus auf dem Programm!

Annette Matthaei

 


die kinder sind koenige 150x237

 

Dumont 23,00€

 

Delphine De Vigan: "Die Kinder sind Könige"

Mélanie leidet seit der Kindheit unter ihrer Unscheinbarkeit. Als junges Mädchen bewirbt sie sich für die Teilnahme an einer Reality Show, ein französisches Pendant zu „Big brother“. Bereits in der Vorrunde fliegt sie achtkantig raus. Ein tiefsitzendes Trauma. Mittlerweile hat sie ihr größtes Ziel doch erreicht, sie ist berühmt.

Mit ihrem Mann Bruno und den beiden Kindern Sammy und Kimmy lebt sie in einer eleganten Wohnsiedlung in einer guten Gegend von Paris. Ihr Vermögen hat sie mit einem Youtube Kanal gemacht, in dem sie regelmäßig Videos und Clips von ihren Kindern postet. Mehr als 2 Millionen Klicks kommen da schon mal auf einen Beitrag zusammen. Die Kinder nehmen ihre Rollen als Stars wie dressierte Äffchen an. Natürlich sind Spielzeugfirmen, Süßigkeitenhersteller, die Kinderbekleidungsbranche auf die Familie Claux aufmerksam geworden. Sie werden mit Produkten, die dann in den Filmchen platziert werden, überhäuft, zahlen horrende Summen für die Bewerbung ihrer Produkte.
Die Familie wirkt zunächst nach außen wie eine glückliche Einheit. Eines Abends jedoch verschwindet die sechsjährige Kimmy beim Versteckspiel aus der Siedlung, ein Drama! Von der großangelegten Suchaktion und der Polizeiarbeit berichtet uns Clara, eine aufstrebende Polizistin mit hervorragendem analytischen Verstand. Kann es sein, dass das Kind eine Sehnsucht nach einem normalen Leben als unbekanntes Mädchen hat? Dass es in ihr anders aussieht, als die Mutter zu glauben scheint?

Delphine de Vigan macht klar, in was für einer verrückten, konsumorientierten Welt wir leben und dass Kinder dringend geschützt werden müssen, vor Eltern, die ihre Bedürfnisse skrupellos über die ihrer Schutzbefohlenen stellen. Großartig auch ist die Gegensätzlichkeit der beiden Protagonistinnen herausgearbeitet. Die oberflächliche, nach Aufmerksamkeit gierende Mélanie steht im krassen Gegensatz zu der Einsamkeit liebenden, reflektierten Clara.
Alles in allem wieder ein phantastischer Roman mit kriminalistischen Zügen einer meiner Lieblingsautorinnen.

Annette Matthaei

 


die sieben maenner der evelyn hugo 150x237

 

Ullstein TB-Verlag 10,99€

 

Taylor Jenkins Reid: "Die sieben Männer der Evelyn Hugo"

Dieses Buch geht auf den sozialen Medien komplett durch die Decke: überall ist sie zu sehen, die atemberaubend schöne Frau in dem grünen Kleid. Oft sind es aber gerade diese Bücher, die etwas enttäuschen. Bei so vielen begeisterten Stimmen und so vielen eifrigen Leser*innen, sind die Erwartungen am Ende einfach zu hoch. Anders jedoch bei diesem Buch, das so anders war als ich es eigentlich erwartet hatte.

Evelyn Hugo ist eine Legende des goldenen Zeitalters von Hollywood. Sie ist eine Ikone in Sachen Stilsicherheit, Lifestyle und Schauspielerei. Ihre Performances sind berüchtigt, wurden gefeiert und getadelt zugleich – kurz, sie war ihrer Zeit eindeutig voraus. Mittlerweile geht die kamerascheue Kubanerin auf die 80 zu und ist bereit auszupacken. Sie möchte erzählen wie ihre Karriere ihren Anfang fand, was wirklich hinter ihren erinnerungswürdigsten Auftritten steckte und wie es dazu kam, dass sie in ihrem Leben mit gleich sieben Männern verheiratet war.
Das alles soll die etwas zurückhaltende Monique in einem Interview aufdecken. Sie selbst steckt mitten in einer Scheidung, in ihrem Beruf kommt sie nicht so voran, wie sie es verdienen würde, fühlt sich in allen Bereichen unterschätzt. Da kommen ihr die Lektionen und Lebensweisheiten von Evelyn Hugo gerade recht. Doch als Evelyns Geschichte der ihren schmerzlich nahekommt, muss sie sich unweigerlich fragen, wie sehr die Wahrheit sie verletzen könnte, oder ob die Wahrheit ihr die Freiheit schenkt.

Taylor Jenkins Reid hat ambivalente Charaktere geschaffen, die nicht ganz durchschaubar und doch so verwirrend liebenswert sind. Mit jedem Ehemann lernen wir Evelyn Hugo ein kleines bisschen besser kennen und wissen doch letztlich noch gar nichts über sie: ein spannendes Leseerlebnis, das sich Seite um Seite entfaltet, um schrittweise tiefer unter die Haut zu gehen. Sehr angenehm zu lesen, nicht allzu düster und schwermütig, aber dennoch überhaupt nicht flach.
Netflix hat gerade die Produktion eines Films angekündigt und ich persönlich kann es kaum erwarten noch mehr Zeit im Glanze von Evelyn Hugo und ihrer größten Liebe zu verbringen.

Mattes Daugardt

 


pizza girl 150x237

 

Kampa Verlag 22,00€

 

Jean Kyoung Frazier: "Pizza Girl"

Jane lebt in einem Vorort von Los Angeles. Tagsüber arbeitet sie für einen Pizza-Lieferanten, abends kehrt die 18jährige müde und erschöpft zu ihrer Mutter und ihrem Freund Billy nach Hause zurück. Seit sie schwanger ist, lassen die beiden sie kaum noch einen Finger rühren. Das geht Jane bald schon gewaltig auf die Nerven, schließlich ist sie nicht krank. Offenbar haben die zukünftige Großmutter und der werdende Vater viel mehr Interesse an ihrem wachsenden Bauch, als Jane selbst....

Alles ändert sich an dem Tag, an dem eine Kundin Salamipizza mit Gürkchen für ihren Sohn bestellt. Als Jane mit der Lieferung vor der fremden Frau steht, gerät ihr ohnehin schon kompliziertes Leben in absolute Schieflage...

Stellen Sie sich vor, Sie hätten den ganzen Tag schon Heißhunger auf eine köstliche Pizza. Endlich steht sie dampfend vor Ihnen und Sie stecken den ersten Bissen in den Mund... Eine absolute Gaumenfreude! Tauschen Sie nun das Wort "Gaumen" gegen "Lese" aus, und Sie wissen, was Sie in diesem Buch erwartet! Frisch, frech, köstlich!

Andrea Westerkamp

 


gesichter 150x237

 

Aufbau Verlag 20,00€

 

Tove Ditlevsen: "Gesichter"

Tove Ditlevsen hat in der Kopenhagen-Trilogie ihr eigenes Leben autofiktional verarbeitet und erfahrbar gemacht. Wir begleiteten die fiktionale Tove durch ihre Kindheit in einem dänischen Arbeiterviertel der 1920er Jahre, wuchsen gemeinsam mit ihr durch die Jahre der Freiheitssuche in ihrer turbulenten Jugend und litten kollektiv, als sie der Abhängigkeit von Rauschmitteln und der Abhängigkeit von anderen Menschen verfiel.  Ein Werk, das in dessen Sprachgewalt begeistert hat. Umso toller ist es, dass nun eine weitere Geschichte aus der Feder dieser großen Autorin post mortem als Neuübersetzung im Aufbau Verlag erschienen ist.

In „Gesichter“ befinden wir uns in den späten 60er Jahren von Kopenhagen. Lise Mundus ist Ehefrau, Mutter und Autorin: gesellschaftliche Normen bestimmen die Hierarchie dieser Rollen. Zuerst ist sie Ehefrau, doch ihr Mann geht ihr fremd. An zweiter Stelle ist sie Mutter, doch ihre Kinder (und ihr Mann) wenden sich lieber dem hübschen und klugen Kindermädchen zu. Aber zuletzt ist sie auch noch Autorin und das, entgegen der gesellschaftlichen Vorstellungskraft, mit Leib und Seele. Daher ist es bei all ihren Problemen gerade die Angst vor der Inspirations-losigkeit, die auf so besondere Weise an ihr nagt. Die Angst vor Redundanz und künstlerischer Unbedeutsamkeit.
So beginnt in ihr ein Prozess, in der sich ihre Wahrnehmung zusehends verschiebt und der Unterschied zwischen Realität, Fiktion und schierem Wahnsinn immer weiter verschwimmt.

Lise nimmt uns mit, tief in das Wirrsal ihrer Bewusstseinsstörung. Als Leser*innen sind wir ihrer Erfahrung unglaublich nah und doch können wir sie als Menschen schwer fassen: ein sprachliches Spiel der Spannung zwischen Distanzlosigkeit und empathischer Reserviertheit, das Tove Ditlevsen betreibt.
Ähnlich wie in „Abhängigkeit“, schafft die Autorin es, die Schwächen des Geistes auszuloten und die Folgen gesellschaftlichen Ungleichgewichts in literarischer Form mitreißend und auf singuläre Weise zu kommentieren. Auch hier wird Tove Ditlevsens schreiberisches Schaffen durch eigene Erfahrungswerte gestützt, was ihre Umschreibung   der Psychose einer schreibenden Frau so entsetzlich eindrücklich macht.

Mattes Daugardt

 


die rote jaegerin 150x237

 

Goldmann TB 10,00€

 

Juan Gómez-Jurado: "Die rote Jägerin"

Bilbao
Welch eine Schmach! Inspector Jon Gutiérrez hat hoch gepokert und alles verloren. Die Idee war im Prinzip nicht schlecht: um einer, von ihrem Zuhälter misshandelten Prostituierten zu helfen, schmuggelte er heimlich Koks in das Auto ihre Peinigers. Anschließend wollte Jon ihn wegen unerlaubten Drogenbesitzes verhaften lassen. Schade nur, dass der Inspector bei seiner Aktion gefilmt wurde...
Nun sitzt Jon in seinem Zimmer in der Wohnung seiner Mutter (die Witze über "Langzeitsöhne" kennt er alle!) und leckt seine Wunden.

Madrid
Ein ominöser Anrufer hat Jon veranlasst, umgehend nach Madrid zu fahren. "Mentor", so nennt sich der Fremde, gibt Jon eine allerletzte Chance: wenn es ihm gelingen sollte, die überaus eigenwillige und extrem menschenscheue Spitzenagentin Antonia Scott davon zu überzeugen, dass sie endlich wieder undercover ermittelt, dann hat er nicht nur einen neuen Job an ihrer Seite, sondern kann auch auf Weiterzahlung seiner Bezüge hoffen.
Das beinahe Unmögliche gelingt! Und beinahe sofort werden die neuen Partner zu einem Tatort gerufen. Ein Toter sitzt recht blass, da nahezu blutleer, auf dem elterlichen Sofa. Der Sohn einer der finanzkräftigsten Frauen Spaniens wurde ermordet, offenbar ohne Spuren zu hinterlassen. Nur wenige Momente scheinen Antonia zu genügen, um eine verblüffend logische und absolut intelligente erste Mutmaßung anzustellen. Keine Frage, diese Frau ist ein "Brain"!

Dieses neue Ermittlerduo besticht durch seine offensichtlichen Unterschiede, und das meine ich nicht nur äußerlich. Voller Esprit und Humor beschreibt uns der spanische Autor diese beiden Ausnahmeerscheinungen. Jon: ewiger Sohn, schwul bis in die stets frisierten Haarspitzen, rund (aber nicht dick, darauf legt er Wert), in feinsten Zwirn gehüllt, ein munterer Plauderer und Menschenfreund, normal intelligent.  Antonia: hager, unnahbar, trauernd, Mutter ohne Kind (lebt beim Großvater), Ehefrau ohne Mann (liegt im Koma), wortkarg, egozentrisch, tablettensüchtig und GENIAL. Ich möchte mehr davon!!!

Andrea Westerkamp

 

 

Unsere Buchempfehlungen im Februar

 


alles was wir nicht erinnern 150x237

 

C.H. Beck Verlag 22,00€

 

Christiane Hoffmann: "Alles, was wir nicht erinnern."

Was für ein außergewöhnlicher Weg, sich der eigenen Familiengeschichte zu nähern: Christiane Hoffmann wandert im Januar 2020 auf den Spuren ihres Vaters – 550 km von Schlesien bis nach Wedel bei Hamburg.

Im Alter von x Jahren muss die Familie ihres Vaters aus Rosenthal, heute Rózyna, in Niederschlesien aufbrechen, „der Russe“ steht kurz vorm Dorf, innerhalb von ein paar Stunden wird das Nötigste zusammengerafft und am Nachmittag des 22. Januar 1945 macht sich ein Treck des Dorfes auf den Weg. Zunächst meint man, man müsse nur ein paar Ortschaften weiterziehen, um dort das Ende des Kriegs abzuwarten, aber tatsächlich werden die Rosenthaler ihren Ort erst Jahrzehnte später, wenn überhaupt, wiedersehen.
Und wie so viele aus der nachfolgenden Generation erhält Hoffmann nur sehr eingeschränkt Informationen zu dieser Familiengeschichte, auf Geburtstagen, auf Familienfesten: „Oben seufzen die Erwachsenen, essen Schnittchen und reden über die verlorene Heimat“ - und unterm Tisch lauschen die Kinder und verknoten die Schnürsenkel der Erwachsenen.

Hoffmann findet eine ausgezeichnete und angemessene Balance in der Schilderung der beiden Gruppen: Hier die deutschen Fliehenden und ihre Trauer über den Verlust, materiell und natürlich auch seelisch, und dort die Neuankömmlinge, ihrerseits nicht unbedingt freiwillig aus der Ukraine und Litauen kommend. Und dazwischen, im Januar 2020, eine Deutsche, die wandernd den Beschädigungen – auch hier physisch und psychisch - der Elterngeneration nachspürt.
Entstanden ist so eine eindrucksvolle Reportage, klug und nachdenklich, die uns nochmal verdeutlicht, dass sich schmerzhafte Ereignisse oftmals über Generationen vererben, zumal wenn diese nur zwischen den Zeilen thematisiert werden.

Astrid Henning

 


die gezeiten gehoeren uns 150x237

 

Hanser Berlin 22,00€

 

Vendela Vida: "Die Gezeiten gehören uns"

1984/85 in Sea Crest, San Francisco.
Wenn Eulabee „wir“ sagt, dann meint sie manchmal auch ihre Freundinnen Julia und Faith, aber immer sich und Maria Fabiola. Den beiden gehören die Straßen ihrer Nachbarschaft, sie kennen jeden Winkel; sie kennen Ebbe und Flut so gut, dass sie zwischen Wellen und Ufern wandern. Die beiden Freundinnen sind unzertrennlich. Sie sind 13 Jahre alt, fast 14, und gehen gemeinsam auf eine reine Mädchenschule in San Francisco. Ihre Körper verändern sich, besonders Maria Fabiola wird mit jedem Tag immer schöner und Jungs werden plötzlich immer interessanter. Vor allem aber verändern sich die Dynamiken in der Freundesgruppe, Streiche laufen aus dem Ruder, Loyalitäten verschieben sich und Identitäten werden ausgekundschaftet.
Als die Clique auf der Straße angesprochen wird, geht es für die Freunde bergab: Eulabee ist sich sicher, dass der Mann lediglich nach der Uhrzeit gefragt hat – die anderen meinen aber, dass er sich währenddessen „da unten“ berührt hat und je öfter sie davon erzählen, desto mehr Einzelheiten werden der Geschichte hinzugefügt. Als die Polizei Eulabee befragt, bleibt sie bei ihrer Version der Geschichte, weshalb die Polizei nicht ermittelt, und das Mädchen wird der Gruppe prompt verwiesen. Nun muss sich Eulabee selbst beschäftigen und wird sich den Widersprüchlichkeiten der Erwachsenenwelt nur allzu bewusst. Als Maria Fabiola dann verschwindet, fängt Eulabee an alles zu hinterfragen...

Vandela Vida hat ein tolles Buch über das Mädchen- und Frausein, aber vor allem über das Frauwerden geschrieben. Ganz nebenbei kommentiert sie noch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Tech Booms in San Francisco.
Ich habe mit schweißnassen Händen gelesen, denn Eulabee ist so ungelenk, wie nur eine Teenagerin es sein kann. Die Situationen, in die sie gelangt in dem Maße unangenehm, wie sie es nur in der Pubertät sein können. Wer vergessen hat, wie sich das anfühlt – das Nicht-Verstehen und doch probieren zu wollen, das Ausloten und Erwachsenspielen, der sollte dieses Buch lesen. Es ist manchmal schwierig Eulabees Entscheidungen nachzuempfinden, doch nicht schwierig mit ihr mitzufühlen, denn was ist Pubertät, wenn nicht verwirrend.
Gleichzeitig porträtiert Vida den Druck, dem Frauen, vor allem aber junge Mädchen, ausgesetzt sind. Mit zunehmender Reife immer sexualisierter wahrgenommen zu werden, verunsichert Eulabee in gleichem Maße wie es sie bestärkt; sie zieht daraus Macht, nimmt sich selbst manchmal als Gefahr wahr, besonders der Blicke der Männer wegen. So wird sie auch zum Opfer dieser Anschauung, kann nicht anders als sich den Ambivalenzen der Jugend zu fügen.

Mattes Daugardt

 


mauersegler 150x237

 

Rowohlt 10,00€

 

Valerie Jakob: "Mauersegler"

Eintauchen in einen Schmöker, zusammen mit Juliane, Marianne und Roseanne, das können Sie in Valerie Jakobs „Mauersegler“:

Die Geschichte beginnt in der Gegenwart in Berlin, Juliane hat ihren ungeliebten Job als Lehrerin aufgegeben, um zu ihrem Freund nach Berlin zu ziehen und weiß noch nicht so richtig, wie es beruflich für sie weitergehen soll. Im Moment hält sie ihrem Freund den Rücken frei, der gerade dabei ist sich selbständig zu machen. Dumm nur, dass er ihr nach ein paar Wochen gesteht, eine andere Frau kennengelernt zu haben…
In dieser Situation meldet sich Johann, um die 80, ein Cousin von Julianes Mutter, zu dem es lange nur sehr wenig Kontakt gab, weil er in Greifswald wohnt – Ex-DDR also. Johann macht sich Gedanken darüber, wer nach seinem Tod sein Haus erbt, sich um den schönen Garten kümmert und dies Alles mit Leben füllt. Juliane nutzt ihre freie Zeit zu einem Besuch bei Johann und erfährt dort so einiges von ihren Vorfahren, insbesondere von Marianne, Johanns Mutter.

In den 20ern erwachsen geworden, war Marianne ein Freigeist, eine Entdeckerin und Abenteuerin: Sie genießt das Leben in vollen Zügen, lernt erst Auto fahren und lässt sich schließlich sogar gemeinsam mit ihrer Freundin Roseanne zur Pilotin ausbilden. Die beiden Frauen übernehmen Transportflüge in den Senegal, wo Roseannes Bruder eine Handelsvertretung aufgebaut hat. Doch mit dem Aufstieg der Nazis ändert sich auch das Frauenbild in Deutschland, eine berufstätige Frau und auch noch Mutter ist nicht akzeptabel, außerdem entwickelt sich Mariannes Ehemann zum Tyrannen und schließlich bleibt nur ein Weg, aus diesem Gefängnis zu entkommen…
Juliane taucht immer tiefer in das Leben ihrer Großtante ein und reist schließlich sogar auf deren Spuren in den Senegal, wo sie eine überraschende Entdeckung macht.

Marianne und Roseanne hat es in der Realität nicht gegeben, aber ihre Geschichte ist inspiriert von so mutigen Frauen wie Elly Beinhorn und Amelia Earheart, Pionierinnen der weiblichen Fliegerei. Dieser Roman bietet wirklich fesselnde und besondere Unterhaltung, in einer sehr passender Balance zwischen Gegenwart und Zeitgeschichte.

Astrid Henning

 


Lost du darfst dich nicht erinnern 150x237

 

Goldmann TB 11,00€

 

Leona Deakin: "Lost - Du darfst dich nicht erinnern"

Nach MIND GAMES der 2. Fall für die Londoner Privatermittler Augusta Bloom, Kriminalpsychologin, Profilerin und Marcus Jamerson, Exagent des MI6.

Die Stimmung zwischen den beiden könnte nicht schlechter sein. Noch immer hängt der letzte Fall wie eine dunkle Wolke über ihnen... Marcus nimmt übel! Währenddessen passieren tragische Dinge in Plymouth auf der Militärbasis. Was als pompöser Militärball beginnt, endet abrupt mit der Detonation einer Bombe. Niemand scheint den Selbstmordattentäter wahrgenommen zu haben...
Unter den Opfern befindet sich auch Captain Harry Peterson. Seine Freundin Karene, die unverletzt blieb, beugt sich über den am Boden liegenden Ohnmächtigen und stellt erleichtert fest, dass er äußerlich unversehrt scheint. So lässt sich Karene bereitwillig als Ersthelferin für die einsetzen, die nicht so viel Glück hatten. Stunden später legt sich das Chaos etwas. Alle Verwundeten wurden in umliegende Krankenhäuser gebracht, und die Toten abtransportiert. Karene wünscht sich nur noch, möglichst schnell an Harrys Krankenbett zu kommen. Das wiederum gestaltet sich als schwierig, beziehungsweise als unmöglich. Harry liegt in keinem der umliegenden Hospitäler! Niemand kann etwas über seinen Verbleib sagen, die Situation wirkt geradezu absurd. In ihrer Verzweiflung wendet sich Karene an ihre Freundin Augusta...

Als sie Harry schließlich in einer weit entfernt liegenden Klinik finden,liegt er mit schwersten äußeren und inneren Kopfverletzungen ins künstliche Koma versetzt auf der Intensivstation. Karene ist überzeugt, dass ihm das nachträglich zugefügt wurde. Als der Captain aus dem Koma erwacht, fehlt ihm die Erinnerung an die letzten vier Jahre...
Wer hatte ein Interesse daran, sein Gedächtnis  zu manipulieren. Was geschah bei seinen Einsätzen in Kriegsgebieten? Augusta Bloom muss den "Hausfrieden"  wieder herstellen, denn sie braucht dringend Marcus Geheimdienstverbindungen. Schade nur, dass sie denTeufel mit dem Belzebub austreiben will....

Andrea Westerkamp

 


dschinns 150x237

 

Hanser 24,00€

 

Fatna Aydemir. " Dschinns"

Ende der neunziger Jahre hat Hüseyin es endlich geschafft. Nach Jahrzehnten der Plackerei an deutschen Fließbändern, erst Metall, dann Kartonage, erfüllt er sich den Wunsch mit seiner Frau Emine in die Türkei zurückzugehen. Fast durchströmt ihn ein Glücksgefühl, als er die nagelneue, abbezahlte Wohnung in Istanbul durchschreitet. Morgen soll der Familie das harterarbeitete Eigentum vorgeführt werden.
Doch dieser Traum wird sich nicht erfüllen. Ein massiver Herzinfarkt setzt Hüseyins Leben ein jähes Ende. Die Witwe und die vier Kinder reisen nun am nächsten Tag nicht zur Besichtigung, sondern zur Beerdigung an. Schock und Verzweiflung beherrscht sie alle.

Die Autorin Aydemir widmet jedem Mitglied der Sippe ein eigenes Kapitel. Ein jeder beleuchtet aus seiner Sicht die Probleme, die von den Eltern vorgegeben, strikt unter dem Mantel der Verschwiegenheit gehalten werden. Sprichwörtlich unter den Teppich gekehrt, wird jede Wahrheit und Meinungsverschiedenheit abgewehrt.
Den Anfang macht Ümit, der jüngste Sohn. Er fühlt sich allein, sexuell verunsichert, nicht wissend, wie er mit der Veranlagung zur Homosexualität umgehen darf. In seinem Zuhause findet er keine Vertrauensbasis und kein Gehör, sodass er schweigt und sich zurückzieht.
Sevda, die Älteste, leidet unter fehlender Mutterliebe. Sie schlägt sich, ohne Schulbildung genossen zu haben, mit zwei Kindern allein durch. Ein harter Kampf, der Spuren hinterlassen hat. Von den Eltern verraten, als sie deren Hilfe so dringend gebraucht hätte, hat sie das dringende Bedürfnis mit der Mutter abzurechen.
Peri ist die Emanzipierteste von allen. Sie studiert und hat sich am besten aus den Fängen ihrer Kultur und Eltern befreien können, erlitt aber einen schweren Verlust in ihrer frühen Jugend. Der Tod ist ihr Thema und dessen Bearbeitung versackt in Trauer und Wut.
Hakan, der älteste Sohn, leidet unter den Erwartungen, die seine Eltern als Thronfolger an ihn stellen und die er nicht ansatzweise erfüllen kann. Er erfüllt das Klischee des türkischen Mackers, getuntes Auto, Machismus und Unnahbarkeit. Sein eigentlich weiches Herz versteckt er hinter unangenehmer Coolness und Härte.
Den Schlussakkord setzt die Ehefrau Emine und nach deren schockierender Beichte kann man ahnen, warum die Schicksale dieser so unterschiedlichen Menschen jene Verläufe genommen haben, die in Isolation und Unglück führen.

Dieser großartige Familienroman mit Migrationsproblematik wird in diesem Frühjahr mit Sicherheit eine hohe, wohlverdiente Aufmerksamkeit im Literaturbetrieb erhalten.
Ein wichtiges, packendes Buch!!!

Annette Matthaei

 

 

danowski hausbruch 150x237

 

Rowohlt 16,00€

 

Till Raether: "Danowski: Hausbruch"

Der Hamburger Hauptkommissar Adam Danowski hat es wahrlich nicht leicht. Nachdem ihn ein Geiselnehmer in seiner Gewalt hatte, leidet er nachvollziehbarerweise unter posttraumatischen Belastungsstörungen und befindet sich aus diesem Grunde in einer Reha-Klinik an der Ostsee (man hat die Anstalt direkt vor Augen). Kur oder Therapie war die Frage, Danowski war auf keine dieser Varianten erpicht. Aber es gab nun mal kein Entkommen – er ist dienstunfähig geschrieben. Und so verbringt er jetzt seine Tage in Gruppensitzungen, bei Entspannungsübungen, Tanztherapie und Wassergymnastik, im Stuhlkreis mit mehr oder minder redseligen Leidensgenossen – alles schön mit Blick auf die See – er schließt seltsame Bekanntschaften und hockt ratlos in der Beschäftigungs-therapie vor einem Klumpen Ton.

Das alles ist, ehrlich gesagt, nur mit Ironie zu ertragen, Danowskis trockener Humor hilft nicht nur ihm. Vor allem eine Frau nervt ihn: Mareike Teschner. Sie hat genau die positive Glas-halbvoll-Art, die Danowski nicht ertragen kann. Erst als er bemerkt, dass Mareike von ihrem Mann misshandelt wird, beginnt er ihr zuzuhören.
Eines Abends klopft sie an seine Zimmertür und bittet ihn um Hilfe: Mareikes Mann liegt tot in ihrem Zimmer, ermordet… Danowski trifft eine ungewöhnliche und folgenschwere Entscheidung – exakt dort, wo dieser hypersensible Kommissar eigentlich wiederaufgebaut werden soll, begeht er vermutlich beruflichen Selbstmord.

Till Raether beweist einmal wieder, dass es keiner knallharten Action bedarf, um einen spannenden Krimi zu schreiben. Die geschützte Umgebung einer Kurklinik reicht deutlich aus, um in die Abgründe der menschlichen Psyche zu schauen. Und so verschwindet in einer Nacht- und Nebelaktion, der Strandhafer wiegt sich sanft im Winde, der Eine und das Andere, Leichen werden beseitigt, Spuren verwischt – auf Nimmerwiedersehen. Wirklich? Auf Nimmerwiedersehen? Kommissar Adam Danowski ist ein Polizist bis auf die Knochen. Er ist knochenehrlich, er ist seinem Job verschrieben, im Grunde genommen ist das seine Berufung. Und auf der anderen Seite ist er so sensibel, so tiefsinnig, er macht sich so relevante tiefe Gedanken über Alles und Jeden, das rundet seine Persönlichkeit ab, das macht ihn authentisch, das macht ihn sympathisch, seine Zerrissenheit verbunden mit seinem Pflichtgefühl – ein hochinteressanter Mensch.

Nachsatz: Der Krimi heißt „Hausbruch“, und Hausbruch ist ein Stadtteil von Hamburg, und in diesem Stadtteil hat sich ein Ehepaar eine Immobilie zugelegt. Und das ist ganz schön wichtig in dieser Geschichte…

Heike Kasten

 


der fuersorgliche mrcave 150x237

 

Droemer 20,00€

 

Matt Haig: "Der fürsorgliche Mr. Cave"

Mr. Terence Cave ist Antiquitätenhändler in einer kleinen englischen Stadt. Er liebt es, in konzentrierter Versunkenheit, alte Möbel, Uhren, Figürchen zu reparieren und zu restaurieren. Sein Geschäft ist genauso, wie man sich einen solchen Laden vorstellt: ein Glöckchen bimmelt beim Öffnen der Türe, es duftet angenehm nach Staub und längst vergessenen Zeiten. Unterstützt wird Mr. Cave von seiner Schwiegermutter Cynthia, die ihm seit dem Tode seiner Frau, ihrer Tochter, immer wieder zu Hand geht.
Und eines Tages, Mr. Cave schaut angelegentlich zum Bürofenster hinaus, muss er den Tod seines Sohnes sozusagen live miterleben. Reuben hat, vermutlich im Zuge einer grausamen Mutprobe, eine Straßenlaterne erklommen, kann sich an den Streben nicht mehr halten, stürzt ab – und stirbt. Vor den Augen seiner Clique, und vor den Augen seines fassungslosen Vaters. Er hinterlässt seine knapp fünfzehnjährige Zwillingsschwester Byrony – vor allem hinterlässt er eine wahnsinnig große, nicht zu schließende Lücke.

Während Byrony irgendwie, so scheint es zumindest, ihr Leben weiterlebt, dreht sich bei Mr. Cave die Traumaspirale. Terence hat das Gefühl, dass alle seine Lieben um ihn herum sterben, und er gibt sich die Schuld daran. Wie in einem langen Brief oder einem Tagebuch schildert er sein Leiden und sein immer stärker werdendes Bedürfnis, seine Tochter zu beschützen: vor dem Großwerden, vor Jungs, vor Alkohol, vor Erfahrungen, vor schlechtem Umgang – eigentlich vor allem. Und was zunächst wirkt, als würde ein wahrlich fürsorglicher Vater eine Menge Verantwortung übernehmen, entpuppt sich schnell und dramatisch als Zwangshandlung, als Obsession. Beklemmend ist es mit anzusehen, wie Bryony mehr und mehr von ihrem Vater kontrolliert wird.
Es beginnt damit, dass er sie, als sei sie ein kleines Mädchen, zur Schule fährt und wieder abholt. Verabredungen mit gleichaltrigen Freundinnen versucht er zu verhindern. Er geht sogar so weit, in ihrem Zimmer das alte Babyphone zu installieren, um ihre Gespräche abzuhören. Ein jeder Junge, der seine Tochter auch nur ansieht, ist für ihn ein knallharter Rivale, den es auszuschalten gilt. Was mit einer guten und verständlichen Intention beginnt, nimmt wahnhafte Züge an, und selbst seine Schwiegermutter kann das drohende Unheil nicht mehr abwenden. Dass man Menschen nicht nur durch Tod verlieren kann, kommt dem verzweifelten Mr. Cave nicht in den Sinn.
Bryony, Teenager, trauernde Schwester und mittenmang in der Pubertät und ihrem weiblichen Erwachen, wird von ihrem Vater nicht als junge Frau wahrgenommen, die ihr eigenes Leben versuchen möchte zu leben. Bald wird sie, und das empfindet nicht nur sie so, quasi wie eine Gefangene gehalten. Es ist bedrückend, Mr. Caves Handlungen mitansehen zu müssen, dennoch: seine Gedanken, seine Nöte und Sorgen rühren auch ein Stück weit an. Doch mehr und mehr ruft dieses Gefängnis aus Verboten, unnützen Regeln und Überwachung auch ein Gefühl der Beklemmung hervor. Als Bryony sich nun mit einem Jungen trifft, der den tödlichen Unfall von Reuben mitangesehen hat, kennt Mr. Cave kein Halten mehr.

Die Geschichte ist sicherlich keine leichte Kost, doch Matt Haig schafft es über den ganzen Roman, die seelischen Nöte seiner Protagonisten auf der einen Seite klar zu formulieren, andererseits aber zart und einfühlsam, psychologisch fesselnd zu vermitteln.

Heike Kasten

 


erschuetterung 150x237

 

Hanser 23,00€

 

Percival Everett: "Erschütterung"

Als Paläontologe gilt Zach Wells nicht nur bei seinen Kollegen als komischer Kauz. Das ficht ihn nicht an. Im Gegenteil, er benimmt sich wie ein Nerd und gefällt sich in dieser Rolle. Gleichberechtigung? Selbst ein Afroamerikaner, denkt Zach nicht im Traum daran, sich dafür einzusetzen.
Seine Ehe mit Meg befindet sich in absoluter Schieflage, aber selbst dafür erwacht er nicht aus seiner Lethargie. Klug, humorvoll,aufmerksam, zugewandt und sehr liebevoll - so würde Sarah vermutlich ihren Vater beschreiben. Wenn das 13 j. Mädchen mit seinem Vater Schach spielt, dann ist Zach selig. Sie ist sein ganzer Stolz. Blitzgescheit und voller Lebensfreude stellt Sarah das Bindeglied zwischen ihren Eltern dar.
Als die beiden plötzlich merken, dass irgendetwas mit ihrer Tochter nicht stimmt, geraten sie in Panik....

Percifal Everett, Finalist des Pulitzer-Preises 2021, hat einen zutiefst aufwühlenden Familienroman geschrieben, der mich auch sprachlich, trotz der Dramatik, ungeheuer in den Bann zog.

Andrea Westerkamp

 

 

Unsere Buchempfehlungen im Januar

 


eine art familie 150x237

 

Penguin 22,00€

 

Jo Lendle: "Eine Art Familie"

Jo Lendle, seit acht Jahren Verleger beim renommierten Hanser Verlag, begibt sich von Zeit zu Zeit auf das Parkett der Autoren und das ist sehr gut so. Auch in seinem neuen Roman erweist er brillante Erzählkunst und führt uns anhand seiner eigenen Familie durch das letzte Jahrhundert.
Die Geschichte rankt sich um seinen Großonkel Ludwig Lendle, geboren 1899.

Doch beginnen wir mit Alma. Alma wird im Alter von 11 Jahren zur Vollwaisen, nachdem ihre Mutter einen Brief erhält, in dem sie erfährt, dass ihr Mann in den letzten Tagen des ersten Weltkrieges gefallen ist. Im Schock kommt diese unter die Räder einer Berliner Straßenbahn, ist sofort tot. Alma wächst im Waisenhaus und bei Diakonissen unter harten Verhältnissen auf, bis ihr nur 4 Jahre älterer Patenonkel Ludwig sie in seinen Haushalt holt.
Die junge Alma verliebt sich in ihren Paten, der ihre Zuneigung jedoch nicht erwidern kann. Träumt er doch noch immer von Gerhard, der in seinen Armen im Schützengraben verstarb. Was jedoch in ihrem gesamten weiteren Leben vorherrschend sein wird, ist eine tiefe Freundschaft und Verbundenheit der so unterschiedlichen Charaktere.
Alma lebenslustig und naiv, aber alles andere als dumm, weiß nach einiger Zeit, ihre Bedürfnisse auf unkonventionelle Art zu befriedigen. Als zugewandte Gesprächspartnerin für die zwei jungen Menschen erweist sich die mit den beiden lebende Haushälterin Frau Gerner. Diese Drei bilden eine eingespielte Menage à trois.
Ludwig ist ein in sich gekehrter Typ. Ein Schöngeist. Gequält durch seine nicht eingestandene Zuneigung zum männlichen Geschlecht. Mit seinem eher groben Bruder Wilhelm verbindet ihn die Liebe zu großen deutschen Künstlern, wie Bach und Hölderlin. In Zeiten der braunen Barbaren entzweien sich die beiden jedoch unwiderruflich. Wilhelm wird ein strammer Bewunderer der Nazis, Ludwig rettet sich in seinen Beruf. Als Professor der Pharmakologie forscht er über den Schlaf, dessen Sinn und wie man ihn herbeiführen kann. Das führt ihn zu Giften und letztendlich zu Narkotika, die er in Tier- und Selbstversuchen ausprobiert, besessen und sich selbst nicht verschonend. Die Entdeckung von Giftgas macht ihn für die Nazis zu einem interessanten Mann. Er kann mit diesem Konflikt kaum leben.

Alma sagt in einem nachdenklichen, dunklem Moment: „Was sind wir denn? Drei eigenartige Menschen, von Zufällen zusammengewürfelt, ohne rechte Verbindung und ohne Zukunft. Drei Lebensläufe von denen man nur eines lernen kann: wie man ausstirbt.“ Ludwigs Antwort: „Wir sind eine Art Familie.“ Diese Art von Familie dürfen wir durch die Kaiserzeit, den Nationalsozialismus bis hin zur frühen DDR begleiten und das ist ein tiefes Eintauchen in Zwischenmenschlichkeit, Schuld und Zeitgeschehen.
Ein wirklich bemerkenswerter und nachwirkender Roman.

Annette Matthaei

 


der sucher 150x237

 

Scherz Verlag 22,00€

 

Tana French: "Der Sucher"

Im neuen Roman von Tana French geht es um Cal, Polizist aus Chicago, der spürt, dass er mittlerweile die Leidenschaft und auch das Gespür für seinen Job verloren hat. Er ist ca. 50 Jahre alt und beschließt, seinem Leben eine ganz neue Wendung zu geben: Er kauft einen etwas runtergekommenen Kotten in einem kleinen irischen Dorf, sein Plan ist, das Haus so langsam für sich selbst herzurichten und ansonsten angeln zu gehen – sehr viel mehr bitte nicht.

Aber soviel Gespür hat er als Ex-Polizist eben dann doch noch: Cal spürt, dass  rgendjemand ständig um sein Grundstück herumschleicht… Das ist Tray, ein ca. 13 jähriger Teenager mit einem Problem: Tray erzählt, dass der älteste Sohn der Familie seit Wochen verschwunden ist und Tray schwört, nie im Leben wäre sein Bruder einfach so gegangen, ohne ihm eine Nachricht zu hinterlassen, völlig klar, dass da was passiert ist. Und Cal – ist doch schließlich ehemaliger Cop, der kann was rauskriegen.
Das ist ja nun überhaupt nicht das, was sich Cal gerade vorgestellt hatte, sein Plan lautete ja eher: Renovieren, Angeln und sich im Dorf integrieren… Aber Tray bleibt hartnäckig und es entwickelt sich eine ungewöhnliche, aber zunehmend intensivere Beziehung zwischen den beiden. Außerdem wird Cal recht schnell klar, dass irgendwas in diesem idyllischen, irischen Dorf nicht stimmt…

Ein toller, spannender Roman, sehr raffiniert, French ist wirklich eine echte Könnerin und bietet uns nach ca. einem Drittel einen Kniff, der – sehr vieles auf den Kopf stellt!

Astrid Henning

 


die hafenaerztin 150x237

 

Ullstein 14,99€

 

Henrike Engel: "Die Hafenärztin"

Hamburg, 1910. Trüb wabert der Dunst über die Hafenstadt zur Kaiserzeit.
Anne Fitzpatrick taucht mit großen Plänen aus den Nebeln auf, ihre Vergangenheit so schemenhaft und mysteriös wie die düsteren Umrisse der Auswandererstadt. Als aktives Mitglied in der Frauenrechtsbewegung und eine der ersten Ärztinnen Deutschlands, will sie ein weiteres Frauenhaus in Hamburg eröffnen und kann dabei jede Hilfe gebrauchen.
Helene ist Pastorentochter und will den familiären Erwartungen entkommen, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen – zum Wohl anderer. Die Frauen könnten von der gegenseitigen Unterstützung profitieren, wäre Helene bei der großen Eröffnung nicht über die Leichname zweier Frauen gestoßen.
Ermittler Berthold Rheydt ist sich sicher es mit einem erfahrenen Killer zu tun zu haben, der weiter morden wird. Beide Opfer hatten Kontakt zur Frauenbewegung: ist diese in Gefahr von dem Täter ausgebremst zu werden oder hat er es gar auf Helene oder Anne abgesehen? Und wieso kommt Anne die Vorgehensweise des Täters so bekannt vor?

Anne, Helene und Rheydt, sie alle haben ihre Geheimnisse und auf unterschiedliche Weise geliebte Menschen verloren. Sie befinden sich in der Rekalibrierungsphase ihres Lebens, auf Sinnsuche. Wir fiebern ihrem Lebensglück genauso hinterher, wie der Festnahme eines gefährlichen Serienmörders – ein guter Ausgangspunkt für den Auftakt dieser wundervollen Reihe.
Das Cover verspricht bereits ein wunderbares Schmökervergnügen und doch ist das Buch mehr als das: gut recherchiert, hält dieser Roman ebenfalls, neben einem packenden Kriminalfall, interessante Hintergründe zur (Frauen)geschichte Hamburgs bereit. Dennoch traut Henrike Engel es ihren Charakteren zu, über die Limitierungen ihrer Zeit hinauszublicken und stellt dabei relevante gesellschaftliche Fragen. Damit fängt sie den Zeitgeist des Aufbruchs ein und schafft ein rundes, kurzweiliges Lesevergnügen, bei dem die Seiten sich wie von selbst umzublättern scheinen. Zum Glück müssen wir nur noch wenige Monate auf Teil 2 warten!

Mattes Daugardt

 


wenn ich wiederkomme 150x237

 

Diogenes 22,00€

 

Marco Balzano: "Wenn ich wiederkomme"

Daniela lebt mit ihrer Familie in Rumänien, ihr Mann und sie haben zwei Kinder, Angelica und Manuel. Doch die Zeiten sind schlecht, das Geld knapp und ihr Mann Filip verdient immer weniger – bis er schließlich gar keinen Job mehr hat.
In dieser Situation entschließt sich Daniela, es wie viele andere Frauen aus Osteuropa zu machen: in den Westen zu gehen, nach Deutschland, Frankreich oder Italien, um dort als Altenpflegerin oder als Haushaltshilfe zu arbeiten. Eines morgens stiehlt sie sich ohne Abschied aus dem Haus – vielleicht meint sie, so sei es einfacher für alle - und steigt in einen Bus nach Mailand. Dort erwartet sie ein griesgrämiger, pflegebedürftiger alter Mann, sie bekommt eine kurze Einweisung vom Sohn und ist fortan allein verantwortlich für das Wohlergehen ihres Schützlings. Ohne Ausbildung, ohne Absicherung, ohne Vertrag.

Ihre Familie ist vor den Kopf gestoßen, und was von Daniela nur als vorübergehender Zustand geplant war, solange bis sich zu Hause was ändern würde, wird über Jahre andauern. Zwar schickt sie nun regelmäßig Geld nach Hause, bei sporadischen Besuchen bringt sie begehrte Westartikel mit – aber der Familie wird sie fremd, und insbesondere der sensible Manuel fühlt sich von seiner Mutter im Stich gelassen, da helfen auch keine Video-Telefonate. Manuel beginnt Schule zu schwänzen, zusammen mit einem Freund versucht er sich in Sachen Alkohol und Drogen – er steigt in einem solchen Zustand auf das Motorrad des Freundes und verunglückt schwer.
Erst dieses Unglück bewirkt, dass Daniela zurückkehrt und wochenlang am Krankenbett ihres Sohnes sitzt, der im Koma liegt. Sie spricht mit ihm, erzählt ihm von früher, aber auch von ihrer Arbeit in Italien. Es scheint, als wolle sie alles an Gesprächen nachholen, was sie in den Jahren zuvor versäumt hat.

Dieser eindringliche Roman ist aus drei Perspektiven erzählt: Im ersten Drittel kommt Manuel zu Wort, hautnah erfahren wir so, wie es sich für ein Kind, für einen Jugendlichen anfühlen kann, mit einer abwesenden Mutter aufzuwachsen. Dann der Unfall und die Rückkehr Danielas, jetzt erzählt sie selbst. Und schließlich, im letzten Teil, sehen wir durch die Augen Angelicas, Tochter und Schwester. Diese unterschiedlichen Sichtweisen machen das Buch umso reizvoller, ganz klar eine Geschichte, die einem im Gedächtnis bleibt.

Astrid Henning

 


maedchenmeuterei 150x237

 

Rowohlt 22,00€

 

Kirsten Fuchs: "Mädchenmeuterei"

„Wir sahen aus wie Dummgelaufen, Pechgehabt und Selberschuld. Schönescheiße war in der Nebenkabine eingesperrt.“ Ich sag’s Ihnen: Zum Piepen! Selten hat mich ein Buch auf intelligente und charmante Weise so grandios unterhalten.

Wir – das sind vier Teenager-Mädchen: die Ich-Erzählerin Charlotte Nowak, Einzelkind mit Hund aus der Mittelschicht, eher unscheinbar und schüchtern, dafür ziemlich clever und sehr fantasievoll; Yvette, eine extrovertierte, extravagante Erscheinung aus extrem reichem Elternhaus, die gerne stänkert; Freigunda, eine junge, verwildert und verroht wirkende Frau der wenigen Worte, aber handfesten Taten, hineingeboren in eine Großfamilie, die wortwörtlich wie im Mittelalter lebt; und Antonia, das etwas naive, schutzbedürftige Nesthäkchen, kindlicher Moralapostel der Gruppe und stets um Harmonie bemüht.
Diese Mädchen waren im Sommer gemeinsam mit einigen anderen aus einem Camp in Ostdeutschland abgehauen und hatten mehrere Wochen wild im Wald gelebt, während sie polizeilich gesucht und zu Medienstars wurden. (Wer Kirsten Fuchs‘ preisgekrönte „Mädchenmeute“ von 2016 noch nicht gelesen hat, möchte dies spätestens nach der Lektüre von „Mädchenmeuterei“ tun. Versprochen.) Nun ist es Herbst und sie kommen erneut zusammen. Grund hierfür ist das Verschwinden eines weiteren Mädchens der Meute: die sechzehnjährige Rabea Adler, genannt Bea, freiheitsliebend, rebellisches, toughes Auftreten, schwieriges Verhältnis zur Mutter, den Vater als Lkw-Fahrer kaum gesehen.
Charlotte, die beeindruckt und vielleicht auch etwas schwärmerisch zu Bea aufschaut und diese so gerne ihre Freundin nennen würde, erhält plötzlich kryptische Videobotschaften aufs Smartphone. Aus diesen schließt die plietsche Hobby-Detektivin, dass Bea in Gefahr schwebt und sich in Marokko aufzuhalten scheint. Eine turbulente Rettungsaktion wird gestartet. Mithilfe der sympathisch-trotteligen Journalistin Francesca (Oh, habe ich Tränen gelacht!) checkt die Mädchenmeute – halb legal, halb illegal – in Rotterdam auf einem Containerschiff namens Lexy Barker ein und nimmt uns mit auf eine moderne Abenteuerreise, an deren Ende es tatsächlich zu einer waschechten Meuterei kommt…

Kirsten Fuchs‘ Sprache ist messerscharf; jedes Wort, jeder Satz hat seine Bedeutung, ist präzise auf den Punkt gebracht. Ohne langweilige Ausschweifungen lässt die Autorin wissenswerte Fakten, beispielsweise zu den Themen Globalisierung, Containerschifffahrt und Tierschmuggel, einfließen, wird an so mancher Stelle philosophisch, wenn Charlotte teenagertypisch über die kleineren und größeren Fragen des Lebens sinniert, und unterhält (nicht nur junge Leser*innen!) mit sagenhaftem Wortwitz. Fast jeder Absatz hat mich zum Schmunzeln, zum Lachen und/ oder ins Grübeln gebracht.
Ein Buch, das lange nachklingt. Dass einige Aspekte tatsächlich nicht ganz glaubwürdig erscheinen, einige sogar völlig unrealistisch sind, tut der literarischen Qualität überhaupt keinen Abbruch. Lebt nicht jede gute Geschichte auch von der Fantasie ihrer Erfinderin bzw. ihres Erfinders? Davon scheint Kirsten Fuchs eine Menge zu haben. Und ihre sehr realistische Sozialkritik verknüpft sie damit nebenbei auf sehr geschickte Weise. Meine Empfehlung: Unbedingt lesen!

Nina Chaberny-Bleckwedel

 


meine schwester die serienmoerderin 150x237

 

Aufbau TB 10,00€

 

Oyinkan Braithwaite: "Meine Schwester, die Serienmörderin"

Als ihr Handy klingelt und der Name ihrer Schwester Ayoola auf dem Display steht, hat Korede ein ganz merkwürdiges Gefühl: bitte nicht schon wieder, denkt sie. Doch Menschen lassen sich nicht wirklich ändern – das gilt generell und ist besonders wahr im Fall von Serienmördern.
Leider auch im Fall von Serienmörderinnen und so muss Korede ihrer Pflicht als große Schwester eben nachgehen, lädt reichlich Plastikfolie und Bleichmittel ins Auto und macht sich auf den Weg zu der Wohnung von Ayoolas Freund. Nun ja… Ex-Freund.
Korede hat so fest daran geglaubt, dass es dieses Mal anders sein würde. Der ausgeblutete Liebhaber war so viel besonderer als die vorherigen Männer in Ayoolas Leben: kultiviert und feinfühlig, wortgewandt und romantisch veranlagt. Ayoola gibt ihr schnell zu verstehen, wirklich besonders ist kein Mann. Sie sind alle gleich. Obwohl die hübschen Gedichte des Ausgeflossenen Korede lange begleiten, ist Ayoolas gespielte Trauer bloß kurzfristig und schnell wirft sie sich wieder ungezügelt ins Dating Leben und in ihre Instagram Community.
Immerhin hat Korede ihre Arbeit im Krankenhaus als Rückzugsort. Dort dient ein komatöser Patient als Beichtvater und ein hübscher Doktor verdreht ihr gehörig den Kopf. Als Ayoola sie ungefragt zu einem Mittagessen einladen kommt, verliebt dieser sich jedoch in die jüngere aber so viel spektakulärer erscheinende Schwester. Natürlich will Korede den hübschen Mann vor einem Messer im Rücken bewahren, aber geht Familie nicht über alles?

Oyinnkan Braithwaite hat einen böse-witzigen Roman geschaffen, bei dem man nicht umhinkommt, düster zu gackern. Auf der einen Seite schlägt man sich bei Ayoolas „Schabernack“ die Hand vor die Stirn, aber auf der anderen Seite muss man sie auch wegen ihres praxisorientierten Aufbegehrens gegen das Patriarchat bewundern.
Ein gerissenhaft aufwühlender Text, der sich (trotz Erscheinen auf etlichen Preislisten) ganz locker weglesen lässt und in das nicht oft porträtierte Nigeria entführt. Endlich ist der Roman als Taschenbuch erschienen, denn Braithwaite eignet sich perfekt um einfach mal dem Alltag zu entfliehen.

Mattes Daugardt

 


stroemung 150x237

 

Aufbau Verlag 22,00€

 

Jakob Augstein: "Strömung"

Aus der Verbindung eines katholischen Zahnarztes aus Südtirol und einer anderthalb Jahre in der DDR inhaftierten Republikflüchtigen entsteht ein Junge namens Franz Xaver Misslinger. Der kleine Franz wächst in behüteten Verhältnissen an der Flensburger Förde auf. „Ich will in den Himmel springen!“, soll der kleine, pummelige Kerl  mit den großen Zielen schon früh ausgerufen haben.

„Meine Damen und Herren, ich bin Franz Xaver Misslinger und ich sage immer,  bei mir hört das Scheitern mit dem Namen auf!“ So beginnt Misslinger Jahre später so ziemlich jede Rede, die er auf Parteitagen oder vor großem Publikum hält; Lacher garantiert. Mittlerweile hat er Karriere bei einer liberalen Partei gemacht und ist von der Landesebene abgehoben, längst auf dem Berliner Parkett der Politik zu Hause. Nicht ganz unschuldig daran ist ein väterlicher Freund und Fürsprecher, die graue Eminenz der Partei. Der Preis für die schützende Hand: Misslinger muss zu jeder Tages- und Nachtzeit nach dessen Pfeife springen. Sehr zum Unmut seiner Frau Selma, die ihrem Ehemann vorwirft, seine Ideale verraten zu haben.
Die Ehe steht kurz vor dem Aus. Aus diesem Grunde und um seinen Kopf frei zu kriegen, begibt Misslinger sich mit seiner Teenitochter Luise kurz vor dem großen Parteitag, der über seine weitere Karriere entscheiden wird, auf eine kurze Reise nach New York. Die USA, sein gelobtes Land mit der einzig wahrenVerfassung, dem alles ermöglichenden Freiheitsbegriff und dem obersten Gebot, dass der Markt alles allein regelt. Man muss ihn sich nur entfalten lassen…. Doch sind diese Werte wirklich noch immer gültig, überhaupt möglich?

Jacob Augstein liegt das Schreiben in den Genen, „beide“ Väter haben sich im Gedruckten einen großen Namen gemacht. Dieses Debüt ist tatsächlich bemerkenswert. Geschliffen geschrieben, perfekt gezeichnete Figuren, interessante Thematik und erhellend in Bezug auf Denkweise, Moral und Charakter so manch eines Politikers auf höherer Ebene. Super!

Annette Matthaei

 


frau shibatas geniale idee 150x237

 

Atlantik Verlag 21,00€

 

Emi Yagi: "Frau Shibatas geniale Idee"

Kaffee kochen für Meetings an denen sie gar nicht teilnimmt, die Meetingräume in gutem Zustand halten, die Firmenpost verteilen und natürlich auch die Büroküche aufräumen und putzen – das sind die Aufgaben von Frau Shibata, der einzigen weiblichen Mitarbeiterin eines japanischen Großraumbüros. ZUSÄTZLICH zu ihrem eigentlichen Job, für den sie hochqualifiziert ist. Das reicht ihr jetzt aber gewaltig! „Tut mir leid, aber ich kann den Kaffee für Ihr heutiges Meeting nicht kochen“, sagt Frau Shibata. Warum das nicht? Na, weil sie schwanger ist, ganz einfach. Sie wissen schon, die Übelkeit im ersten Trimester und der starke Kaffeegeruch kombinieren sich gar nicht gut: so beginnt die Odysee einer Lüge.

In japanischer Manier werden wir in jede Kleinigkeit von Frau Shibatas Alltag eingeführt. Welche Sorte an Joghurt sie unheimlich gerne verspeist interessiert nicht wirklich, aber jedes Kapitel kündigt eine neue Schwangerschaftswoche an und je länger wir Frau Shibata auf ihrer Reise in die Mutterschaft begleiten, desto aufregender ist jede Veränderung, die sie an sich und ihrem geregelten Leben vornimmt. Wir beobachten, wie aus der fleißigen Arbeiterbiene ein selbstdenkender Mensch wird, der mit allen Konventionen bricht und der Schwarmintelligenz entkommt, ohne dabei in Erklärungsnot zu geraten.
Sehr elegant gemacht, wie Emi Yagi in ihrem vergnüglichen Text das Patriarchat mit dessen eigenen Instrumenten aushebelt. Eine sehr unzuverlässige Erzählerin zieht uns dabei immer mehr in ihren Bann und versetzt uns in laut loslachendes Staunen. Letztlich werden wir mit einem bösen Augenzwinkern entlassen – wunderbar ungewöhnliche und präzise Prosa.

Wer ausgefallene Spannungsbögen mit Witz und subtiler Klugheit mag, ist gut beraten sich in Frau Shibatas Netz aus Wahrheit und Lüge verstricken zu lassen.

Mattes Daugardt