Unsere Buchempfehlungen im August

 


marschlande 150x237

 

S. Fischer 24,00€

 

Jarka Kubsova: "Marschlande"

Ochsenwerder, südlich von Hamburg, um 1550: Abelke Bleken ist eine Bäuerin, die ihren Hof allein bewirtschaftet, unverheiratet und schon allein deswegen verdächtig. Eine tüchtige Frau, die mit Tatkraft und Verstand für sich und ihre Belegschaft sorgt und gute Erträge einfährt? Da stimmt was nicht. Und so beginnt Kubsovas Roman dann auch gleich mit Abelkes Ende 1583: Verurteilt zum Tod auf dem Scheiterhaufen wegen „Schadenszauberei“ und „Teufelsbuhlschaft“.

Im zweiten Handlungsstrang sind wir im Hamburg der Gegenwart und erleben den Klassiker schlechthin: Mutter, Vater, zwei Kinder…in Hamburg…die Wohnung zu eng und nichts Größeres zu bezahlen – da zieht man ins Umland, wo die Preise erschwinglicher sind. So sind also Britta und Philipp mit ihren beiden Kindern nach Ochsenwerder gezogen, vom quirligen Eimsbüttel mal so richtig auf‘s platte Land. Und während Philipp ganz in seiner Rolle als Hauptverdiener und jetzt Hausbesitzer aufgeht, leidet Britta, promovierte Biologin, darunter, dass sie nur noch einem eher anspruchslosen Halbtagsjob nachgehen kann und sich ansonsten um den Familienalltag kümmern muss. In der neuen Umgebung wird sie nicht recht heimisch, es gibt kaum Kontakt mit den Nachbarn, auf langen Spaziergängen durch die herbstliche, nieselige Landschaft blicken Britta nur feindselige Hausfassaden und akkurat gepflegte Vorgärten an. Da stößt sie bei einem ihrer Spaziergänge auf ein Straßenschild, das sie neugierig macht: „Abelke-Bleken-Ring“.  Sie beginnt zu recherchieren, gräbt sich immer tiefer ein in diese Geschichte, in der einer Frau zutiefst Unrecht widerfahren ist. Brittas Mann findet, seine Frau sollte sich mal lieber um die Pflege des Eigenheims kümmern und darum, dass sein Lieblingskäse zuverlässig im Kühlschrank zu finden ist – anstatt sich mit einer längst vergessenen Spökenkiekerin zu beschäftigen. Wir ahnen schon: Mit dieser Ehe steht es nicht zum Besten.

Kubsova erzählt in ihrem packenden Roman von zwei Frauen, deren Lebensumstände auf den ersten Blick nicht viel gemein haben, und doch spüren wir am Ende der Geschichte, dass damals wie heute viel Energie nötig ist, um als Frau seinen eigenen Weg zu gehen.

Astrid Henning

 


vom ende der nacht 150x237

 

hanserblau 22,00€

 

Claire Daverley: "Vom Ende der Nacht"

Dieses ist aus meiner Sicht der schönste und zarteste Liebes- und Lebensroman dieses Sommers. Es geht um die aufwühlende und zugleich zärtliche Erzählung über zwei Menschen, die nicht anders können, als sich immer und immer wieder, über Jahre, zu begegnen und einander anzuziehen. Ich denke, die beiden Protagonisten, Will und Rosie, gehören schon jetzt zu den unvergesslichen Liebespaaren – und ihre Geschichte wird Sie vom Schlafen abhalten.

Will und Rosie lernen sich in ihren Jugendjahren über Rosies Bruder kennen und könnten nicht unterschiedlicher sein: Will, der coole Rebell, lässig auf dem Motorrad cruisend und sein verdammt gutes Aussehen nutzend, die hingerissenen Mädchen abzuschleppen – Familenverhältnisse eher schwierig - Rosie, sie kommt aus sog. gutem Hause, ist recht hübsch, aber eher unauffällig, strebsam, den Familienregeln und der anspruchsvollen Mutter gehorchend, diese beiden nun kommen bei einem abendlichen Lagerfeuer ins Gespräch, treffen sich fortan immer häufiger und verlieben sich Hals über Kopf ineinander. Neben all der Romantik, neben all dem Herzklopfen, dem atemlosen Warten aufeinander, spürt man eine tiefe, nahezu symbiotische Verbindung und ist hingerissen von dieser wunderbaren jungen Liebe. Bis etwas dermaßen Furchtbares, so unerwartet Grauenvolles und Unvorstellbares geschieht, dass ihre Welt, vor allem ihren gemeinsamen Kosmos, schlicht zerbrechen lässt. Gleichermaßen belastet, aber unterschiedlich mit ihrer Trauer umgehend, treffen sich die Wege von Will und Rosie. Wie erwartet, studiert Rosie und findet sich im wissenschaftlichen Umfeld wieder. Will hingegen bleibt in seiner Heimat, strauchelt, steht wieder auf, beginnt eine Ausbildung, bricht sie wieder ab, ist unstet – unglücklich sind beide. Die Jahre vergehen, und immer wieder laufen sich Rosie und Will über den Weg, mal alleinstehend, mal mit Partnerin oder Partner. Und können das, was hätte sein können, nicht loslassen.

„Vom Ende der Nacht“ erzählt von unmittelbarer Nähe, verpassten Chancen, den vielen Lieben, die im Laufe unseres Lebens haben – und eben auch von der einen, zu der wir immer wieder zurückkehren oder zurückkehren wollen. Claire Daverley hat mit ihren Protagonisten zwei ehrliche und authentische Figuren geschaffen, die wir in ihrer Entwicklung und Beziehung zueinander begleiten dürfen. Mit all den Gefühlen, Zweifeln, Skrupeln, Gedanken, Sorgen und Freuden, die dazu gehören. Am Ende steht die Frage, wie mutig und ehrlich auch wir uns selbst gegenüber sein können. Selten ist das Leben ein gradliniges, doch gilt es doch eher genau deswegen, genau hinzuschauen und die Chancen, die sich hinter manchen Kurven des Weges verbergen, zu ergreifen.

Heike Behrens

 


so weit der fluss uns traegt 150x237

 

Bertelsmann 24,00€

 

Shelley Read: "Soweit der Fluss uns trägt"

Colorado in den 40ern des letzten Jahrhunderts.

Am Fuße der Berge liegt das beschauliche Örtchen Iola. Der Gunnison River fließt seit ewigen Zeiten ungebremst und wild daran vorbei - und genau das soll sich ändern....
Das Leben ist karg und teilweise entbehrungsreich. Fortschritt, auch im Denken, findet in den weit entfernt liegenden größeren Städten statt. Wenn jedoch die Pfirsichernte beginnt, dann herrscht reger Handel. Von überall her kommen die Kunden, um die besonders großen und saftigen Früchte der Obstbauern zu kaufen.
Victoria ist 17 Jahre alt, als wir sie kennen lernen. Während ihr Vater und ihr Bruder sich um die Ernte kümmern, bemüht sie sich, im Haus ihre früh verstorbene Mutter zu ersetzen. Wenig abwechslungsreich verläuft ihr Alltag. Umso aufgeregender ist es für die junge Frau, als sie mitten auf der Main Street von einem Fremden angesprochen wird! "Braune Haut schimmerte unter herabrinnendem Schweiß. Unter seiner Kappe schauten glatte schwarze Haare hervor, viel dunkler als meines, das ein sehr gewöhnliches Braun hatte."
Wilson Moon wird sich in Victoria verlieben und umgekehrt! Beiden bleibt eine tragisch kurze Zeit, bevor der Mob ihn im Gunnisonr River ertränkt.

Das ist nicht das Ende, sondern der Beginn einer packend erzählten Geschichte über Liebe, Verlust, über Rassismus, Sünden an der Natur und Fehlentscheidungen, Mut und Zuversicht und, und, und! Leider hat der Debütroman von Shelley Read nur 367 Seiten...

Andrea Westerkamp

 


schoenwald 150x237

 

Piper Verlag 26,00€

 

Philipp Oehmke: "Schönwald"

Eine deutsche Familiengeschichte…

Ruth und Harry sind beide Mitte 70, ihre drei Kinder somit erwachsen. Wie schön, dass aus allen „was geworden“ ist, endlich, könnte man sagen, denn auch Carolin hat mit Mitte 30 ihren Weg gefunden und eröffnet in Berlin eine queere Buchhandlung. Vorurteile haben Harry und Ruth nicht (Ruth hat sogar extra nochmal Manns „Tod in Venedig“ gelesen, um mitreden zu können), auch wenn sie den Sinn und Zweck einer solchen Buchhandlung nicht so richtig verstehen. Jedenfalls ist die Eröffnung von „They/Them“ ein wunderbarer Anlass, dass die ganze Familie mal wieder zusammenkommt. Sogar Chris, der älteste Sohn, ist extra aus New York gekommen, wo er als Linguistikprofessor an der renommierten Columbia University seinen Eltern alle Ehre macht. Obwohl: Wir wissen schon, dass er ziemlich böse geschasst worden ist, so richtig abgestürzt vom umjubelten, unkonventionellen Prof zur persona non grata, mit der man sich besser nicht mehr sehen lässt.
Die Eröffnung der Buchhandlung gerät jedoch völlig aus dem Ruder, da plötzlich eine Gruppe von Demonstranten auftaucht, Farbbeutel an die Schaufenster wirft und „Gebaut, gebaut, auf Nazigold“ skandiert. Konkret: Carolin wird vorgeworfen, mit dem Geld ihres Großvaters, angeblich ein Nazi, die Buchhandlung an den Start gebracht zu haben. Nach und nach tauchen wir in die kleinen Geheimnisse der Schönwalds ein, und so wunderbar diese Familie nach außen aussieht, so sehr hat doch jede/r mit kleinen und größeren Flecken in der eigenen Biografie zu kämpfen. Fehltritte, mehr oder weniger dramatisch, auf jeden Fall sind sie nicht unfehlbar, eben Menschen, diese Schönwalds.

Wer dabei zusehen möchte, wie eine bildungsbürgerliche Familie, die immer darum bemüht war und ist, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen, gepflegt auseinanderfliegt, dem sei „Schönwald“ sehr dringend empfohlen. Lebendig geschrieben, ironisch, aktuell – ein echtes Lesevergnügen.

Astrid Henning

 


sylter welle 150x237

 

KiWi 23,00€

 

Max Richard Leßmann: "Sylter Welle"

Max Richard Leßmann hat einen grandiosen Roman über Sylt geschrieben. Und gleichzeitig eine raue Ode an alle Opas und Omas.

Eigentlich jeden Sommer seiner Kindheit hat Max mit seinen eigenwilligen Großeltern auf Sylt verbracht. Natürlich nicht im trubeligen Westerland oder im noblen Kampen: nein, es wurde schön auf dem Campingplatz geurlaubt. Nun fahren Oma Lore und Opa Ludwig ein allerletztes Mal auf die Insel und haben Max eingeladen, sie doch für drei Tage zu besuchen. Oma Lore, die ihre Herzlichkeit gut unter einer despotischen Schale zu verstecken weiß, erwartet Max am Westerländer Bahnhof, so wie immer. Doch dieses Mal brausen sie nicht in ihrem Uralt-Opel Richtung Zeltlager, dieses Mal gehen sie zu Fuß zu einem Hotelkomplex gegenüber der Strandpromenade und wohnen tatsächlich in einer Ferienwohnung. Nicht genug mit dieser Neuerung, muss Max alsbald auch feststellen, dass sich sein Opa verändert hat, irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Doch Oma Lore will davon natürlich nichts wissen.

In seinem autobiografisch angehauchten Roman nimmt uns Max Richard Leßmann mit auf eine Reise, nicht nur auf die Nordseeinsel, die ihn deutlich geprägt hat, sondern auch in seine Kindheit und in die Vergangenheit der gesamten Familie. Wie wir wissen, kann man sich seine Verwandten ja nicht aussuchen – hier lernen wir eine Bandbreite familiärer Dynamiken, Routinen, Schrullen und Ansagen kennen, ausgesprochen reflektiert und humorvoll serviert. Max trifft direkt auf die Hinfälligkeit speziell des Opas, und er nimmt diese vermutlich letzte Sylt-Reise zu den Altvorderen zum Anlass, zurückzuschauen. Zeitebenen mit langen Einschüben werden auf elegante, weit ausholende Weise, miteinander verschränkt. Wunderbare, herrliche, zum Weinen lustige Erinnerungen, vor allem an seine Großeltern, wirklich großartige und amüsante Anekdoten unterhalten auf das Allerbeste – und hinter humorvollen Formulierungen finden sich tiefe Gedanken und Fragen, die anrühren und der Lektüre ein besonderes Niveau verleihen.
Dieses Buch ist aber auch ein Roman speziell über Sylt, es ist ein waschechtes Nordseebuch, besonders geeignet für all diejenigen, die der vermeintlich rauen Stimmung an der Küste so einiges abgewinnen können – oder es zumindest versuchen wollen… Die Nordsee kann ein ruppiges Meer sein. Das Leben kann ruppig sein, und die, die man, so hat die Natur das eingerichtet, liebt, lieben muss, die Leute aus der eigenen Familie, können auch ruppig sein. Versehrt von der See und vom Badekampf mit den harten Wellen schleppte sich der Junge zum Strandkorb, zu seiner Oma Lore, die sich vor dem Wind in Sicherheit gebracht hatte und ihren Enkel, der wirklich kaum laufen konnte, maximal verkniffen anblickte und dann – wie gesagt: ruppige See, ruppige Leute – sagte: „Jetzt lass doch mal das elendige Gewese. So kalt war es jetzt doch auch nicht!“
Ich bin hin und weg von dieser rauen und zärtlichen Geschichte, sowohl mit Blick auf die nördlichste Insel Deutschlands als auch hinsichtlich der bunten Familie, mitsamt aller Persönlichkeiten, Schicksale und Verstrickungen. Vorrangig empfinde ich den Roman jedoch als eine Liebeserklärung an eine, im wahrsten Sinne, aussterbende Generation: an die Großeltern!

Heike Behrens

 


echo der gewalt 150x237

 

Suhrkamp 18,00€

 

Yasmin Angoe: "Echo der Gewalt"

Sofern Sie, verehrte Leserinnen und Leser, schon häufiger Gast unserer Leselustveranstaltungen waren, dann ist Ihnen bekannt, dass ich gerne die Mord- und Totschlagfraktion bediene. ;) Wenn ich Sie also dringend vor dem folgenden Buch warnen möchte, so ist das für die wahren Fans der blutigen Seiten ein absolutes Kauf- bzw. Leseargument!

Nena Knight erlebt als junges Mädchen furchtbare Gräueltaten in ihrem ghanaischen Dorf. Ihre anschließende Entführung bewahrt sie zwar vor dem Tod, verfestigt jedoch in ihr den dringenden Wunsch nach Rache! Die Chance dazu erhält sie durch eine fundierte und absolut einzigartige Ausbildung - The Tribe, ein mächtiges Geschäftssyndikat bildet "Echo", so ihr Berufsname, zu einer Elite-Attentäterin aus.
An dem Tag, als sie das Visier ihres Gewehrs auf einen Bundesstaatsanwalt richtet, und statt seiner bewusst die neben ihm stehende Person eliminiert, da scheint sie ihrem Wunsch nach Vergeltung näher gekommen zu sein...

Ein bereits mehrfach prämiertes, atemberaubendes Debüt! Ich lechze nach Fall II!

Andrea Westerkamp

 

 

 


walfahrt 150x237

Ullstein 17,99€

 

Oliver Dirr: "Walfahrt"

Man merkt es Oliver Dirr an, dass er Journalist ist und ein Mensch, der mit offenen Augen und offenem Herzen durch die Welt geht und die Fähigkeit des Staunens über kleine und große Dinge zum Glück nicht verlernt zu haben scheint. Er nimmt uns mit an die besten Orte für Whale Watching, nach Norwegen, Island, Kanada, Grönland und Australien, nach Madeira und auf die Azoren.

„Walfahrt“ wirkt wie ein Potpourri an Genres, ein persönlicher Reisebericht, voller unterhaltsamer Anekdoten und subjektiven Eindrücken, eine Liebeserklärung an Dirrs Frau Theresa, verbunden mit Elementen aus dem Sachbuchbereich, aus Philosophie und Meeresbiologie, der Geschichte des Walfangs und dem Wal in der Literatur sowie dem eindringlichen Appell, den Walen, dem Meer, der Natur insgesamt mehr Respekt zu zollen. Oliver Dirr hat mit Einheimischen gesprochen, mit Tour Guides und Wissenschaftlern; er hat interessiert gefragt und umfassend recherchiert. Und nun präsentiert er uns auf unterhaltsame, eindrückliche und inspirierende Weise seine Ergebnisse und Erlebnisse.
Bereichert wird das Buch durch wunderschöne Schwarz-Weiß-Illustrationen von Aki Röll sowie beeindruckende Fotografien aus dem privaten Fundus des Autors. Ein umfangreiches Quellenverzeichnis bietet die Möglichkeit, sich selbst eingehender mit der umfangreichen Thematik zu beschäftigen.

Wer dieses Buch gelesen hat, möchte eigentlich nur noch eins: sich selbst auf Walfahrt begeben.

Nina Chaberny-Bleckwedel

 

 

Unsere Buchempfehlungen im Mai


der eisbaer 150x237

 

S. Fischer 24,00€

 

John Ironmonger: "Der Eisbär"

Bei zweiten und dritten Büchern eines Autors ist ja manchmal etwas Vorsicht geboten…das kennen wir alle. Wie schön, dass das nicht auf John Ironmongers „Eisbären“ zutrifft, also werfen wir uns gerne mitten rein ins Vergnügen:

Wer den „Wal“ gelesen hat, wird sich gleich mal wie zu Hause fühlen, denn die Geschichte beginnt mit einem feucht-fröhlichen Abend im „Stormy Petrel Inn“ in St. Piran (Sie erinnern sich?), wo unsere beiden Protagonisten schon das eine oder andere Bier intus haben. Es handelt sich hierbei um den 20-jährigen Tom, der aus St. Piran stammt, seit zwei Jahren in London Geowissenschaften studiert und somit ein profundes Wissen in Sachen Klimawandel hat. Auf der anderen Seite: Monty Causley, örtlicher Parlamentsabgeordneter, dessen Familie seit drei Generationen ein Haus direkt am Strand besitzt, eindeutig dem Team „Klimaleugner“ zuzurechnen. Zwischen diesen beiden kommt es zu einem hitzigen Streit über dieses Thema, der in einer Wette mündet, denn Tom behauptet: „Ich wette mit Ihnen, dass Sie in fünfzig Jahren, von heute an, nicht bei Flut in Ihrem Wohnzimmer sitzen können, ohne zu ertrinken.“ Monty Causley lässt sich darauf ein, nicht ohne ebenfalls einen dramatischen Wetteinsatz zu fordern.

John Ironmonger folgt nun diesen beiden Männern und wir sehr gerne mit ihnen. Der Roman erstreckt sich über gut 50 Jahre, Sie werden also das Ende der Wette mitbekommen…natürlich wird hier nichts verraten!
Zwischendurch sind wir allerdings in der Welt unterwegs, u.a. in Grönland, aber immer auch wieder in St. Piran, das Dorfleben und all seine BewohnerInnen kommen nicht zu kurz. Ironmonger gelingt es vortrefflich einen abenteuerlichen, unterhaltsamen Roman zu schreiben, der DAS Thema der Gegenwart und Zukunft behandelt. 448 Seiten, die ich innerhalb von 26 Stunden inhaliert habe.

Astrid Henning

 


der taucher 150x237

 

Mare 22,00€

 

Mathijs Deen: "Der Taucher"

Die „Freya“ ist ein niederländisches Bergungsschiff. Auf der Suche nach einem über Bord gegangenen Container stößt die Mannschaft vor Amrum durch Zufall auf ein gesunkenes Schiff. Beim Kontrolltauchgang macht die Mannschaft einen grausigen Fund. Mit Handschellen an das Wrack „Hanne“ gefesselt, hängt eine männliche Leiche in der Tiefe, die Schlüssel der Handschellen in seinem Blickfeld. Während seines qualvollen Erstickungstodes, hatte er sie genau vor Augen. Hier handelt es sich eindeutig um einen Rachemord.
Liewe Cupido, Kommissar aus Flensburg, wird wegen seiner niederländischen Sprachkenntnisse – er wuchs auf Texel auf - zu dem Fall hinzugezogen. Schnell wird klar, der Tote ist Jan Matz, Sporttaucher aus Wyk auf Föhr. In letzter Zeit war er wie getrieben von der Taucherei. Der Hafenmeister sah ihn mehrmals die Woche hinausfahren. Oft hatte er auch seinen Sohn Johnny dabei. Dieser ist bei der Polizei in Wilhelmshafen, wo er mit seiner Mutter Christine wohnt, kein unbeschriebenes Blatt, hat er doch den gleichaltrigen  Hauke Mauer krankenhausreif und lebenslang zum Gehandicapten geschlagen.
Die „Hanne“ sank in den 50er Jahren mit einer riesigen Menge Kupfer an Bord. War es das Geld für das Metall, das Jan immer wieder in die Tiefe zwang?

Für uns Leser wie für den schrulligen Kommissar Cupido setzt sich das Puzzle der Tat nur sehr langsam und mit vielen überraschenden Wendungen zusammen. Familienzwiste, die rechte Szene, die fast unheimliche Unterwasserwelt der Nordsee und Einblicke in die Nautik bestimmen die Handlung. Thrillerspannung steht bei diesem herausragenden Kriminalroman nicht an erster Stelle, aber die Atmosphäre, die der Autor Deen schafft, ist zum Schneiden dicht, seine Figuren liebevoll norddeutsch gezeichnet.Die Gischt auf dem Meer peitscht uns beim Lesen mitten ins Gesicht und eine Reise auf die gesamten Nordseeinseln ist ohne dieses tolle Buch eigentlich unmöglich.

Annette Matthaei

 


going zero 150x237

 

Diogenes Verlag 25,00€

 

Anthony McCarten: "Going Zero"

Denken Sie kurz mal nach, was meinen Sie: Würde es Ihnen gelingen, 30 Tage lang keine Spur zu hinterlassen und unauffindbar zu sein? Keiner Überwachungskamera „begegnen“, keine Spur im Internet hinterlassen, nirgendwo mit Karte zahlen – vom physischen Auftauchen im echten Leben mal ganz zu schweigen. Diese Herausforderung nehmen 10 US-AmerikanerInnen an, fünf Laien und fünf IT-Profis, denn es gibt was zu gewinnen: 3 Millionen Dollar.

Cy Baxter, US-Internet-Mogul, wettet, dass er jeden Menschen innerhalb von 30 Tagen aufspüren kann, denn sein Unternehmen sammelt Daten jeglicher Art, egal ob körperlicher Natur oder Spuren, die man im World Wide Web hinterlässt. Sein Hintergrund: Er will einen extrem lukrativen Vertrag mit der CIA abschließen und durch diesen Versuch zeigen, wozu sein Unternehmen in der Lage ist. Angeblich zum Vorteil aller, denn wäre es nicht absolut großartig, Menschen mit bösen Absichten schon zu entdecken, bevor sie beispielsweise ein Attentat o.ä. begehen?
Bewerben für diese Herausforderung konnte sich jeder, zehn Menschen sind nun ausgesucht und von dem Moment an, in dem sie die SMS „going zero“ auf ihr Handy bekommen, haben sie zwei Stunden Vorsprung, ab dann darf Cy Baxters Unternehmen diesen Menschen mit allen verfügbaren Mitteln (legal…illegal…naja, wer kann da schon exakt trennen im virtuellen Bereich) folgen.

McCarten strickt aus diesem Stoff einen rasanten, intelligenten und spannenden Thriller, der einen unweigerlich in das Buch hineinzieht. Und das liegt zum großen Teil auch an der Protagonistin Kaitlyn Day, Bibliothekarin und eine der Teilnehmerinnen. Die „natürlich“ niemand so richtig auf dem Schirm hat: eine Person, die noch echte Bücher liest?? Ich bitte Sie.
„Going Zero“ berührt Aspekte, die jeden betreffen und höchst relevant sind: Wie geschützt ist unsere Privatsphäre, wie schnell sind wir aus Bequemlichkeit bereit, auf sie zu verzichten, wann überwiegt das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit den Schutz der persönlichen Freiheit? Für mich ein absolutes Highlight in diesem Frühjahr/Sommer, gehört in jeden Urlaubskoffer!

Astrid Henning

 


morgen morgen und wieder morgen 150x237

 

Eichborn Verlag 25,00€

 

Gabrielle Zevin: "Morgen, morgen und wieder morgen!

Einen Tag nach dem anderen nehmend, beleuchtet Gabrielle Zevin in ihrem Roman das Leben zweier junger Menschen, die einmal zu Legenden der Videospielindustrie werden sollen.

Sadie und Sam lernen sich als Kinder in einem Krankenhaus kennen. Beide haben schreckliche Gründe dafür dort zu sein, doch gemeinsam scheint die Last, die auf ihnen wiegt, nur noch halb so schwer. Die zwei entdecken die Welt der Videospiele für sich und werden Freunde, bis ein Verrat die junge Freundschaft erschüttert…
Jahrelang durch ihre Unsicherheiten entzweit, bringt der Zufall sie eines Tages wieder zusammen und sie entscheiden sich eigene Spiele zu entwerfen. Mit der Unterstützung von Sadies Professor und Sams Mitbewohner, gründen sie eine Firma, die ihrer aller Leben grundlegend verändern wird, doch Berühmtheit kommt mit ganz eigenen Tücken und wirklich alles hat seinen Preis.

In diesem Buch geht es ums Gaming, aber man muss nie ein Videospiel gespielt haben, um in den Sog dieser außergewöhnlichen Geschichte zu geraten, in der es um so vieles mehr geht: Geschlechterrollen, Identität, Race, cultural appropriation, Betrug, Freundschaft, Familie und immer wieder die Liebe. Dennoch ist dies keine Liebesgeschichte und durch wechselnde Perspektiven sehen wir, dass Menschen nicht immer nach außen tragen, was sie durchmachen.
Gabrielle Zevin hat sich einiges vorgenommen und beim Lesen fragt man sich ab und an: dieses und jenes Thema kann sie nicht auch noch anreißen. Und doch handelt sie hier gefühlt alle Themen unserer Zeit ab - auf interessante Weise und mit genügend Ambivalenz, um nicht belehrend zu wirken. „Morgen, morgen und wieder morgen“ heißt es in Shakespeares Macbeth und weiter: „Was ist Leben?“ Zevin versucht diese Frage zu beantworten.

Mattes Daugardt

 


zierfische in haenden von idioten 150x237

 

Kein & Aber 24,00€

 

Manuel Butt: "Zierfische in Händen von Idioten"

Immer wieder werden wir im Moment nach Büchern gefragt, die nicht schwer sind - nach humorvollen Büchern, nach Büchern, über die man auch einmal lachen kann. Bei „Zierfische in Händen von Idioten“ habe ich an mehreren Stellen laut gelacht!

Im Sommer 1996 machen Tobis Eltern eine Ferienreise an die türkische Riviera. Tobi, 18 Jahre alt, hat für die sturmfreie Zeit einige Pläne: Er will zum ersten Mal mit Lisa, seiner Freundin, schlafen, seine Führerscheinprüfung bestehen und noch einiges mehr. Nebenbei muss er noch die Seepferdchen im Aquarium seines Vaters versorgen, aber das kann ja nicht allzu schwer sein. Leider kommt schließlich alles ganz anders...
Durch ein wirklich dummes Missverständnis, das mit vier gebrauchten Kondomen und einer Horde betrunkener Fußballfans zusammenhängt, endet Tobis Beziehung zu Lisa abrupt. Georg, Lisas bester Freund und Sohn des Fahrlehrers Pohlmann, fällt zum Leidwesen seines Vaters durch die Führerscheinprüfung. Tobis ziemlich abgedrehter Freund Scholzen zieht bei ihm ein, weil er „Abstand“ von seiner Familie braucht.
Als Georg durch Zufall von seiner bisher tot geglaubten Mutter eine Nachricht aus England erhält und klar wird, dass Lisa zu Hause ernsthafte Probleme hat, kapern die vier kurzerhand das nagelneue Fahrschulauto von Fahrlehrer Pohlmann (einen „Golf Bon Jovi“) und los geht eine wirklich abenteuerliche Fahrt - ohne einen Pfennig Geld, ohne jeden vernünftigen Plan und ohne Führerschein, aber mit einem Becken voller Seepferdchen im Kofferraum. Über Holland geht es nach England; die vier Protagonisten müssen auf der Reise einige Hürden meistern: Ständig pendelnd zwischen Mutlosigkeit und jugendlicher Selbstüberschätzung stolpern sie von Problem zu Problem. Aber weder die Hasch-Dealer in Holland noch die prügelnden Fußball-Hooligans am Rande der EM können sie letztlich aufhalten.

Ein wirklich wunderbares Roadmovie, begleitet vom Sound der 90er (Bon Jovi, die Spice Girls, Oasis..., Los del Rios mit „Macarena“ am Strand): Jeder, der sich an diese Zeit erinnern kann, wird dabei irgendwie mitschwingen. Sogar an der Zoohandlung, die angeblich Namenspate der Pet Shop Boys gewesen sein soll, kommen die vier vorbei.
An manchen Stellen des Buches merkt man, dass der Autor normalerweise keine Romane, sondern Gags fürs Fernsehen schreibt, aber das tut der guten Stimmung des Buches keinen Abbruch. Für mich war dieser Roman eine sehr willkommene Abwechslung auf dem momentanen Buchmarkt!

Sabine Christ

 


das theater am strand 150x237

 

C.Bertelsmann 23,00€

 

Joanna Quinn: "Das Theater am Strand"

Chilcombe Castle, ein mächtig in die Jahre gekommener Landsitz an der Küste von Dorset in den ausgehenden zwanziger Jahren ist das Setting dieses wunderbaren Erstlings der Autorin Joanna Quinn.

Die zwölfjährige, wilde Cristobel Seagrave wächst mit ihrer jüngeren Halbschwester Florence und dem Cousin Digby unter verworrenen Familienverhältnissen recht verwahrlost auf. Die Erwachsenen sind mit sich und dem Feiern ausufernder Partys mit durchgeknallten Gästen aus der Künstlerszene beschäftigt. Bunt ist das Menschenszenario. Den Kindern wird eine vertrocknete französische Privatlehrerin zur Bildung an die Seite gestellt, aber Cristabel entdeckt bald, dass sie ein besonderes Talent besitzt: das Erzählen von Geschichten zieht ihre Zuhörer in den Bann und auch das Schauspielern liegt ihr. Eines stürmischen Morgens entdeckt sie einen gestrandeten Wal am Strand. Ihr Wal, ein Zeichen! Aus den Walknochen entsteht die Bühne eines Theaters am Strand und halb Dorset wohnt bald den zauberhaften Aufführungen von Shakespearestücken bei.
Doch dunkle Zeiten ziehen auf, der zweite Weltkrieg macht auch vor Chilcombe nicht halt. Digby sieht seine Aufgabe bei der Resistance in Frankreich, Cristobel wird ihm über den Umweg bei der britische Frauenflugabwehr in den Untergrund folgen. Einzig Florence, genannt Flossie, schlägt sich in England durch die Kriegswirren.

Was wie lockere, leichte Unterhaltung beginnt, nimmt im Laufe des Buches kräftig an Fahrt auf. Die jede für sich so liebenswerten Figuren gewinnen an Tiefe und ich mochte mich so gar nicht von ihnen verabschieden und das sage ich nach 700 wunderbaren Seiten!!
Das Buch ist in Coronazeiten entstanden und der Autorin war es Wunsch, ein Buch zu schreiben, dass die Leser in „Geschichten fallen lässt, die so üppig und dicht sind wie ein dickes Federbett“. Das ist ihr zu hundert Prozent gelungen, ganz großartig und natürlich auch auf englisch zu erhalten.

Annette Matthaei

 


draussen die welt 150x237

 

dtv 24,00€

 

Janet Lewis: "Draussen die Welt"

1943 wurde der Roman „Draußen die Welt“ von Janet Lewis erstmals in den USA unter dem Titel „Against a darkening sky“ veröffentlicht. Nun ist er erstmals in deutscher Übersetzung bei dtv erschienen.

Die Geschichte des Buchs spielt Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre zur Zeit der großen Wirtschaftsdepression in den USA. Mary Perrault und ihr Ehemann, Eltern von vier Kindern, leben in einer kleinen kalifornischen Stadt und kommen mit ihren bescheidenen Jobs und dem, was ihr Garten ihnen liefert, einigermaßen über die Runden. Mary ist eine gütige, hilfsbereite Frau, eine liebende Mutter und treue Gattin. Sie ist eingebunden in das Sozialleben des kleinen Ortes und kommt mit den Menschen um sie herum gut aus. Trotz eines furchtbaren Schicksalsschlages geht das Leben nach einiger Zeit wieder seinen gewohnten Gang. Doch die Beständigkeit Marys und das Idyll des ländlichen Lebens werden im Hintergrund der Handlung immer wieder bedroht von den großen Katastrophen und Bedrohungen der Welt. So führen wirtschaftliche Sorgen und Nöte der Menschen zu Neid und Missgunst unter den Nachbarn. Dürre und Wassermangel erschweren zusätzlich das Leben. Trotz alledem bleibt Mary Perrault der „moralische Ruhepol“ in diesen unruhigen Zeiten. Sie navigiert ihre Familie mit unglaublicher Stärke durch all die Wellen und Stürme des Lebens, die die Zeit im Allgemeinen und auch das Heranwachsen ihrer Kinder mit sich bringen.

Janet Lewis wurde beinahe 100 Jahre alt. In diesem Text verweist sie fast prophetisch auf viele Probleme, die erst viel später wirklich ins Bewusstsein der Menschen rückten. So schreibt sie zum Beispiel über Wassermangel und die Ausbeutung der Natur durch den Menschen. Doch diese Dinge bleiben im Hintergrund, auch wenn sie die ganze Zeit beim Lesen immer wieder mitschwingen. Beeindruckt und fasziniert hat mich ganz besonders, wie Mary den Menschen um sie herum immer wieder Halt und Stütze ist; wie sie sich bemüht, ihren Kindern ins Leben zu helfen, auch wenn die Wege manchmal krumm und schwer sind. Mary vertraut ihren Kindern bedingungslos, lässt sie sich ausprobieren und nimmt nur dort Einfluss, wo es gar nicht mehr anders geht.
Die detailgenauen Schilderungen der Menschen, ihrer Gefühlszustände, ihres Äußeren, immer wieder wechselnde Perspektiven, genauso wie die genaue Schilderung der Welt um sie herum, der Gärten und Felder, des Kaninchenstalls und der Wohnstube machen den Roman so lebendig. Im Kopf entsteht ein Film; man fühlt sich wie ein stiller Beobachter auf einem Spaziergang zwischen all den Menschen und auf Wegen, die man genau zu kennen scheint. Fast meint man, vor einem großartigen, akribisch angefertigten Gemälde zu stehen, dessen Figuren vor den Augen lebendig werden. Ein großartiger Roman!

Sabine Christ

 


young mungo 150x237

 

Hanser Verlag 26,00€

 

Douglas Stuart: "Young Mungo"

„Young Mungo“ ist wie Kintsugi für die Seele: es hat mich in tausend Teile zerschlagen und anschließend wieder zusammengefügt.

Douglas Stuarts neuer Roman ist ein aufwühlendes, schonungsloses Buch. Leser*innen von Shuggie Bain werden das Milieu der Glasgow‘schen Arbeiterklasse wiedererkennen. Doch wo Shuggie fast wie ein Vehikel erschien, um seine Mutter zu beleuchten, steht Mungo im Mittelpunkt seiner eigenen Erzählung.
Im Glasgow der 90er Jahre herrscht das Gesetz der Straße. Mungos Bruder zieht ihn mitten rein in die Kämpfe zwischen Protestanten und Katholiken, seiner sanften Natur zum Trotz. Seine Familie hält ihn für zu weich, zu gefährdet auf den Straßen, wo Fäuste Worte ersetzen. Und auch seine Schwester Jodie, der er sich sonst so gerne anvertraut, scheint immer distanzierter und in ein Leben außerhalb der Familie zu entschwinden. Als seine Mutter ihn mit zwei Fremden losschickt, die ihm zeigen sollen, was es bedeutet ein „echter“ Mann zu sein, droht er an der Situation zu zerbrechen. Nur die Erinnerungen an eine besondere, zum Scheitern verurteilte Liebe, leuchten in der Dunkelheit.

„Young Mungo“ ist ein gewaltvolles, äußerst graphisches Buch. Dennoch schafft Stuart es mit lyrischer Behutsamkeit Hoffnung zu wecken, denn wenn das Schlimmste überstanden ist, gibt es nur den Blick nach vorn - nur den Wert der Dinge, die überdauern.

Mattes Daugardt

 

 

Unsere Buchempfehlungen im April

 


der bojenmann 150x237

 

Btb 16,00€

 

Kester Schlenz/Jan Jepsen: "Der Bojenmann"

Mit einem zufriedenen Seufzen und einem kühlen Bierchen in der Hand betritt der Ex Kapitän Oke Andersen, von seinen früheren Kollegen wegen seiner Neigung zur Philosophie liebevoll La Lotse genannt, seinen Balkon in Övelgönne mit dem phantastischen Blick auf den gegenüberliegenden Containerhafen. Es ist die blaue Stunde, einer der schönsten Momente des Tages, wenn die Elbe glitzert und das Leben unten am Strand ganz langsam zur Ruhe kommt.
Nur ein paar Stunden später macht ein ambitionierter Sportkanute bei Sonnenaufgang in 150 Meter Luftlinie entfernt von La Lotses Balkon, einen Fund, den er nie wieder vergessen wird. Der Bojenmann mit dem weißen Hemd und der schwarzen Hose, der als Attraktion schon jahrelang auf dem Fluss schaukelt, wirkt heute morgen irgendwie anders. Etwas an der Haltung stimmt nicht… und das Gesicht…
Der leitende LKA Ermittler Thies Knudsen, bester Freund von dem uns bereits bekannten La Lotse, und seine Kollegin Dörte Eichhorn werden zu einem makaberen Fund gerufen. Die berühmte Eichenfigur mitten auf dem Strom ist durch eine plastinierte Leiche mit asiatischen Zügen ersetzt worden. Die Chefin der Spurensicherung „Spusi“ ist schwer beeindruckt von der peniblen Arbeit. Da hätte auch ein Gunther von Hagens mit den Körperwelten seine helle Freude. Bei dieser Plastination war kein Amateur am Werk und der Profi scheint auch stolz auf seine Handwerkskunst zu sein, hinterlässt er doch eine winzige liegende 8, das Zeichen für Unendlichkeit, unter der linken Iris des Opfers.

Die Bankkauffrau Stefanie Bauer joggt wie gewohnt locker um die Alster. Bei der Hohenfelder Brücke legt sie ein Päuschen für das Stretching mit Blick auf ihren stummen, hölzernen Bekannten, der verlässlich auf dem Gewässer dümpelt, ein. Doch sie ist irritiert. Wieso stemmt der nicht wie immer die Hände in die Hüften, sondern reckt einen gestreckten Daumen nach oben??
Ab dem wievielten Toten spricht man eigentlich von einem Serienmörder? Das ist unter anderem eine Frage, die Knudsen bei einerPressekonferenz beantworten muss. Die Abteilung arbeitet auf Hochtouren, doch bis auf einen Zettel, der die Ermittler in die Seemannsmission Duckdalben nahe der Veddel und somit in das Milieu der meist philippinischen Matrosen führt, bleiben die Erfolge vorerst aus. Wie gut, dass La Lotse seinen Freund Thies nicht nur kulinarisch verwöhnt, sondern ihm auch mit Rat und manchmal mehr Tat als ihm guttut, zur Seite steht.

Ganz sicher kein Krimi für zarte Gemüter. Man muss es aushalten in die Abgründe der Plastination an der Seite eines verrückten Genies einzutauchen und auch um den einen oder anderen Kollegen zu bangen. Alles in allem ein ganz toller Hamburgkrimi. Der zweite Teil ist in Arbeit und ich fiebere ihm entgegen.

Annette Matthaei

 


mindset 150x237

 

KiWi 23,00€

 

Sebastian Hotz: "Mindset"

Einigen von Ihnen ist Sebastian Hotz vielleicht ein Begriff, alle anderen sollten ihn schleunigst entdecken, zum Beispiel mit seinem Romandebut: klug, ironisch und sehr gut beobachtet.

Wir haben zwei Protagonisten: Zum einen Maximilian Krach, ein offensichtlich extrem erfolgreicher Unternehmer, Anfang 30, mit allen Insignien der Macht ausgestattet, so möchte man es fast ausdrücken. Die richtigen Anzüge im richtigen Schnitt, diverse teure Uhren, ebensolche schnittigen und edlen Fahrzeuge – er hat es offensichtlich geschafft. Und weil er andere an seinem Erfolg teilhaben lassen will, gibt er regelmäßig Coachingseminare, irritierenderweise in eher zweitklassigen Hotels. Dort versammeln sich dann knapp 15 junge Männer (auch nicht sooo viel), Typ Versicherungsvertreter mit Ambitionen auf mehr, und lauschen Maximilians Weisheiten. Vom Schaf zum Wolf werden, vom Gejagten zum Jäger – das ist das Ziel und alles eine Frage des Gehirns, des richtigen Mindsets.
Mirko ist bislang auf jeden Fall noch ganz klar ein Schaf: Nach dem Abi eine Ausbildung im IT-Bereich gemacht, „weil das immer gebraucht wird“, danach in der Firma aus Bequemlichkeit hängengeblieben, wo er nicht mehr tut, als unbedingt nötig, kein nennenswertes Sozialleben, insgesamt ein schlaffer Mittzwanziger. Bis, genau: bis er auf GENESIS EGO stößt, Krachs Coachingfirma, und jetzt soll sich sein Leben ändern, aber ganz gewaltig. Wecke den Wolf in dir, könnte man sagen.

Ich bin ganz sicher, dass wir alle einen Mirko kennen, genauso wie vielleicht auch einen Maximilian Krach, bei dem man sich bereits nach den ersten Zeilen fragt, was hier echt und was Fassade ist.
Sebastian Hotz trifft mit seinen Beschreibungen voll ins Schwarze, pointiert und sehr unterhaltsam führt er uns vor Augen, wohin der Druck zu „performen“ und der Wunsch nach Anerkennung führen können. Ein Roman durchaus auch für junge Erwachsene ab Mitte 20 – aber absolut auch für alle, die dieses Alter längst hinter sich gelassen haben.

Astrid Henning

 


die architektin 150x237

 

Btb 24,00€

 

Till Raether: "Die Architektin"

Männer, Geld und Häuser kann man nie genug haben. Das ist der Leitspruch der Architektin, die in den frühen Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts die komplett männerdominierte Baubranche und Wiederaufbauszene aufmischen will und wird.

Die Architektin ist eine schlaue, berechnende Mitvierzigerin, glamourös, taktierend, die sich die größten Schnitten im Baugeschäft zu sichern weiß. Nach einigen kleineren Projekten will sie nun mit den ganz Großen spielen: In Berlin-Steglitz soll ein spektakulärer Rundumschlag erfolgen: Neue Verkehrsanbindungen, U-Bahn, und vor allem das riesige Kreiselhochhaus sollen den Stadtteil anschlussfähig machen. Scheinbar niemals versiegende Quellen von Fördergeldern wollen verausgabt werden, der Bauwirtschaft, den Investoren und den Entscheidungsträger winken erhebliche Steuererleichterungen und Zulagen – ein wahrer Selbstbedienungsladen für alle Beteiligten.
Die Architektin, durch kluge Heiraten und noch klügere Scheidungen bestens vernetzt, verkauft munter kleinere Chargen des geplanten Hochhauses an größtenteils eitle, selbstverliebte ältere Männer. Selbstbewusst und selbstverständlich bewegt sie sich in den hohen Kreisen der Politik und kann ihr gewaltiges Bauvorhaben mehr oder weniger subtil durchboxen. Einer Frau traut man in diesen Jahren nicht allzu viel zu.
Allein der Baustart lässt auf sich warten…
Dann kommt ihr auch noch Otto in den Weg: ein Muttersöhnchen, gerade neunzehn Jahre alt, blauäugig, naiv – er will zwingend Journalist werden und fühlt sich schon mal auf einem guten Wege: aktuell ist er als Praktikant in einer Vorort-Zeitung beschäftigt. Und nach Zeiten des Kaffeekochens und Herumgeschicktwerdens stößt er auf seltsame Vorkommnisse auf der Steglitzer Großbaustelle – und gerät damit ins Visier der Architektin. Es soll nämlich spuken im Kreiselhochhaus, und begründet in einem bisweilen munteren Spekulieren über Geistergeschichten am Bau, sieht Otto Bretz bereits einer, also seiner, mindestens landesweiten Karriere ins Auge. Wäre da die nicht die Architektin, die sich beileibe nicht in die Suppe spucken lassen will…

Die Figur des Romans ist von einer realen Person, der Architektin Sigrid Kressmann- Zschach, inspiriert, die Geschichte handelt vom größten Bauskandal der Berliner Nachkriegszeit. Es eine Geschichte über Macht, Utopien, Größenwahn, Liebe und Freundschaft, aber es geht auch um Gespenster, Hobbykeller, kommunistische Untergrundgruppen, Kochen im Römertopf, um Scharlachberg-Meisterbrand und Büfetts mit Sülze in Aspik, typische 70er-Jahre eben.
Till Raether hat sich nicht nur der skandalösen Historie angenommen, sondern gleichzeitig auch eine Liebeserklärung an den Lokaljournalismus geschrieben. Und abgesehen davon ist ihm ein grandioses Zeitzeugnis gelungen!

Heike Behrens

 


der gaertner von wimbledon 150x237

 

Kampa Verlag 22,00€

 

Jane Crilly: "Der Gärtner von Wimbledon"

Cara, eine junge englische Journalistin, bekommt den Auftrag, für ihre Zeitung ein Portrait über Henry Evans zu schreiben, der Gärtner, der 50 Jahre lang über den heiligen Rasen von Wimbledon gewacht hat. Von Tennis versteht Cara so gut wie gar nichts und so ist es klar, dass sie mehr auf die „persönlichen“ Elemente der Story setzen will.
Cara besucht Mr. Evans zu Hause, natürlich mit einigen vorbereiteten Fragen, aber sehr schnell entwickelt sich zwischen der jungen Journalistin und dem Gärtner eine sehr vertraute Atmosphäre. Henry erzählt zum ersten Mal die Geschichte von seiner einzigen und großen Liebe – und so reisen wir mit ihm zusammen in die 30er Jahre auf das Anwesen der Familie Blake.
Hier wächst Henry nach dem Tod seiner Mutter zusammen mit seinem Vater auf, der auf Blake Hall eine Anstellung als „zweiter Gärtner“ gefunden hat. Familie Blake hat drei Kinder, u.a. Rose, genau wie Henry 14 Jahre alt, ein selbstbewusstes und unternehmungslustiges Mädchen mit einer sehr klaren Zukunftsvorstellung: eines Tages eine berühmte Tennisspielerin zu werden und auf dem Rasen in Wimbledon zu stehen. Zwar gibt es eine recht klare Trennung zwischen der Familie Blake und ihren Angestellten, aber Rose und Henry freunden sich dennoch an und sind geschickt darin, ihre Freundschaft vor den Erwachsenen zu verbergen.

Als 1939 der Krieg ausbricht, ändern sich die Zeiten und es ist vorbei mit den unbeschwerten Ausflügen, bei denen Rose auf der Querstange von Henrys Fahrrad sitzt. Die beiden Söhne, der Blakes werden eingezogen, aus dem Tennisplatz des Anwesens wird ein Kartoffelacker und auch in die Freundschaft von Rose und Henry, aus der inzwischen eine Liebe geworden ist, zieht ein gewisser Ernst ein. Insbesondere Henry hält fest an der Vorstellung einer gemeinsamen Zukunft, aber Rose dämmert, dass die gesellschaftlichen Zustände das kaum erlauben werden.

Jane Crilly hat eine wunderbare, bittersüße und klassisch englische Liebesgeschichte geschrieben, die berührt, aber nie kitschig ist. Nicht nur Fans von Downtown Abbey werden diesen feinen Roman lieben.

Astrid Henning


krume brot 150x237

 

Rowohlt 22,00€

 

Lukas Bärfuss: "Die Krume Brot"

Adelinas Unglück beginnt mit ihrem Großvater Angelo, einem italienischen Nationalisten, einem Mussolini-Verehrer, der sich der faschistischen Bewegung anschließt. Verblendet von dieser Ideologie, dieser Verblendung in jeglicher Hinsicht, lässt er es zu, dass sein einziger Sohn Mario für den Zweiten Weltkrieg rekrutiert wird, obgleich er es hätte verhindern können.
Mario ist ein Feingeist, ein Denker, und kehrt traumatisiert vom Schlachtfeld zurück. In der Universität bekommt er die faschistische Vergangenheit seines Vaters zu spüren, bricht seine Dissertation ab und wandert mit seiner Frau Margherita schließlich in die Schweiz aus, um dort ein neues Kapitel aufzuschlagen, eine neue Seite, ein leeres Blatt…
Sein Leben nimmt eine für ihn überraschende Wende, als Adelina 1960 zur Welt kommt. Hingerissen von seiner kleinen Tochter bleibt Mario im Hause, während seine Frau für Lohn und Brot sorgt. Doch seinen Geistern kann er nicht entkommen: zunehmend depressiv, übergewichtig, kettenrauchend, lethargisch, versucht er sich dennoch daran, Schriften für eine Emigrantenzeitschrift zu verfassen. Adelinas Schullaufbahn offenbart rasch eine für Mario unfassbare Schmach und Enttäuschung: seine Tochter ist ganz offensichtlich intelligent, mit einer schnellen Auffassungsgabe und einem wachen Geist gesegnet, aber sie leidet an einer, wie man heute sagen würde, Legasthenie – für Mario gleichermaßen unfassbar und unerträglich.

Als Mario unerwartet stirbt, übernimmt die noch sehr junge Adelina auf Druck ihrer Mutter hälftig seine nicht unerheblichen Schulden. Die Mutter indes verschwindet flugs mit einem Liebhaber Richtung Italien. Adelina muss ihre Ausbildung als Stickerin abbrechen, um Geld zu verdienen. Sie begegnet Toto, einem schönen Gastarbeiter, verliebt sich in ihn und wird, wie könnte es anders sein, schwanger. Doch Toto darf nur immer für einige Monate in der Schweiz bleiben, muss dann ausreisen, um wieder einreisen zu dürfen. Nach der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Emma schickt er noch kurze Zeit ein wenig Geld, die Telefonate werden weniger und knapper, bis er irgendwann sozusagen verschwunden ist.
Adelina ist allein, verschuldet, sie kann weder lesen noch schreiben, und sie hat ein Kind zu ernähren.

Und hier beginnt nun der eigentliche Roman. Die Erzählperspektive ist ab jetzt nahe bei der Hauptfigur, manchmal in ihrem Kopf, manchmal kommentierend schräg von oben. Schwer ist Adelinas Leben, einsam und anstrengend. Sie arbeitet bis in die Nacht in einer Bar, dennoch reicht das Geld hinten und vorne nicht. Die Miete könnte sie verrechnen lassen, so teilt ihr der Vermieter mit, wenn sie denn ein wenig freundlich zu ihm wäre. Doch Adelina verpfändet lieber ihr schmales Hab und Gut bei einem Pfandleiher. Und lässt sich dann, vorerst platonisch, mit Emil ein, der ihre Schulden begleicht und sie und Emma in seine Wohnung ziehen lässt.
Emil ist ein etwas zu glatter, zu freundlicher Grafiker, nur ganz gelegentlich sieht man sein wahres Ich aufblitzen. Als Emil ein baufälliges Haus in Norditalien kauft, ziehen Adelina und Emma, nicht ganz freiwillig, mit ihm dorthin. Im Gebäude finden sich Spuren, offenbar hat jemand hier Unterschlupf gefunden. Und eines Tages, Emil befindet sich geschäftlich unterwegs, taucht dieser „Streuner“ auf – und Adelina wird ohne weitere Umstände seine Geliebte. Dann verschwindet am helllichten Tage ihre kleine Tochter.
In ihrer unermesslichen Verzweiflung schließt sich Adelina dem Streuner an, der zu wissen vorgibt, wer bei der Suche nach Emma helfen kann. Die junge Frau findet sich in einer Kommune der Roten Brigaden wieder - und fühlt sich, entwurzelt wie sie ist, angesprochen von den Maximen und Parolen der Kommunisten. Sie fühlt sich erstmalig im Leben als Teil einer Gruppe. Da kommt die Nachricht, dass man in Emils Gutshof Licht gesehen habe und einen Mann und ein Kind…

Heike Behrens

 


kathedralen 150x237

 

Unionsverlag 24,00€

 

Claudia Pineiro: "Kathedralen"

Der aktuelle Roman von Claudia Pineiro beginnt in Argentinien. Nach dem brutalen Mord an Lias Schwester Ana, ist es der jüngsten von drei Töchtern unmöglich, weiterhin an einen guten Gott zu glauben. Das spaltet die streng religiöse Familie, und Lia wird als Konsequenz das Land verlassen und nahezu alle Kontakte abbrechen. Vor dreißig Jahren geschah das Verbrechen, aufgeklärt ist es bis heute nicht. In Santiago de Compostela betreibt Lia seither eine Buchhandlung. Nur sporadisch erhält sie Briefe von ihrem Vater aus der alten Heimat. Das reicht ihr völlig. Wie vereinbart spart er dabei Familieninterna völlig aus. Entsprechend fassungslos reagiert sie, als plötzlich ihre älteste Schwester vor ihr steht und ihr mitteilt, dass der Vater tot ist...

Das bleibt nicht die einzige Überraschung! Claudia Pineiro lässt uns das Geschehen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten, wobei die unterschiedlichen Perspektiven jeweils ihre Eigenheiten bewahren. Zu Wort kommt auch, neben Familienmitgliedern, die beste Freundin der Toten, die aufgrund einer Verletzung Schwierigkeiten mit dem Gedächtnis hat. Beeindruckend schildert uns die Autorin wie es ist, wenn ein Trauma Lücken hinterlässt. Immer mehr Abgründe tun sich auf, je weiter die Geschichte fort schreitet.
Der katholische Glaube, von dem sich Anas Schwester Lia lossagte, spielt eine wichtige Rolle. Die Kirche ist neben der patriarchalen Gesellschaft die zweite große gewaltausübende Institution. Die Leserin/der Leser spürt immer wieder die Wut der Autorin...

 

Andrea Westerkamp

 


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Jochen Gutsch/Maxim Leo: "Frankie"

Eines lauschigen Sommerabends dreht Frankieboy eine gemütliche Runde in seinem Revier. Vor dem verlassenen Haus hält er inne. Was ist da denn los? Steht da ein Mann im Wohnzimmer und spielt mit dem großartigstem Faden, den Frankie seit langem gesehen hat? Was macht der da? Hopp, hoch auf die Fensterbank und die ganze Angelegenheit genau betrachten.
Frankie ist ein sehr durchschnittlicher, getigerter Kater. Seinem Ohr ist ein Stück abhanden gekommen bei einem heftigen Kampf mit einem wütigen Waschbären. Nach mehreren Tierheimaufenthalten nahm sein Leben aber eine gute Wendung. Die alte Frau Berkowitz ließ ihn bei sich wohnen, fütterte ihn recht anständig und liebte ihn so, wie er war. Leider wurde sie eines Tages von einem großen Auto mit blauem Licht abgeholt und ward seither nicht mehr gesehen. Frankie also wieder zurück auf seinen Müllberg, auf dem er eine umgedrehte Badewanne sein Heim nennt. Gibt Schlimmeres, aber könnte es sein, dass er gerade seinen Hauptgewinn entdeckt hat? Ein Dach über dem Kopf, einen Menschen, der sich um das leibliche Wohl kümmert, ein famoses weiches Bett und wie gesagt, dieser unglaubliche dicke Faden mit dem der Mann immer noch hantiert.

Der Faden ist kein Faden, sondern ein handfestes Seil mit dem Herr Richard Gold soeben versucht sich an der Wohnzimmerdecke aufzuknüpfen. Doch wer bitteschön kann sich das Leben nehmen, wenn ein Katzenvieh einem durch die Scheibe mit starrem Blick dabei zusieht? Verzweifelt bricht Herr Gold seinen Suizidversuch ab, verflucht den räudigen Vierbeiner, der ihm beim Versuch ihn zu verscheuchen, flugs zwischen den Beinen ins Haus flutscht und es sich dort auf der Couch recht bequem macht. Vielleicht können Sie sich denken, dass unser Frankie für Herrn Gold zum „kleinen Lebenssinn“ wird, manchmal alles besser wird und tatsächlich: genauso kommt es.
Vorher wird sich aber ordentlich zusammengerauft. Der muskulöse Eichkater, der dreibeinige Professor und eine junge Tierärztin spielen eine Rolle, aber hauptsächlich ist es doch Frankies Philosophie, die meist recht deftig rüberkommt, zu verdanken, dass Herr Gold nicht nur ein verlässlicher Essensspender wird, sondern auch mal wieder von ganzem Herzen lachen kann.

Ein entzückendes Büchlein für alle Katzenliebhaber oder solche, die es nach der Lektüre dieser Geschichte werden.

Annette Matthaei

 


stranded die insel 150x237

 

Lübbe 12,99€

 

Sarah Goodwin: "Stranded - Die Insel"

Ich liebe Inselurlaube - Sie auch? Wenn dem so ist, sollten Sie diesen Thriller NICHT lesen! Meine Sehnsucht nach Ferienzeit auf einem einsamen Eiland hat auf jeden Fall nach dieser Lektüre gewaltig nachgelassen....

"Für Maddy wird ein Traum wahr: Sie nimmt an einem neuartigen Fernsehexperiment teil, in dem acht Fremde auf einer einsamen schottischen Insel überleben müssen, ein Jahr lang, mit nur minimaler Ausrüstung und ohne Kontakt zur Außenwelt." So lautet der Klappentext. Und das klingt, ehrlich gesagt, nur bedingt spannend. Kennt man doch schon aus dem Fernsehen... Täuschen Sie sich nicht! Mrs. Goodwin erzeugt ein Frösteln, das sich von Kapitel zu Kapitel steigert.
Maddy ist mir von Anfang an nicht sonderlich sympathisch. Den übrigen sieben Mitstreitern scheint es ähnlich zu gehen. Die Zweckgemeinschaft ist alles andere als homogen, und als der erste Unfall geschieht, liegen die Nerven blank und Anfeindungen werden offen zur Schau gestellt.

Ich darf Ihnen verraten, dass Maddy überlebt (steht ja im Prolog). Über das Schicksal der übrigen Teilnehmer informieren Sie sich bitte unbedingt selbst, vorzugsweise am Sandtrand liegend...

Andrea Westerkamp

 

 

Unsere Buchempfehlungen im März

 


helenes stimme 150x237

 

Kindler Verlag 20,00€

 

Sanne Jellings: "Helenes Stimme"

Auch wenn in Deutschland diverse Schulen nach Helene Lange benannt sind, ist sie vielen Menschen sicher unbekannt: Helene Lange war eine der ersten Pädagoginnen, Politikerinnen und Frauenrechtlerin im Deutschen Kaiserreich und darüber hinaus.

Sanne Jellings erzählt in ihrem feinen, schönen Roman auf zwei Zeitebenen und aus zwei Perspektiven von Helene. Zunächst schildert uns die junge Marie, Tochter eines Pfarrers im Schwäbischen, wie 1868 eine junge Norddeutsche als „Pensionstochter“ in ihren Haushalt kommt, niemand anderes als Helene Lange. Zu diesem Zeitpunkt ist Helene 17, sie ist eher liberal erzogen und wird hier mit einem völlig anderen Frauenbild konfrontiert: Pfarrer Eifert pflegt zwar ein offenes Haus, das gilt allerdings eher für Männer. Immerhin ist man so großzügig und lässt Frauen mit am Tisch sitzen - eine eigene Meinung zu haben oder ungefragt das Wort zu ergreifen, ist allerdings nicht vorgesehen. Schließlich ist es ist doch auch schön und auch die Bestimmung der Frau, dienend dem Mann zu vollen Entfaltung zu verhelfen… Helene Lange wird später sagen, dass dieses Jahr in Eningen ihre politische Agenda maßgeblich geprägt hat.
In der zweiten Perspektive kommt Helene selbst zu Wort: Anfang der 20er Jahre lebt sie in Berlin, ist inzwischen eine alte Frau, die sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, aber vieles erreicht hat.

Sanne Jellings hat Helene Lange mit diesem schmalen Roman ein schönes und längst fälliges Denkmal gesetzt, in dem sie zeigt, dass Zugang zu Bildung eine unbedingte Voraussetzung für Freiheit und Selbstbestimmung ist.

Astrid Henning

 


ohne mich 150x237

 

Diogenes Verlag 22,00€

 

Esther Schüttpelz: "Ohne mich"

Die meisten Menschen blicken mit einer gewissen Wehmut auf ihre Jugend und die Zeit zwischen 20 und 30 zurück. Da ist dann die Rede von Freiheit, vielen Möglichkeiten, alles Ausprobieren usw. Ich bin ziemlich davon überzeugt, dass in diesem Rückblick eine gute Portion verklärter Blick steckt, denn die Kehrseite der Medaille bedeutet eben, man muss sich irgendwann auch für eine der vielen Möglichkeiten entscheiden – und ob das dann die richtige ist?

Die Ich-Erzählerin in Schüttpelz Debut ist mit einer Entscheidung jedenfalls schon mal krachend gescheitert: Sie ist Mitte 20, war gerade noch frisch verheiratet und ist nun frisch getrennt. Das muss sie nicht nur vor sich selbst klarkriegen, sondern in diesem Fall auch der mittelgroßen Familie im eher konservativen Münsterland erklären – noch dazu an Weihnachten. Parallel dazu absolviert sie ihr Referendariat und steht kurz vorm zweiten juristischen Staatsexamen. Man kann nun nicht behaupten, dass unsere Protagonistin eine Vollblut-Juristin ist oder vorhat, das zu werden. Also auch auf dieser Ebene: eher Fragezeichen.

Esther Schüttpelz zeigt in ihrem Roman mit wunderbarem Humor, wie es sich anfühlt, wenn die erste Leichtigkeit nach dem Ende der Schulzeit dem Bewusstsein weicht, dass man jetzt aber nun mal wirklich, so allmählich, aber unbedingt: sich entscheiden müsste! Für den richtigen Beruf, den richtigen Lebenspartner, die richtige Stadt – insgesamt eben: für das richtige Leben. Aber woher weiß man denn, was „das richtige“ ist?
Ein Buch nicht nur für alle ab Mitte 20, sondern ebenso für alle anderen, die dieses Lebensalter längst hinter sich gelassen haben. Und sich entweder daran erinnern oder diesen manchmal ganz schön schwierigen Prozess jetzt bei ihren Kindern miterleben und begleiten…dürfen.

Astrid Henning

 


die herzchirurgin 150x237

 

Droemer HC 14,99€

 

Jack Jordan: "Die Herzchirurgin"

Das Buch fängt schon mal gut an: die versierte und renommierte Herzchirurgin Dr. Anna Jones steht am OP-Tisch vor dem geöffneten Brustkorb ihres Patienten. Der Eingriff, mehrere Stents mussten gesetzt werden, ist erfolgreich verlaufen – doch der Patient hat nicht überlebt. Für jeden Chirurgen ein Alptraum. Aber es soll noch wesentlich schlimmer kommen: Anna, justamente in einer unschönen Scheidung lebend, ihrem einzigen Sohn als alleinerziehende Mutter natürlich nicht gerecht werdend, fährt nach diesem langen Kliniktag endlich heim und kann ihren Augen nicht trauen: In ihrer Einfahrt steht ein LKW, ihre Haustüre ist sperrangelweit geöffnet, fremde Männer gehen ein und aus und montieren Überwachungskameras in jedem Raum. Und von ihrem Sohn Zack fehlt jede Spur! Drei der Männer bitten sie in ihr eigenes Wohnzimmer hinein und eröffnen ihr, dass sie den Politiker, der als nächster Premierminister gehandelt wird und dem sie in zwei Tagen Bypässe legen soll, auf dem OP-Tisch sterben lassen soll. Annas Sohn Zack, so wird ihr mitgeteilt, wurde entführt, die Babysitterin ermordet – und wenn sie Zack lebendig wiedersehen will, muss sie den Forderungen der Männer Folge leisten. Es beginnt ein Kampf in ihrem Innern, der Anna an ihre Grenzen bringt. Wird sich die Ärztin in ihr durchsetzen, die die den Hippokratischen Eid geschworen hat, oder die liebende Mutter, die alles, alles tun würde, um ihren Sohn heil wiederzubekommen? Aus einer verfahrenen Lage wird eine hoffnungslos verzweifelte, aus einer hin und her gerissenen Ärztin und Mutter eine gezwungenermaßen rationale, fast kalte Frau.

Doch nicht nur Anna steht vor einer schier ausweglosen Situation, auch die OP-Schwester Margot befindet sich in existenziellen Nöten. Und zwar im wahrsten Sinne: um ihr Leben zu finanzieren, bestiehlt sie seit einiger Zeit ihre Kolleginnen, um zumindest die dringlichsten Schulden begleichen zu können. Doch kurz bevor ihre Entlarvung und damit ihr Komplettzusammenbruch bevorstehen, macht sie im OP eine Beobachtung, die ihr Leben verändern könnte. Und sie geht ein Wagnis ein, das sie für die Lösung aller Probleme hält…

Und dann ist da noch Detective Inspector Rachel Conaty, die einen schrecklichen und brutalen Todesfall aufzuklären hat. In einem Brunnenschacht wurde die Leiche einer alten Frau entdeckt, deren Identifizierung sich als ausgesprochen schwierig gestaltet, da dem Opfer Zähne und Fingerkuppen entfernt wurden. Rachel kämpft mit ihren persönlichen, teilweise sehr präsenten Dämonen, verbeißt sich ungemein in ihre Ermittlungen und kommt parallel, obgleich oft nicht für voll genommen von ihren Kollegen, mit ihren Ermittlungen immer näher an Anna Jones und ihren dramatischen Countdown heran.

Mafiöse Methoden, eiskalte Gangster, moralische Verwerflichkeiten, menschliche Abgründe und ein mehr als verzwickter Fall machen diesen Thriller aus. Aber ebenso die moralischen, ethischen Überlegungen einer Ärztin und die Gefühle einer Mutter, die sich entscheiden muss. Der Schluss hat mich erst stutzen lassen, dann setzte Beklemmung ein – und Gänsehaut!

Heike Behrens

 


der ruf des eisvogels 150x237

 

Lübbe 22,00€

 

Anne Prettin: "Der Ruf des Eisvogels"

Als Olga am 1.April 1925 in Ginsterburg geboren wird, ist die (politische) Weltnoch in Ordnung.
Durch eine fatale Fehleinschätzung der Geburtssituation, bei der ihre Mutter stirbt, wird ihr Vater fortan als menschenfeindlicher Eigenbrödler sein Dasein fristen. Olgas Großvater ersetzt ihr den Vater und die Mutter. Als Landarzt hoch geachtet und beschäftigt, findet er doch immer wieder Zeit, um die Wissbegier des kleinen Mädchens zu stillen und ihr bei ausgedehnten Spaziergängen die wunderschöne Uckermark zu zeigen. Doch die Idylle wird durch das Weltgeschehen zerstört...

Plön 1991
Olga kehrt nach über 50jähriger Abstinenz zurück in ihre alte Heimat. Gegen ihren Willen haben sowohl ihre Tochter, als auch ihre Enkelin beschlossen, sie mit der Vergangenheit zu konfrontieren! Alte Weggefährten tauchen auf, und Olga beginnt endlich zu erzählen...

Anne Prettin nimmt uns in diesem berührenden Roman auf eine Zeitreise mit. Eine Familiengeschichte vor zu Beginn herrlichster Kulisse entfaltet sich, und die Gegenwart wird perfekt mit der Vergangenheit verwoben. Die Autorin schildert eindringlich und absolut authentisch, wie echte  Freundschaft unser Leben bereichern und verbesssern kann. Ein "Beste-Freundinnen-Buch" im wahrsten Sinne des Wortes!

Andrea Westerkamp

 


fuenf winter 150x237

 

Suhrkamp 20,00€

 

James Kestrel. "Fünf Winter"

1941 Honululu    Jahre in Japan  Rückkehr nach Hawaii

Als ich vor mehreren Monaten diesen Thriller als Vorabexemplar zu lesen begann, war mir nach wenigen Seiten klar: das möchte ich nach Erscheinen unbedingt vorstellen! Nahezu am Stückn las ich die Geschichte des Detective Joe McGrady aus Honululu.
Mit unglaublicher Brutalität wird gleich zu Beginn ein Doppelmord geschildert. Atmen Sie das bitte weg! Es lohnt sich!

Der junge Neffe des Oberbefehlshabers der Pazifikflotte und seine Freundin werden grausam entstellt in einer abgelegenen Hütte gefunden. Joe wird mit der Untersuchung des Verbrechens beauftragt. Die Tote war Japanerin und ein erster Verdächtiger setzt sich nach Hongkong ab. Als der Detective eben dort ankommt, wird er unvermittelt gefangen genommen und als potentieller Spion verhaftet. Eine harte Zeit bricht an, in der Joe McGrady mehr als einmal überzeugt ist, das Gefängnis nicht mehr lebend verlassen zu können. Erst als der Diplomat Takahashi Kansei zu seinen Gunsten aussagt, scheint sich das Missverständnis aufzuklären....

Atemberaubend spannend,temporeich und unglaublich fesselnd - mir fallen tatsächlich nur Superlative ein, um dieses Epos zu beschreiben. Selbst die Liebe kommt nicht zu kurz, was die Authentizität des Thrillers noch verstärkt! Großartig!!!

Andrea Westerkamp

 


das porzellanzimmer 150x237

 

hanserblau 23,00€

 

Sunjeev Sahota: "Das Porzellanzimmer"

Selten habe ich ein Buch gelesen, dass mit solch poetischer Zartheit, mit so wundervollen ziselierten und lebendigen Beschreibungen eine solch harte Geschichte erzählte. Ich bin von der Erzählweise dermaßen beeindruckt, dass ich eine Zeitlang brauchte, mich auf etwas Neues einzulassen.

Der britische Schriftsteller Sunjeev Sahota, dessen Vorfahren aus Punjab stammen, verarbeitet in seinem Roman, durchaus autobiographisch eingefärbt, ein Stück indischer Kolonialschichte, aber auch Erfahrungen eines Einwandererkindes der südasiatischen Minderheit in der weißen und oft feindseligen Mehrheitsgesellschaft. Zwei Handlungsstränge, die einigermaßen locker miteinander verbunden sind, erzählen die Geschichte einer Familie.
Im Jahr 1929 werden drei sehr junge Mädchen an die drei Söhne einer Familie verheiratet; um den finanziellen Aufwand so gering wie möglich zu halten, findet die Hochzeit an einem Tag statt. Arrangierte Ehen sind das: Mehar, die jüngste der Bräute, wurde bereits mit fünf Jahren verlobt, 10 Jahre später wird sie ihrem ihr gänzlich unbekannten Mann übergeben. Das einzige Ziel dieser Zwangshochzeiten ist es, dem Hause und somit der Familie möglichst schnell männlichen Nachwuchs zu bescheren. Die Mädchen leben zusammen in einem kleinen Raum, der nach den sechs dort aufbewahrten Tellern das „Porzellanzimmer“ genannt wird. Ein dunkles Kämmerlein am Rande des Hofes dient als Beischlafgemach, im dem die Ehepaare, nach Anordnung der Schwiegermutter Mai, nachts abwechselnd zusammenkommen. Und so verbringen die Kinderbräute, wie wir das aus heutiger Sicht sehen, Nacht für Nacht in der Erwartung ihres Ehemannes, ohne überhaupt zu wissen, welcher der ihre ist. In kompletter Dunkelheit geben sie sich ihrem Gatten hin, kennen weder seinen Namen noch seine Stimme, wechseln kein Wort. Tagsüber müssen die Frauen unter der Aufsicht ihrer kalten Schwiegermutter kochen, waschen, auf dem Feld arbeiten – ein hartes und freudloses Dasein.
Doch Mehar erhascht einen Blick auf einen der Männer, glaubt, er sei ihr Ehemann – und verliebt sich in ihn. Auch er ist ihr durchaus leidenschaftlich zugetan, die beiden tun das, was strengstens verboten ist: treffen sich an geheimen Orten, sehen einander an, lernen einander kennen, reden miteinander. Man stelle sich diesen ärmlichen Hof vor, das karge Leben, bar jeglicher Vergnügungen, die strengen Regeln: natürlich wird ein jeder jede Minute des Tages und der Nacht beobachtet. Und so werden Ereignisse in Gang gesetzt, die nicht mehr zu steuern sind.

Und dann immer wieder der zweite Erzählstrang der Geschichte: der Urenkel Mehars, 18 Jahre jung, als indischer Einwanderer in Großbritannien immer ein Außenseiter, begibt sich ins Heimatdorf seiner Vorfahren. Nicht ganz freiwillig: er will hier einen kalten Entzug machen und von seiner Heroinsucht wegkommen. Nur wenig älter als seine Urgroßmutter zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit, zieht er sich auf die verlassene Farm der Familie zurück. In der Einsamkeit gelingt es ihm, den Körper an ein Leben ohne Drogen zu gewöhnen und den Kopf von den Gedanken an seine oft unglückliche, von Alltagsrassismus geprägte Kindheit und Jugend in der englischen Provinz zu befreien. Er freundet sich mit einer Ärztin und einem Lehrer an – freie Geister, deren Lebensentwürfe nicht in die weiterhin traditionell geprägten sozialen Strukturen des indischen Dorfes passen. Nur wenig weiß der Mann über das Leben seiner Vorfahrin, ihre Geschichte läuft eigenständig neben der seinen her. Und doch scheinen die Schicksale aller Figuren dieses herausragenden Romans irgendwie miteinander verbunden, so dass er allmählich realisiert, dass letztlich alle Menschen, wenngleich auf unterschiedliche Art, Gefangene gesellschaftlicher Erwartungen sind.

Die Geschichte von Mehar ist eine unfassbar mitreißende; der Autor vermag die Traumata des Patriacharts und des Kolonialismus genauso auszuhandeln wie die familiären, durchaus frauenfeindlichen Strukturen, die ein Entkommen unmöglich machten. Das Sittenbild einer Vergangenheit, die mancherorts immer noch Realität für Frauen und Mädchen ist.

Heike Behrens

 

 

Unsere Buchempfehlungen im Februar


altes leid 150x237

 

Heyne 16,00€

 

Lea Stein: "Altes Leid"

Die patente Ida Rabe macht sich Ende des zweiten Weltkrieges ausgerechnet in das zerbombte Hamburg auf. Die junge Frau muss der Enge und ihrem lieblosen zu Hause auf der Insel Amrum entfliehen.
Es dauert nicht lange und sie wird zur rechten Hand der gefürchteten Untergrundqueen Marlise, wohnhaft in den Bunkergängen unter St. Pauli, wie so viele andere ärmste Kreaturen ohne Dach über dem Kopf. Doch in Ida steckt soviel Ehrgefühl, dass sie das Leben als Halbkriminelle nicht lange aushält und stattdessen eine totale Kehrtwendung macht. Sie marschiert zum Karl Muck Platz und bewirbt sich als weibliche Polizistin und tatsächlich: sie wird an der Polizeischule aufgenommen. Am 1.Mai 1947 hat sie ihren ersten Arbeitstag in der Davidswache, ausgerechnet in ihrem alten Kiez St.Pauli. Die weiblichen Polizistinnen sind im Keller zu Schreibtischarbeiten verbannt. Das passt der abenteuerlustigen, unerschrockenen Ida so gar nicht und auch die schüchterne Blondine, mit der sie einen Raum teilt und die zu allem Überfluss noch die Tochter des angesehenen Kommissars Brasch ist, kann sie von Anfang an nicht leiden.

Mehr als auf das Protokollschreiben und Kontrollen auf dem Schwarzmarkt richtet sich Idas Aufmerksamkeit auf Überfälle in den Vierlanden. Dort werden junge Frauen, die auf Hamsterfahrt gehen hinterrücks ausgeraubt und auf brutale Weise vergewaltigt. Die Opfer  sind derart traumatisiert, dass sie nur den Diebstahl ihrer Werttauschgegenstände zur Anzeige bringen, nicht aber über die furchtbaren Misshandlungen sprechen mögen. Schon gar nicht mit männlichen Polizisten, von denen sie niemals ernst genommen würden. Ida fühlt sich auf den Plan gerufen und ermittelt auf eigene Faust. Damit bringt sie nicht nur ihren Vorgesetzten gegenüber in Schwierigkeiten, sondern sich selbst in höchste Lebensgefahr. Nur gut, dass sie den charismatischen Gerichtsmediziner Ares Konstantinos als Verbündeten an ihrer Seite hat.

Ein spannender Kriminalschmöker, der uns als Leser einmal wieder die bittere Nachkriegsarmut in Gedanken ruft. Es ist unvorstellbar, wie sich manche Menschen aus den Trümmern der Großstädte ohne einen Krümel im Magen und ohne Schlafstatt herausgearbeitet haben. So auch Ida, der am Ende dieses Buches noch eine gehörige Überraschung winkt.
Für Leser*innen von der Hebamme Fräulein Gold oder den Elbstürmen die ideale Lektüre.

Annette Matthaei

 


tanners erde 150x237

 

Rowohlt 22,00€

 

Lukas Maisel: "Tanners Erde"

Tanner ist ein Schweizer Bergbauer, der gemeinsam mit seiner Frau Marie einen kleinen Hof bewirtschaftet: ein paar Kühe, ein paar Weiden für das Futter, das ist alles. Das Einkommen ist bescheiden, aber für Tanner und seine Frau reicht es, die beiden sind zufrieden. Das Leben ist sicher kein leichtes und das Paar kein im Reden großes, aber sie sind sich einig und bewältigen ihren Alltag gemeinsam.
Eines Morgens muss Tanner allerdings eine außergewöhnliche und besorgniserregende Entdeckung machen. Auf einer seiner Weiden hat sich ein Krater aufgetan, groß, tief und unerklärlich. Bald kommt ein zweiter hinzu, niemand versteht, wie es dazu gekommen ist. Tanner sieht seine und Maries Lebensgrundlage bedroht, wie soll er die Kühe füttern, wenn er kein Heu ernten kann? Das Leben gerät aus den Fugen, Geologen und Journalisten bevölkern den Hof, die Nachbarn beäugen diese Aufmerksamkeit misstrauisch: Ob nicht doch Tanner selbst das verursacht hat?

Eines dieser kleinen, schmalen Bücher, die scheinbar so unspektakulär daherkommen, beim Lesen aber eine große Wucht entfalten und lange nachklingen. Sicher eine gute Empfehlung für alle, die „Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler gern gelesen haben.

Astrid Henning

 


flamingo150x237

 

mareverlag 24,00€

 

Rachel Elliott: "Flamingo"

Daniel Berry steht auf der Straße, sowohl im übertragenen, als auch im sprichwörtliuchen Sinn! Seine Freundin verließ ihn und der Vermieter kündigte fristlos und mit sofortiger Wirksamkeit die Wohnung - die Nächte im Park sind noch nicht zu kalt, aber eine heiße Dusche würde ihm gerade sehr helfen...
Als er in der Stadtbibliothek Zuflucht sucht und wie ein Häufchen Elend zusammengesunken über sein Schicksal nachdenkt, sorgt die Begegnung mit einer Fremden für einen Geistesblitz: drei schillernde Flamingos auf einer Rasenfläche stehen plötzlich vor seinem geistigen Auge!

Als Kind lebten Daniel und seine Mutter Eve neben dem Haus mit den drei pinkfarbenen Vögeln! Sherry, ihr Mann Lesly und die beiden Töchter Rae und Pauline sorgten schon bald dafür, dass die beiden Neuankömmlinge sich in der neuen Umgebung wohl fühlten, immerhin war es der zigste Umzug für den kleinen Jungen und seine junge Mutter... Im Haus der Flamingos wurde gelacht, lautstark gesungen, viel debattiert und heftig gestritten - die anschließenden Versöhnungsessen waren legendär. Familienleben, wie man es sich nicht normaler und besser wünschen könnte! Doch dann geschah etwas, womit niemand rechnen konnte... Jetzt, auf dem kalten Boden der Bibliothek sitzend, möchte Daniel ganz schnell zurück in die Stadt, die er vor vielen Jahren verließ...

Ein absolutes Wohlfühlbuch! Der Lambertiplatz befindet sich im "Flamingo" - Rausch ;)

Andrea Westerkamp

 


bissle spaetzle habibi 150x237

 

Ullstein Verlag 11,99€

 

Abla Alaoui: "Bissle Spätzle, Habibi?"

STOPP!
Geben Sie diesem Buch eine Chance! Trotz des haarsträubenden Covers… Bitte nicht lange den Kopf schütteln, schnell aufschlagen und anfangen zu lesen! Es lohnt sich total! So unterhaltsam, so kurzweilig, so kulturvermittelnd, so berührend, so viel Hamburg und so viel Essen – „Bissle Spätzle, Habibi?“ macht einfach nur Spaß und öffnet einem Augen und Herz.

Amaya Baysan ist als Tochter marokkanisch-muslimischer Migranten und Älteste von drei Geschwistern in Hamburg geboren und aufgewachsen. Ihre Kindheit und Jugend waren geprägt von einem typisch norddeutschen Schulalltag und der engen Freundschaft zu Klara Luise Dietrich sowie einem liebevollen, fröhlichen Zuhause, in dem die Familienbande, das Leben marokkanischer Traditionen und die vom Islam geprägten Werte der Eltern wesentliche Bestandteile ausmachten. Für die 30-jährige Amaya, die sich selbst als moderne Muslima und das Ausüben ihres Glaubens als etwas sehr Privates betrachtet, hat dies schon immer einen ständigen Spagat zwischen westlichem Lebensstil und den konventionellen Wertevorstellungen ihrer Eltern bedeutet. Die Familie ist ihr über alles wichtig, ihr eigenes Leben und die Freiheit, für sich selbst zu bestimmen, aber eben auch.
Gegen Babas Willen hat Amaya ein Schauspielstudium absolviert. Recht erfolgreich! Zum (späten) Stolz ihrer Familie spielt sie eine große Rolle in einer beliebten Soap. Doch der Preis für die Verwirklichung ihrer eigenen Träume war hoch: Ihre Eltern brachen aufgrund dieser „unzüchtigen“ Ausbildung den Kontakt zur ältesten Tochter ab. Vier Jahre konnte Amaya nur über ihre Geschwister erfahren, wie es den Eltern geht. Den Fehler, offen ihre eigenen Wünsche über die Grundsätze ihres Vaters zu stellen, macht Amaya nicht noch einmal. Regeln wie das strikte Alkoholverbot lassen sich recht leicht umschiffen. Doch dass sie sich ausgerechnet in den attraktiven, bodenständigen, verständnisvollen, sehr geduldigen Kinderchirurg Daniel verliebt, stellt Amaya vor eine große (kulturelle) Herausforderung. Denn Daniel ist nicht nur KEIN Muslim, sondern auch noch SCHWABE! Der Kulturclash wird schnell überwunden. Aber wie soll Amaya umgehen mit ihrer Liebe zu diesem quasi perfekten Mann, den ihre Eltern konsequent als Partner ablehnen würden? In die Enge getrieben von den Verkupplungsversuchen ihrer Mutter und Schwester mit Hilfe von tinder (nein: minder!), stellt Amaya ihrer Familie Daniels besten Freund Ismael als potentiellen Zukünftigen vor. Nach einem Jahr überaus anstrengender Geheimhaltung ihrer wahren Liebe passiert dann, was passieren muss: Die Bombe platzt – natürlich im unpassendsten Moment. Baba Baysan bricht ob der Offenbarung dieser unsäglichen Lüge zusammen. Amaya hyperventiliert; der Gedanke daran, ihre Familie ein zweites Mal, endgültig zu verlieren, reißt ihr den Boden unter den Füßen weg. Zum Glück siegen manchmal dann aber doch Liebe und Verständnis über Glaubenssätze und Traditionen…

Abla Alaoui, selbst Hamburgerin und Musicaldarstellerin mit marokkanischen Wurzeln, hat, so scheint es, ganz viel von sich selbst in ihren Debütroman gesteckt. Wie sonst könnte jemand so empathisch, so sensibel, so echt diese schmerzvolle innere Zerrissenheit einer jungen Frau beschreiben, die mit Leib und Seele den marokkanischen Traditionen und den Werten des islamischen Glaubens ihrer Eltern verschrieben ist und gleichzeitig ihr Leben selbstbestimmt und frei von Konventionen leben möchte; die sich zwischen der Liebe eines Mannes, den ihre Eltern niemals akzeptieren würden, und der Liebe ihres Vaters entscheiden muss? Man fragt sich, ob es ein Stück weit Abla Alaouis eigene Geschichte ist.
Lebendig, humorvoll und dabei immer sensibel schildert sie Szenen wie die erste Begegnung zwischen der hamburgisch-marokkanischen Amaya und Daniels schwäbischen Eltern, nimmt sie deutsche sowie marokkanische Gepflogenheiten aufs Korn. Herzzerreißend spürbar dargestellt sind Amayas Panikattacken bei dem Gedanken daran, ihr Vater würde sie erneut aus der Familie verbannen. Mit den zwischengeschobenen Passagen über Amayas Kindheit und Jugend sorgt Alaoui für Abwechslung und erklärt nebenbei, wie diese innere Zerrissenheit Amayas entstehen konnte.
Als Überschriften für alle Kapitel fungieren zum Nachdenken anregende arabische Sprichwörter, in arabischen Schriftzeichen sowie deutscher Übersetzung gedruckt.

Nina Chaberny-Bleckwedel

 

 

Unsere Buchempfehlungen im November


koenigsmoerder 150x237

 

Heyne 24,00€

 

Robert Harris: "Königsmörder"

Nach dem erbitterten Bürgerkrieg zwischen Royalisten und Republikanern wird Karl I am 30. Januar 1649 vor der Residenz Whitehall in London hingerichtet. Unter infernalischem Gejohle des Volkes fällt sein Kopf. Oliver Cromwell bekleidet ab jetzt die Rolle des Lordprotektors und steht dem Parlament vor. Er und 58 weitere Mitstreiter unterschreiben das Todesurteil des Königs aus dem Hause Stuart.
11 Jahre später hat sich das Blatt für die Parlamentarier gewendet. Karl II hat den Thron zurückerobert und verabschiedet einen Schulderlass für alle. Die Unterzeichner des Todesurteils aber sind ausgenommen und werden bedingungslos gejagt und brutal ermordet. Mehr als die Hälfte der Männer Cromwells kommen in England ums Leben. Einige setzten sich nach Holland, Deutschland oder die Schweiz ab. Aber auch dort wird ihnen nachgestellt und nur wenige sterben eines natürlichen Todes.

Ned Whalley und William Goffe, zwei enge Mitstreiter Cromwells, lernten sich in dessen Regiment kennen. Der junge Will verliebte sich in die Tochter des älteren Whalleys und ehelichte diese. Schnell erkennen die beiden nun verwandten Oberste, dass es für sie in England kein Entrinnen gibt und setzen sich mit einem Schiff im Mai 1660 nach Neuengland ab. Im Juli gehen sie in Boston von Bord und werden von dortigen Puritanern versteckt. Was sie nicht wissen ist, dass ihnen ein Mann auf der Spur ist, der kein Erbarmen kennt und vor Fanatismus glüht, Richard Nayler! Er hat gute Gründe für seinen Feldzug, waren es doch Goffe und Whalley, die den Tod seiner Frau und seines Kindes verursacht haben.
Es beginnt eine, wirklich bis auf die letzte Seite, enorm spannende Jagd durch ganz Neu England nach den beiden letzten Königsmördern.

Da ist Robert Harris mal wieder ein ganz großer Wurf gelungen. Minutiös recherchiert und mit Sogwirkung bringt er uns Lesern eine dunkle Seite der englischen Geschichte nahe. Ein tolles Buch, das ganz sicher unter dem Tannenbaum für Begeisterung sorgen wird.

Annette Matthaei

 


hoehenrausch 150x237

 

Rowohlt Berlin 28,00€

 

Harald Jähner: "Höhenrausch"

Schon mit „Wolfszeit“ hat Harald Jähner bewiesen, wie packend Zeitgeschichte sein kann, das Buch war 2019 ein großer Erfolg und erhielt den Preis der Leipziger Messe.

In seinem neuen Buch widmet sich Jähner der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert, beginnt also im November 1918, endet allerdings bereits im Frühjahr 1933, als Hitler Reichskanzler wird und die Weimarer Republik ein Ende findet. Die Stärke von Jähners Beschreibung liegt zum einen in seiner intensiven Recherche, in seiner Kompetenz und seinem glänzenden Stil, zum anderen aber in der umfassenden Beschreibung des Alltags der Weimarer Republik. Natürlich geht es um den politischen Übergang vom Kaiserreich zur Republik, den der Autor faktenreich und dennoch sehr lesbar und spannend schildert. Aber Jähner berichtet eben auch von sämtlichen Bereichen des Alltags, die jedermann und jede Frau betrafen: Wohnen, Verkehr, Mode, Freizeitvergnügen, die veränderte Arbeitswelt als Folge der zunehmenden Technisierung, das Verhältnis zwischen Männern und Frauen – es wird deutlich, wie alles mit allem zusammenhängt, und nicht jede Veränderung von jedem begeistert auf- und wahrgenommen wird.

Sehr erstaunlich, wie viele Themen in den 20er Jahren aufkamen, die unseren Alltag auch heute maßgeblich prägen: die zunehmende Individualisierung, das Aufbrechen der Geschlechterrollen (auch wenn es das Wort „queer“ so noch nicht gab), es ist die Rede von „Kommunikationsblasen“, auch das Wort „Lügenpresse“ gab es bereits und das Tischtelefon beim Tanztee kann als Vorläufer von Dating-Apps gelten. Man kann nicht umhin, gewisse Parallelen zu heutigen Verhältnissen zu entdecken und blickt nach der Lektüre dieses Buches noch eine Spur nachdenklicher und hoffentlich wacher auf unsere Gegenwart.

Astrid Henning

 


mit dir bis ans andere ende der welt 150x327

 

Eisele 24,00€

 

Mary Beth Keane: "Mit dir bis ans andere Ende der Welt"

Die Geschichte beginnt in den 60er Jahren in einem Dorf im bettelarmen Irland.

Big Tom und seine Frau haben fünf Kinder, drei große Jungen, die bildhübsche Lily und dann noch Greta, die Nachzüglerin. Greta wird in der Familie „die Gans“ genannt, denn mit schief gehaltenem Kopf und flatternden Armen läuft sie wie ein Gänslein immerfort linkisch ihrer älteren Schwester hinterher.
Lily zieht es in die weite Welt. Das Volk der Traveller hat es ihr besonders angetan. So ist sie kaum zu halten, als das fahrende Volk auch in ihr Dorf kommt. Michael Ward ist ein junger Gipsy mit dunklen Locken und Lily verliebt sich in ihn.
Niemals hätte Greta sich vorstellen können ihr Dorf und vor allem ihre Familie zu verlassen. Aber als ihr Vater Big Tom ums Leben kommt, weiß die Mutter sich keinen Rat und gibt dem Drängen von Lily nach, nach New York auszuwandern wie so viele Menschen aus Irland. Bedingung ist, dass die sechszehnjährige Greta sie begleitet. Und so stehen die beiden Mädchen eines Tages beklommen an der Reling eines großen Schiffes, das sie in die verheißungsvolle neue Welt bringen soll und sehen ihre Familie an Land immer kleiner werden. Was die Mutter nicht weiß: auch Michael Ward ist mit an Bord.
New York erfüllt erwartungsgemäß nicht die Träume der Neuankömmlinge. Lily zerbricht fast an ihrem Schicksal, doch Greta und das hätte keiner, am wenigsten sie selbst, geglaubt, wächst über sich hinaus.

Frau Keane ist ein wunderbarer Familien- und Auswandererroman gelungen, den ich nicht mehr aus der Hand legen wollte. Die Figur der Greta hat mich in ihrer Zähigkeit, bedingungslosen Liebe zur Schwester und Bescheidenheit zutiefst berührt.
Viele Themen, die ein gutes Buch braucht, werden hier behandelt, einfach toll!!!

Annette Matthaei

 


ein lied vom ende der welt 150x237

 

Goldmann Verlag 24,00€

 

Erica Ferencik: "Ein Lied vom Ende der Welt"

Lieben Sie Kälte, Eis und Schnee? Träumen Sie auch von einer Reise nach Nordgrönland, zu Gletschern und Eisbergen, in die Stille und Weite des Ewigen Eises? Mögen Sie spannende Geschichten mit erträglichem Nervenkitzel? Dann sollten Sie unbedingt dieses Buch lesen!

Valerie, um die vierzig, geschieden, ist Linguistik-Professorin an einer Universität in Boston und Expertin auf dem Gebiet der Altnordischen Sprachen. Zu ihrem Vater, einem renommierten Klimawissenschaftler, der seit einer schweren Lungenkrebserkrankung in einem Pflegeheim dahinsiecht, ohne sein herrisches Auftreten und seinen messerscharfen Verstand eingebüßt zu haben, hat Val seit jeher ein schwieriges Verhältnis. Ihre Psychosen haben sich durch den angeblichen Selbstmord ihres geliebten Zwillingsbruders Andy, der als leidenschaftlicher Umweltschützer und Klimaforscher tot im Arktischen Eis aufgefunden wurde, noch verstärkt. Schon lange lebt Val mit einer lähmenden Angst vor allem Unbekannten; nun kann sie ihre Panikattacken nur noch mit der regelmäßigen Einnahme von Beruhigungstabletten und einem mäßig moderatem Alkoholkonsum in Schach halten.
Eine Email von Andys Mentor Wyatt, der sich nach wie vor zu Forschungszwecken auf einer internationalen Klimaforschungsstation im Nordwesten Grönlands aufhält, reißt Valerie aus ihrem deprimierend, aber beruhigend eintönigen Alltag: Wyatt und seine Kollegin Jeanne haben ein Inuit-Kind gefunden, eingefroren im Eis, und es in der Station aufgetaut. Unerklärlicherweise lebt es! Und es spricht eine völlig unbekannte Sprache...
Es kostet Val mehr als pure Überwindung, sich auf die Reise zu begeben, an einen unwirtlichen, fast menschenleeren Ort, an den Ort, an dem ihr Bruder ums Leben kam. Doch die fremdartigen Laute auf der mitgeschickten Tonaufnahme, die wie verzweifelte Hilferufe klingen, faszinieren und berühren die einsame Frau. Mit einem Militärflugzeug landet sie kurze Zeit später in der Arktis. Dort trifft Val nicht nur auf ein kleines, wildes Mädchen, dessen mysteriöse Sprache sie zwar nur langsam dechiffrieren, dessen Vertrauen sie jedoch recht schnell gewinnen kann. Der narzisstische, attraktive Wyatt drängt auf Ergebnisse und zeigt sich zunehmend skrupelloser. Indessen bringt die ruhige und fürsorgliche Jeanne nach und nach ihr wahres Ich zum Vorschein. Und dem jungen, britischen Polarmeerforscherpärchen Nora und Raj wird sein Engagement letztlich zum Verhängnis.

„Ein Lied vom Ende der Welt“ ist fantastische Unterhaltung vor einer atemberaubenden Kulisse! Wann, bitte, wird dieses Buch verfilmt? Mit zunehmend steiler ansteigender Spannungskurve läuft die Story auf ihren Höhepunkt zu. Gekonnt lässt die Autorin uns Leser*innen Valeries Perspektive einnehmen, macht uns genauso atemlos und lässt unser Herz schneller schlagen.
Der englische Originaltitel „Girl in Ice“ ist dabei eigentlich viel passender. Denn genau darum geht es in diesem (Climate Fiction?-)Roman, vielleicht sogar im doppelten Sinne: Auch Valerie ist eingefroren, gefangen in ihren Ängsten und ihrem Alltag, bis sie durch die Begegnung mit Naaja auftaut…
Wissenschaftliche Fakten gepaart mit fiktiven Elementen, die zum Nachdenken anregen, interessante, scharf gezeichnete Figuren, die alle ihre eigene Geschichte haben, und nicht zuletzt die wunderschönen, fast poetischen Abschnitte über Linguistik, Ausdruck von Sprache und Bedeutung von Wörtern machen Erica Ferenciks ersten Roman in deutscher Übersetzung zu einem echten Lesevergnügen!

Nina Chaberny-Bleckwedel

 


denk an mich wenn du stirbst 150x237

 

Penguin 11,00€

 

Jennifer Hillier: "Denk an mich, wenn Du stirbst"

Die Vorweihnachtszeit fordert uns Jahr für Jahr heraus. Besonders anstrengend gestaltet sich in diesen Wochen das Einkaufen mit Kindern...
So hat auch Marin an diesem folgenschweren Tag mindestens eine Hand zu wenig! Bepackt mit diversen Tüten, telefoniert sie mit ihrem Mann. Das wiederum nutzt der 4jährige Sebastian aus, um Richtung Süßigkeiten abzuwandern...

Ein ganzes Jahr später ist der kleine Junge immer noch verschwunden. Derek und Marin sind am Boden zerstört, und dieser Schicksalsschlag bekommt ihrer Ehe nicht gut. Während die Polizei über keine neuen Erkenntnisse verfügt, wird die von Marin heimlich beauftragte Detektivin eine Bombe platzen lassen: Derek hat seit einiger Zeit eine heimliche Geliebte! Die junge Kenzie mit ihrem lächerlich rosa gefärbtem Haar muss verschwinden! Marins ohnehin mehr als angeschlagene Psyche erträgt diese neue Herausforderung auf gar keinen Fall mehr. Wie gut, dass ihr alter Freund und ehemaliger Partner Sal eine Lösung parat hält. 100.000 Dollar wechseln den Besitzer und Marin muss nur noch zustimmen, dann verschwindet die unerwünschte Person aus Dereks Leben...
Währenddessen lernen wir Kenzie näher kennen, und erfahren, dass es oftmals mehr, als nur eine Wahrheit gibt!

460 Seiten, die man mal eben kurz inhaliert. Allerdings höre ich schon Ihre Bedenken: Wenn es um Kinder geht.....VERTRAUEN Sie mir!

Andrea Westerkamp

 


mimik 150x237

 

Droemer HC 24,00€

 

Sebastian Fitzek: "Mimik"

Hannah Herbst ist Deutschlands erfahrenste Mimikresonanz-Expertin und hat sich u.a. auch bei der Polizei einen Namen gemacht. Kleinste mimische Veränderungen kann sie auswerten, so dass mit ihrer Hilfe und Expertise bereits so einige Gewaltverbrecher überführt werden konnten.
Als Hannah Herbst nun an einem fremden Ort, in einem kargen Hotelzimmer erwacht, kann sie sich nicht orientieren. Nach einer Operation leidet sie an einem partiellen Gedächtnisverlust. Völlig überfordert mit der Situation findet sie sich gefesselt in einem Bett wieder, voller Schmerzen, nahezu bewegungsunfähig. Und sie kann sich nicht einmal ansatzweise daran erinnern, wie (und vor allem auch warum) sie hier gelandet ist.
Ein fremder Mann kommt aus dem Badezimmer auf sie zu und zeigt ihr ein Geständnis-video der Polizei, in dem eine bis dato unbekannte Frau zugibt, ihren Mann Richard und seine Tochter aus erster Ehe bestialisch ermordet zu haben. Hannah Herbst soll die Mimik dieser Frau analysieren, um herauszufinden, ob sie lügt. Eine an und für sich bizarre Situation, jedoch es kommt noch schlimmer: die Frau in dem Video, so wird ihr offenbart, ist sie selbst.
Seit Jahrzehnten hat Hannah Herz ihr eigenes Gesicht nicht mehr gesehen, sämtliche Spiegel in ihrem Zuhause sind abgehängt, die Fenster entspiegelt und verdunkelt. Sobald sie sich nämlich selber in die Augen schaut, kann sie ihrer Gefühle und ihrer Mimik nicht Herr werden. Und nun also die Konfrontation mit dieser entsetzlichen und erschütternden Polizeiaufnahme. Hannah Herz muss sich ihrem schwierigsten Fall stellen, wenn sie das Leben ihres jüngsten Sohnes Paul noch retten will…

Ein Fitzek der allerersten Güte – spannend und klug konstruiert, mit Irrwegen und falschen Fährten und einem Plot, der es in sich hat!

Heike Kasten

 


unter den wolken 150x237

 

Heyne 22,00€

 

Achim Bogdahn: "Unter den Wolken"

Auf diese Idee muss man erstmal kommen…

Andere besteigen die höchsten Berge Europas oder gar den Mount Everest, Achim Bogdahn ist da eine Nummer kleiner unterwegs: Er nimmt sich vor, den jeweils höchsten Berg, naja, sagen wir teilweise mal lieber „Erhebung“ der 16 Bundesländer zu erwandern/besteigen, und zwar mit prominenter Begleitung.
Wir sprechen da vom kleinen Hügel in Bremen, 32,5 m, ein Spaziergang mit Henning Scherf, aber natürlich auch von der Bezwingung des höchsten Bergs Deutschlands, der Zugspitze, zusammen mit Felix Neureuther. Entstanden ist so ein sehr vergnügliches Buch mit vielen Facetten, denn man lernt sowohl etwas über das jeweilige Bundesland, über die Menschen, die dort wohnen, ihre Geschichte und Mentalität, aber natürlich erfährt man ebenso viel über Bogdahns Begleitung, und da hat er wirklich viel zu bieten: Zwei Mitwanderer habe ich eben schon erwähnt, dazu kommen so unterschiedliche Menschen wie der Schauspieler Devid Stresow (MVP), Margot Käßmann (Niedersachsen), Ex-Fussballer Mehmet Scholl (BW) oder aber „Brocken-Benno“, der 84-jährige Rentner, der seit Jahrzehnten täglich den Brocken bezwingt.

Ein Buch für Menschen, die gern wandern, ein Buch für Menschen, die gern mehr über Deutschland und seine Geographie wissen möchten, aber auch für alle, die sich gut unterhalten lassen wollen.
Achim Bogdahn hat als Radiomoderator und Talkmaster vielfältigste Erfahrung im Umgang Prominenten, was seiner Gesprächsführung absolut zugutekommt. Humorvolle Begegnungen auf Augenhöhe, sowas liest man gerne.

Astrid Henning

 


weiter atmen 150x237

 

Kampa 24,00€

 

JJ Bola: "Weiter atmen"

$9.021 halten Michael Kabongo am Leben. Das ist sein gesamtes Erspartes und er hat sich vorgenommen: wenn das Geld alle ist, bringt er sich um.
Bis dahin reist er durch die Weltgeschichte und lernt Menschen kennen, die ihn daran erinnern, was gut am Leben ist. Menschen, die seine Mauern durchbrechen. Doch die Zweifel und Ängste sitzen tief. Auch seine Kollegin Sandra hat er zurückgelassen, mit der er sich so gut versteht. Seinen besten Freund Jalil, der zwischen kulturellen Erwartungen und eigenem Willen gefangen scheint. Die Mutter, die nur im Glauben ihren Frieden findet. Den „Problemschüler“ Duwayne, dem er so gerne geholfen hätte. Auch die traumatischen Ereignisse seiner Flucht aus dem Kongo, das ständige Gefühl zwischen den Welten gefangen zu sein, schleppt er mit sich wie den Reisepass, dieses kleine und doch so wichtige Dokument, das nicht nur für ihn den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten kann.

Trockenhumorig, sympathisch, herzerwärmend, vor allem aber traurig und sehr nachdenklich kommt Michael daher, der sich stets verändert und wir, die wir über ihn lesen, können nicht anders als ihn auf seinen Reisen anzufeuern und gleichzeitig in seine stille Verzweiflung zu versinken.
JJ Bolas Roman über einen Mann, der sich allzu tief in seine Gedanken zurückzieht, bedient sich einer leicht zugänglichen Poesie, die der Dramatik um den immer weiter sinkenden Kontostand – und damit dem näherkommenden Todesurteil – einen angenehmen Ruhepol entgegensetzt.

Mattes Daugardt

 


unschuld 150x237

 

Penguin 22,00€

 

Takis Würger: "Unschuld"

35 Tage. So viel Zeit bleibt Molly zu beweisen, dass ihr Vater kein Mörder ist.

Casper Rosendale musste damals sterben, aber niemand spricht über das, was geschehen ist. Kollektiv scheinen alle schweigen und vergessen zu wollen. Was ist damals wirklich mit dem sensiblen Goldjungen geschehen, dem die gesamte Stadt zu Füßen lag?
Als Hausmädchen schleust Molly sich in das herrschaftliche Anwesen der Rosendales ein, blickt hinter die efeubedeckten, altehrwürdigen Mauern, doch ihre eigenen psychischen Probleme behindern die Ermittlungen.
Auch Joe, Caspers kleiner Bruder, ist eine geplagte Seele und leidet unter der Last des alten Geldes seiner Familie. Gemeinsam begeben sie sich auf einen Wettlauf gegen die Zeit, um die Hinrichtung eines Unschuldigen zu verhindern.

So reduziert und effektiv, wie nur ein Journalist einen Roman schreiben kann: Takis Würger schafft es mit scheinbar gefühlsfernen Worten von ganz großen Emotionen zu erzählen, die tief in die Erlebniswelt der handelnden Personen eintauchen lassen. Rasant in der Struktur und dennoch erzählerisch auf zarte Momente verweilend, ist „Unschuld“ ein Text der Gegensätze. Arm wird reich gegenübergestellt, Schuld der Unschuld, das Gute dem Bösen. Eine Studie über die Tragödien des Lebens und deren Einfluss auf das Miteinander, die gleichzeitig das Rechts- und Gesellschaftssystem der Vereinigten Staaten hinterfragt.

Mattes Daugardt

 


ein sommer in niendorf 150x237

 

Rowohlt 22,00€

 

 Heinz Strunk: "Ein Sommer in Niendorf"

Roth, ein bis dato erfolgreicher Wirtschaftsanwalt, Ehe in Dutt, Verhältnis zur Tochter zerrüttet, alles zu viel, vieles zu wenig, beschließt, ein kurzes Sabbatical an der Küste zu nehmen, um seine eigene Familiengeschichte in einen Roman zu packen und damit, das steht außer Frage, auf allen Kanälen Erfolg zu haben. Er imaginiert sich bereits als "Starautor auf ausverkaufter Lesereise, an dessen Lippen allabendlich Hunderte (Tausende) von Menschen hängen“.
Und so landet er in Niendorf, in den ein wenig heruntergekommenen „Ostsee-Appartments“, ein denkbar kleinbürgerliches Setting, was die Fallhöhe nur noch vergrößert. Die Restaurants tragen Namen wie „Brimborium“, und auf den Speisekarten wird Salat „als etwas Frisches vorweg“ angekündigt. In diesem Milieu ist auch Roths distanzloser Zimmervermieter zuhause, der örtliche Strandkorbverleiher und Spirituosenhändler Breda, der selbst sein allerbester Kunde ist: kaputt, alkoholkrank, mit fast dämonischen Zügen.
Roth nun widmet sich akribisch seinem Buchprojekt, nach zwei Tagen allerdings bedarf er der Abwechslung und wird von Breda warm empfangen. Die beiden Männer verbringen immer mehr Zeit miteinander, begleitet von Cola und Rum, Cola und Whisky, Weinbrand und Cognac, und Roth wird unausweichlich in dieses prekäre Universum des Suffs und der Demütigungen hineingezogen. Und weil die Arbeit fehlt, die all die Jahre verlässlich den Alltag strukturiert hat, bricht rasch das nicht sehr stabile Persönlichkeitsgerüst zusammen, und der Anwalt entpuppt sich als bedürftiger, sich selbst über-schätzender, Schwächling.

Heinz Strunk vermag sämtliche Personen, die seinen Roman bevölkern, scharf und eindrücklich zu skizzieren, er vermag es, Situationen zu zeichnen, die wir alle kennen, die allerdings mit seinem zum Teil humorgetränkten Blick zu lautem Lachen verführen.
Ein Irrtum wäre es allerdings, Heinz Strunks Ostseeroman als oberflächliche Unterhaltungslektüre abzutun – er schafft es, das Existenzielle durch Komik aufzufangen.

Heike Kasten

 


lincoln highway 150x237

 

Hanser  26,00€

 

Amor Towles: "Lincoln Highway"

Nach dem Motto : das Beste zum Schluss, möchte ich Ihnen heute meinen  Herbstliebling vorstellen.

Spätestens seit dem "Gentleman in Moskau" gehöre ich zu Amor Towles Fangemeinde. Sein im Juli erschienenes Roadmovie spielt 1954 in Amerika. Die Stimmung im Land ist verhältnismäßig ausgelassen, ein Krieg liegt gerade hinter vielen Soldaten, der nächste bahnt sich noch nicht an. Die Jugend möchte leben, wild und frei und ohne an morgen zu denken. Die Musik, besonders der Rock ´n Roll, spiegelt das ungezähmte Lebensgefühl einer jugen Generation wider.
Der 18.jährige Emmett bekommt davon anfänglich wenig mit. Sein Vater ist überraschend verstorben, und so wird ihm der Rest seiner Jugendstrafe erlassen, damit er sich um Billy, seinen kleinen Bruder, kümmern kann. Hoch verschuldet bietet die Ranch, auf der die zwei Jungs aufwuchsen, keine Option mehr. Also bittet Billy, die vor Jahren weggelaufene Mutter zu suchen. Acht Postkarten von ihr, sollen ihnen den Weg zu ihr zeigen.... Dieser entzückende Junge, der sich als wandelndes Lexikon erweist, glaubt fest an den Erfolg.
Kurz vor Abfahrt der beiden stehen plötzlich Duchess und Wooly in der Garage. Beide verbüßen ebenfalls Jugendstrafen. Heimlich türmten sie im Kofferraum des Fahrzeugs, das Emmett nach Hause brachte, aus der Anstalt... Ihre Pläne sind ziemlich konkret, unterscheiden sich geographisch jedoch gewaltig von denen der Brüder. New York ist ihr Ziel. Dort haben beide wichtige Dinge zu erledigen. Da man sich nicht einig wird, stehlen sie kurzerhand Emmetts Auto und brausen los. Die Verfolgung per Eisenbahn ist überaus unterhaltsam...

Aus acht unterschiedlichen Perspektiven wird dieser großartige Roman erzählt. Alle vier Jungs sind überaus sympathisch, und vier weitere Figuren vervollständigen diese spannend-amüsant-berührende Geschichte. Leseempfehlung ab 18!

Andrea Westerkamp

 


diese wilde freude in mir 150x237

 

dtv 22,00€

 

Samantha Silva: "Diese wilde Freude in mir"

Der Untertitel dieses wunderbaren Romans lautet: Mary Wollstonecraft: Ikone der Frauenbewegung, furchtlose Denkerin, Mutter.

Ende August 1797 lernen wir die hochschwangere Mary kennen. In wenigen Tagen soll ihr zweites Kind zur Welt kommen, und während sie ungeduldig darauf wartet, rät ihr die ebenfalls wartene Hebamme, dem Ungeborenen die eigene Lebensgeschichte zu erzählen: Schon als 13 Jährige verlangte die kleine Mary damals Bildung für sich und ihre jüngeren Schwestern. Aufgewachsen in sich ständig verschlechternden Lebensumständen, der Vater verlor sein Vermögen beim Spielen, fand sie es ungerecht, dass die Brüder unterrichtet wurden, während sie höchstens zum Sticken und Nähen angehalten wurde.
Der Wunsch nach Gleichberechtigung, die Sehnsucht nach Bildung und die Unerschrockenheit im Umgang mit Autoritäten sorgten dafür, dass Mary Wollstonecraft als junge Frau bereits über die Grenzen Londons hinaus bekannt wurde. Als sie mit Gleichgesinnten nach Paris reiste, geriet sie in Lebensgefahr Immerhin wütete dort die Revolution....

Am Ende des Berichts wird ein kleines Mädchen geboren,  das seinerseits noch viel berühmter werden sollte, als es die Mutter je war!

Andrea Westerkamp

 

 

Unsere Buchempfehlungen im Oktober

 


das ende des kapitalismus 150x237

 

Kiwi 24,00€

 

Ulrike Herrmann: "Das Ende des Kapitalismus"

Der Titel dieses spannenden Buches ist vielleicht etwas unglücklich gewählt, klingt er doch ein bisschen plakativ und ideologisch. Der Inhalt allerdings ist ein höchst aktueller, kompetenter und angenehm differenzierter Bericht über die Lage unserer (Wirtschafts)-Nation.

Seit 50 Jahren wissen wir, dass es „Grenzen des Wachstums“ gibt, der berühmte Bericht des Club of Rome erschien 1972. Wollte man aber gar nicht gerne hören, damals nicht und heute auch nicht. Denn unser Wirtschaftssystem, der Kapitalismus, verträgt sich überhaupt nicht mit Wachstumsgrenzen, im Gegenteil: Dieses System benötigt das Wachstum, weshalb es ziemlich finster mit der Zukunft des Kapitalismus aussieht. Und zwar nicht aus ideologischen Gründen, sondern deshalb, weil in naher Zukunft aus rein ressourcen-bedingten Gründen kein Wachstum mehr möglich sein wird: zu wenig Rohstoffe, zu wenig Energie, für zu viele Menschen.

Insofern kritisiert Herrmann auch den Begriff des „grünen Wachstums“ und beschreibt in ihrem Buch sehr nachdrücklich, weshalb es eher um „grünes Schrumpfen“ gehen muss. Vor allem aber beschreibt sie, wie eine demokratische, pluralistische Gesellschaft diesen Prozess überleben und gestalten kann, ohne daran zugrunde zu gehen und in Extremismus auszuarten.
Ein unglaublich aktuelles und kluges Buch, dem man viele LeserInnen wünscht.

Astrid Henning

 


jahre mit martha 150x237

 

Fischer Verlag 24,00€

 

Martin Kordic: "Jahre mit Martha"

Zeljko Kovacevic wächst als mittleres von drei Kindern in einer Zweizimmerwohnung in Ludwigshafen auf. Aus Bosnien-Herzegowina sind die Eltern nach Deutschland umgesiedelt. Seinen Vater sieht er oft wochenlang nicht. Der schuftet lange Tage auf dem Bau, schläft in Containern, fernab der Familie. Die Mutter hat so viele Putzstellen, dass sie diese allein gar nicht bewältigen kann. So müssen Jeljko und seine kleine Schwester mit anpacken und sie begleiten. Er ist ein wissbegieriges, phantasievolles Kind. Seinen Lesehunger befriedigt er, indem er alte Zeitschriften aus den Altpapiercontainern fischt.

Eine Stelle bekleidet die Mutter in dem hochherrschaftlichen Haus der Professorin Martha Gruber. Diese Frau ist wie eine Göttin für den kleinen Jeljko. Er lässt sie nicht aus den Augen und bewundert ihre Schönheit, ihre Bildung und die elegante Ausstrahlung. In den späten 90ern, der Junge ist fünfzehn und nennt sich jetzt nur noch Jimmy, um dem herzegowinischen Namen mit den Zischlauten zu entkommen und nicht sofort als Jugo entlarvt zu werden, kommt es zwischen ihm und der mehr als doppelt so alten Frau zu einem ersten Kuss, aus dem sich langsam eine echte Affäre entwickelt.
Der intelligente Jimmy möchte lernen, es zu etwas bringen, nur nicht in die Fußstapfen seines Vaters steigen. Martha protegiert den Heranwachsenden, bringt ihm Kultur und Lebensstil nahe und tatsächlich schließt Jimmy ein Universitätsstudium ab. Doch das Leben erfährt eine Planänderung: „Ich war ein junger Mann mit Universitätsabschluss, der illegal Autos in das Land einführte, aus dem seine Eltern vor Jahrzehnten fortgegangen waren, weil sie sich und ihrer Familie eine Welt ermöglichen wollten, in der für ein gutes Leben keiner etwas tun muss, was nicht rechtens ist.“

Was wie eine Liebesgeschichte á la Mrs. Robinson beginnt, entwickelt sich im Laufe des Buches zu der Geschichte eines Mannes, der in Deutschland geboren und aufgewachsen, leidvoll seine Identität suchen muss und zwischen Baum und Borke hängt. Geprägt durch deutsche Kultur, Bildungssystem und Menschen, fließt doch herzegowinisches Blut durch seine Adern und letztlich ist die Bindung zur Familie das dicke, tragende Seil.
Einfühlsam und wunderschön geschrieben, macht dieses Buch deutlich, wie schwer es ist Fuß zu fassen in einem Land, das Menschen aus anderen Kulturkreisen noch immer mit derartig großen Vorurteilen gegenüber steht.

Annette Matthaei

 


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Kiwi 24,00€

 

Daniela Dröscher: "Lügen über meine Mutter"

„Lügen über meine Mutter“ entging dem Deutschen Buchpreis dieses Jahr nur knapp, bis auf die Shortlist hatte er es geschafft.
Was den Text für mich ausmacht, ist dass er trotz heftiger Thematik doch so wunderbar lesbar bleibt. Ein zärtliches Denkmal einer Kindheit, die nicht einfach war, aber doch vor allem von der liebevollen Mutter geprägt ist.

Daniela Kröscher lässt ihre Kindheit der 1980er Jahre wieder aufleben: die kleine Ela lebt mit ihren Eltern und Großeltern in einem kleinen Dorf, wo das Ansehen nicht trennbar ist vom Familienglück. Ela findet ihr Leben ziemlich perfekt, aber bald sieht auch sie die Risse in der Fassade. Ihre Mutter, die sie so wunderschön findet, ist dem Vater zu fett. Die Eltern verbergen ihre Streitthemen erst vor der Tochter, aber der wird bald klar – ihre erst immer stark wirkende Mutter, diese gütige Frau, die ihr zeigt wie besonders sie, Ela, ist, wird von dem Vater systematisch klein gehalten. Ihr Gewicht spielt dazu immer wieder eine große Rolle, ob nun Zuhause, im Urlaub oder gar während der Schwangerschaft. Als Diät über Diät keine Abhilfe schaffen, kommen wir und Ela langsam hinter die Strategien, die eine Frau verfolgt, die sich niemals wird unterkriegen lassen, schon gar nicht von einem Mann.

In Zwischenkapiteln springen wir in die Gegenwart und direkt in den Schreibprozess einer (fiktiven?) Daniela Dröscher, die über so heftige Situationen aus dem eigenen Leben schreibt, aber dennoch unglaublich behutsam und liebevoll mit ihrer Mutter und ihrer Kindheit umgeht.
Diese Güte, die sie ihren Charakteren  trotz aller Heftigkeit zukommen lässt, ist beim Lesen ganz besonders und ein Testament an das Talent der Autorin. Die Mutter, die sich immer durchkämpfen musste, um ihre Größe zu wahren, ist nun überlebensgroß in diesem wunderbaren Text verewigt.

Mattes Daugardt

 


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Eichborn Verlag 23,00€

 

Annabel Wahba: "Chamäleon"

Dieser autobiografische Roman wirkt gewaltig, insofern passt das Bergmassiv auf dem Cover auch in dieser Hinsicht.

Annabel sitzt am Bett ihres todkranken Bruders. Der ägyptische Totengott Anubis blickt von einem großen Bild an der Wand gegenüber auf André herab... Das klingt düster, und ich frage mich, ob ich bereit bin, in diesen nicht unbedingt hellen Zeiten ein solches Buch zu lesen. Zwei Seiten später hat mich die Autorin bereits dermaßen mit ihrem Erzählstil in den Bann gezogen, dass ich weiter lesen MUSS.
Wir reisen mit ihr von München in die Vergangenheit nach Ägypten. Im Nildelta wuchs Annabels und Andrés Vater auf. Weiter geht es in nach New York. Dort arbeitete die Mutter in den Fünfzigerjahren und Annabel erinnert den Bruder an die Geschichte, wie sich die Eltern damals kennen lernten.
Zu Beginn schreibt die Autorin: "Viel Zeit bleibt uns nicht mehr. Wenn ich nun an deinem Bett sitze und dir die Geschichte unserer Familie erzähle, erzähle ich nicht um mein Leben, sondern gegen deinen Tod. Bald wirst du nicht mehr da sein. Ich kann dich nicht festhalten, aber ich will festhalten, was wir beide erlebt haben. Auch du sollst weiterleben, und mit dir das ägyptisch-deutsche Chamäleon."

So bunt wie das Cover, so vielfarbig und unterhaltsam ist die Geschichte dieser beiden Geschwister!

Andrea Westerkamp

 


the dark 150x237

 

Droemer Knaur 15,99€

 

Emma Haughton: "The Dark"

Das hatte sich zu Hause auf dem Sofa in Bristol doch nach einem tollen Abenteuer angehört: 12 Monate als Ärztin auf der Forschungsstation in der Antarktis zu arbeiten. Eine völlig neue Erfahrung für Kate und außerdem eine willkommene Abwechslung nach der schlimmen Zeit, die hinter ihr liegt. Doch als Kate auf die Station eingeflogen wird, ist sie sich nicht mehr ganz so sicher. Dieses absolute Weiß, diese absolute Stille, dazu die Gewissheit, dass es in Kürze hier kein Entkommen mehr geben kann, weil selbst für Flugzeuge die Außentemperatur zu feindlich wird und eine Landung so gut wie unmöglich ist.
Das mulmige Gefühl verstärkt sich, als der Empfang durch die Kollegen und Kolleginnen vor Ort eher frostig und unterkühlt ausfällt, Antarktis auch im zwischenmenschlichen Bereich. Einzig Drew, der Amerikaner, der sie in Empfang genommen hat, verströmt ein wenig menschliche Wärme und Freundlichkeit. Kates Vorgänger übrigens kam bei einem Unfall auf der Station ums Leben, und allmählich werden Kates Zweifel an diesem „Unfall“ immer stärker.
Schließlich – wir sind in einem Thriller – gibt es einen weiteren Toten: Ein Mitarbeiter wird draußen erfroren aufgefunden, mit viel zu dünner Kleidung, die Stationsleiterin beschließt: Suizid.

Es wird nicht bei diesen beiden Opfern bleiben, in diesem Thriller geht es ganz schön zur Sache und Kate gerät immer stärker in Bedrängnis. Die einzigartige Landschaft der Antarktis mit monatelanger Dunkelheit und feindlicher Kälte, ist natürlich ein absoluter Pluspunkt in diesem Spannungsroman.
Da kommen einem die gesetzlich verordneten 19 Grad doch fast wie Saunatemperaturen vor und man kuschelt sich umso lieber in wärmende Decken oder Pullis.

Astrid Henning

 


die pestinsel 150x237

 

Inselverlag 16,95€

 

Marie Hermanson: "Die Pestinsel"

An einem späten Abend im Jahr 1925 wird der Göteborger Kommissar Nils Gunnarson auf dem Heimweg von einem verwahrlosten Knirps regelrecht genötigt, ihm zu folgen und mit ihm in ein Boot zu steigen. Der Kleine spricht nicht, legt sich aber kräftig in die Riemen. Das hat seinen Grund. Weit draußen im Fluss Göta, fast an der Einmündung zum Kattegat, ist die Leiche eines Mannes angeschwemmt worden.
Nils fällt sogleich die vornehme Kleidung des Toten auf, aber etwas anderes lässt ihn stutzen. Die Todesursache des Unbekannten ist nicht etwa Ertrinken, sondern Ersticken. Der Ermordete weist äußerst ungewöhnliche Strangulationsabdrücke am Hals auf. Bei Nils klingelt etwas. Hat er nicht in einem Kriminalroman genau von dieser Todesart gelesen? Recherchen ergeben, dass der höchst erfolgreiche Autor einer Krimireihe ein absolut Unbekannter ist, ein untergetauchtes Phantom. Nils lässt nicht locker und findet sich alsbald auf der  Göteborg weit vorgelagerten, seeumtosten Insel Bronsholmen wieder, der„Pestinsel“! Hier wurden früher Seeleute in Quarantäne genommen und Krankheiten wie Cholera und Pest auskuriert. Das ist lange her und die Räder des vereinsamten Krankenhauses drehen sich heute nur noch um einen einzigen Insassen: den gefährlichen Massenmörder Arnold Hoffmann. Nils merkt sofort, dass hier auf der Insel etwas so gar nicht stimmt, doch mangelt es ihm an Beweisen, seine Untersuchungen fortzusetzen.
Da springt ihm eine verflossenen Liebe zur Seite. Die couragierte Reporterin Ellen Grönblad lässt sich inkognito als neues Hausmädchen auf der Insel einstellen, nicht im Entferntesten ahnend, was ihr bevorsteht…

Dieser Historienkrimi ist spannend, skandinavisch düster und kommt fast ohne Blut aus, genau das richtige Buch für lange Herbstabende.

Annette Matthaei

 


die lodge 150x237

 

Nagel & Kimche 24,00€

 

Peter Heller: "Die Lodge"

Wer den „Gesang der Flusskrebse“ vor allem wegen des Krimianteils gelesen hat, könnte an Peter Hellers „Die Lodge“ großen Gefallen finden, ein packender Thriller trifft hier auf wunderschöne Naturbeschreibungen in der bergigen Landschaft Colorados.

Die Kingfisher Lodge in Colorado dient der Entspannung und dem Fliegenfischen. Hier können die Superreichen abschalten und sind von der modernen Welt, von ihrer Technologie und ihren neuen Virusvarianten abgeschirmt – in Sicherheit.
Jack soll hier den Gästen beim Angeln behilflich sein und ihnen die besten Spots zeigen, die Ausrüstung bereitstellen und für die Einhaltung wichtiger Regeln sorgen, wie niemals in der Nähe des benachbarten Grundstücks angeln zu gehen: die Einheimischen scheinen waffenvernarrt und sehen Hausfriedensbruch gar nicht gerne. Sein erster Gast ist Allison K., eine berühmte Sängerin. Die beiden sind fasziniert voneinander; Jack ist geplagt von den frühen Verlusten in seinem Leben, Allison geprägt von dem Preis, den der Ruhm mit sich bringt. Verbinden tut die beiden ihre Liebe für die Natur; das Angelparadies scheint idyllisch.
Nur allzu bald schleichen sich Zweifel ein: aus Sicherheitsgründen ist das Ressort eingezäunt, aber soll der Stacheldrahtzaun wirklich nur Gefahren abwehren und warum braucht man auch auf der Innenseite einen Code, um das Tor in die Außenwelt zu öffnen? Als Allison und Jack nachts Schreie vernehmen, beschließen sie Nachforschungen anzustellen…

Dieser Thriller besticht durch seine literarische Qualität, bei der nicht nur Angler*innen auf ihre Kosten kommen. In der Ruhe der Natur verarbeitet Jack seine Trauer und so treiben wir in der Erzählung mit seinen Gedanken mit, fast wie der Fluss in dem sie fischen, der langsam dahinplätschert und ab und an durch die kräftigen Flossen seiner Bewohner aufgewirbelt wird.
Besonders für Krimi Fans geeignet, die auch gerne in die literarische Richtung gehen oder für belletristische Leser*innen, die mal einen Spannungsroman probieren wollen.

Mattes Daugardt

 


der sandkasten 150x237

 

Luchterhand 22,00€

 

Christoph Peters: "Der Sandkasten"

Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar am Niederrhein geboren und studierte nach dem Besuch des Bischöflichen Internatsgymnasiums "Collegium Augustinianum Gaesdonck" Malerei an der Staatlichen Akademie der bildenden Künste in Karlsruhe, 1993 als Meisterschüler. Von 1995 bis 1999 war Christoph Peters am Flughafen Frankfurt/Main als Fluggastkontrolleur beschäftigt. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Berlin. 1999 erschien sein erster Roman "Stadt Land Fluß".
Zitat aus dem "PERLENTAUCHER": Kurz und scharfzüngig, präzise beobachtet, politisch "korrekt", teilweise herrliche Situationskomik, so könnte man den neuen Roman von Christoph Peters umschreiben.

Kurt Siebenstädter ist Radiomoderator in Berlin. Seine Stimme kennt man seit Jahren, seine frühmorgendlichen Sendungen erreichen nicht selten Spitzenquoten. Wer von ihm interviewt wird, der ist wichtig! Zimperlich darf man da nicht sein als Gesprächspartner, Siebenstädter nimmt kein Blatt vor den Mund und provoziert gerne. Jahrelang schwamm er ganz oben auf der Erfolgswelle. Doch jetzt scheint plötzlich Sand im Getriebe zu sein. Da scheint etwas zu kippen, aus dem Gleichgewicht zu geraten und Siebenstädter steht mitten im Auge des Orkans. Während sich Frau Siebenstädter darüber auslässt, dass die 15 jährige Tochter einige Monate in Amerika zur Schule gehen möchte, plagen ihren Mann ganz andere Sorgen. Die Liberalen haben ihm wenige Stunden zuvor ein Angebot unterbreitet, das anzunehmen sowohl berufliche, als auch private Konsequenzen hätte... Soll er alles auf eine Karte setzen?

Großartig geschrieben, gefüllt mit vielen "Bekannten" aus der aktuellen Politszene, lässt uns der Autor den 09.11.2020 noch einmal erleben.

Andrea Westerkamp

 

 

Unsere Buchempfehlungen im September


sisi 150x237

 

Galiani 26,00€

 

Karen Duve: "Sisi"

Vielleicht eine kleine „Warnung“ vorweg: Wem sein zuckersüßes Romy-Schneider-Sissi-Bild heilig ist, der wird mit Karen Duves „Sisi“ seine Schwierigkeiten haben – für alle anderen ist es eine wunderbare Ergänzung oder ein Kontrapunkt, der glänzend unterhält.

Karen Duve hat drei Jahre ausführlich zur österreichischen Kaiserin recherchiert und schildert in ihrem Roman zwei Jahre im Leben von Sisi, im Alter von 36 – 38 Jahren.
Sisi begegnet uns hier als eine Frau mit äußerst vielen Facetten, und der Roman beginnt gleich mit einer ihrer stärksten Leidenschaften: Die österreichische Kaiserin ist zur Fuchsjagd in England und stöhnt bei der Aussicht, wegen eines Besuchs bei der englischen Königin eine dieser Jagden verpassen zu müssen. Weshalb sie noch nicht einmal zum Essen bleibt: große Verstimmung am englischen Hof. Sisi war eine der besten Jagdreiterinnen ihrer Zeit und sprang im Damensattel in atemberaubenden Tempo über Hecken, Gatter und andere Hindernisse, je schneller und gefährlicher es zuging, desto besser. Bei den Jagden in England lässt sie sich am liebsten von Captain Middleton begleiten, der sie wenig später auch auf ihrem Schloss in Ungarn besuchen wird…
Und ja: Sisi war sicherlich sehr charmant und liebreizend, konnte aber ein paar Sekunden später eiskalt, intrigant und höchst manipulativ sein. Offensichtlich nahm sie in der Beurteilung anderer kein Blatt vor den Mund, durchaus zu unserem Vergnügen, so wird z.B. die adelige Helene Baltazzi als „orientalische Salonflirteuse“ bezeichnet.
Geradezu obsessiv hat sich die Kaiserin mit ihrem Aussehen beschäftigt, ihre Haarpracht, ihre schlanke Figur, ihre jugendliche Erscheinung waren ihr nicht nur Vergnügen, sondern geradezu Pflicht – was das Altern nicht gerade erleichterte.

Wer eintauchen möchte ins 18. Jahrhundert, in schönen Roben schwelgen mag, nichts gegen kleine Bosheiten in adeligen Kreisen hat, der wird mit größter Freude „Sisi“ lesen.

Astrid Henning

 


treue 150x237

 

Hanser Berlin 27,00€

 

Hernan Diaz: "Treue"

Was sich erst liest, wie ein Erfahrungsbericht durch die Finanzgeschichte der Vereinigten Staaten, ist bald Sinn- und Wahrheitssuche. Ein Roman der goldenen 1920er Jahre New Yorks, in dem vier Perspektiven auf dieselbe Geschichte die wirtschaftspolitischen Ereignisse des frühen 20. Jahrhunderts fiktiv erklären. Im Vordergrund steht dabei allerdings eine mitreißende Erzählung über eine Ehe und über die beeindruckenden Frauen hinter Männern, die beeindruckend sein wollen.

Wir begleiten Benjamin Rasks, der privilegiert aufwächst und aus angeborenem Reichtum ein unermessliches Vermögen wachsen lässt: Rasks lebt in einer Welt des Geldes – in der die Realität formbar gemacht wird, wenn der Geldfluss nur liquide genug ist. Eine Welt, in der nicht Dinge, sondern Gefühle, ganze Identitäten und die Vergangenheit mit grünen Dollarscheinen aufgewogen werden. Dabei wird uns erfahrbar gemacht, wie das Leben derjenigen aussah, die den Finanzsektor durch die liberale „laissez-faire“ Devise, den Börsencrash von 1929 und Roosevelt‘s New Deal lenkten. Rask ist allerdings kein verträumter Antiheld à la Gatsby, der nach seiner verlorenen Liebe schmachtet: Einfluss durch Reichtum zu erlangen ist nicht das Mittel, sondern das Ziel.
An seiner Seite steht ihm die mysteriöse Helen, geistreich und philanthropisch, eine Liebhaberin klassischer Musik, doch bald schwirren Gerüchte um das mächtige Paar und Helen leidet an einer Krankheit, die auch Geld nicht zu heilen vermag… und doch ist sicher nicht alles, wie es scheint.

Ein vielschichtiger Roman über den Einfluss des Geldes, aber auch über den Wert von Geschichten, der nicht monetär aufzuwiegen ist. Überraschende Wendungen und vier einzigartige Erzählstimmen machen diesen Roman von Hernan Diaz zu einem großartigen Werk moderner Erzählkunst, das nicht an emanzipatorischen Befreiungsschlägen spart. Am Ende fragen wir uns nur, wem diejenigen, die alles haben, Treue schulden. Sich selbst? Dem bewährten Gelde? Oder doch der Liebe, was auch immer sie bedeuten mag?

Mattes Daugardt

 


schnee 150x237

 

Btb 17,00€

 

Yrsa Sigurdardóttir: "Schnee"

Die Thrillerqueen aus Island meldet sich mit einem neuen abgeschlossenen Nervenkitzel pünktlich zur kälteren Jahreszeit zu Wort und ich kann Ihnen sagen, ziehen Sie sich warm an.

An der Nordküste Islands im tiefen Winter, wo es nicht hell wird, dafür bitterkalte Schneestürme über die raue Natur hinwegfegen, tauchen wir ein in drei Erzählstränge, einer spannender als der andere.
Zwei Yupeepaare aus Reykjavik wollen ihrem luxuriösen Alltagseinerlei entfliehen und kommen auf einer Party auf die Schnapsidee einen jungen Geologen für einen Dreitagestrip in die Wildnis zu begleiten, um an einer Messstation wichtige Forschungsergebnisse abzulesen. Haukur ist nicht begeistert die verwöhnten Städter auf seine gefährliche Mission mitzunehmen, lässt sich aber trotzdem breitschlagen.
Hjörvar hat einen Job in einer Radarstation an einem der nördlichen Zipfel angenommen. Er ist ein Eigenbrötler und das einsame Leben in unwirtlicher Natur macht ihm eigentlich nichts aus, ist er doch genau auf diesem Fleckchen Erde aufgewachsen. Als Jugendlicher brach er alle Kontakte zu seinem Elternhaus ab und ging in die Hauptstadt. Nun sind Vater und Mutter verstorben, das Elternhaus verkauft und tatsächlich findet er sich, einzig in Begleitung eines zugelaufenen Katers, auf dieser verlassenen Station wieder. Nur ein Job für den Übergang. Lange kann es hier keiner aushalten. Schon sein Vorgänger drehte durch und nahm sich mit einem Sprung über die Klippe ins tosende Meer das Leben.
Jóhanna ist Mitglied des Rettungssuchtrupps eines kleinen Ortes hoch im Norden, in dem ihr Mann als Polizist arbeitet. Sie war ehemals eine hoffnungsvolle Sportlerin, wurde aber beim Joggen angefahren, verunglückte schwer und leidet seitdem bei Belastung unter starken Schmerzen. Doch sie ist der Typ, der die Zähne zusammenbeißt und sich nichts anmerken lässt. Im Gegenteil, sie freut sich, wenn sie dem Alltag im Büro einer Fischverarbeitenden Firma entkommen und sich körperlich für eine sinnvolle Aufgabe verausgaben kann.
Eine Wandertruppe junger Reykjaviker wird vermisst und Jóhanna und ihre Kollegen strömen in ein abgelegenes Naturschutzgebiet aus, um hoffentlich rechtzeitig Menschenleben zu retten „Es gab keine menschlichen Spuren. Überall blendend weißer Schnee. Nichts Lebendiges war zu sehen, kein Wunder, denn an diesem öden Ort konnten im Winter nur wenige Tiere überleben.“ Und nun das Ganze Szenario des Nachts. Kein Stern am Himmel, brausender Sturm, Kälte, die den Körper zerstört und dann immer wieder dieses unheimliche Gemurmel…mach auf….mach auf…

Meine Nerven haben bei der Lektüre dieses Buches gelitten, das versichere ich Ihnen und ich bin froh, dass ich Island vor Jahren im Sommer kennen und lieben lernen durfte. Keine zehn Pferde würden mich freiwillig an den Ort dieses Grauens bringen. Faszinierend ist, wie Sigurdardóttir die drei Erzählstränge verknüpft und vor allem wie sie Spannung bis zur Ohnmacht aufbauen kann. Ein wirklich doller Thriller mit einer gehörigen Portion isländischer Spiritualität.

Annette Matthaei

 


haie in zeiten von erloesern 150x237

 

Luchterhand 22,00€

 

Kawai Strong Washburn: "Haie in Zeiten von Erlösern"

Ein tieftragisches Buch, in dem Hoffnung und Güte standhalten und verzauberte Worte uns in die tiefen Gewässer Hawaiis stoßen, um uns verändert wieder auftauchen zu lassen.

Das Paradies hat seinen Preis und den können auf Hawaii nur wenige der Einheimischen zahlen. Wer auf den Inseln nicht mindestens ein Anwalts- oder Ärztinnengehalt Heim bringt, führt ein hartes Leben. Malia und Augie sind über beide Ohren ineinander verliebt, auch nach all den Jahren, aber sie machen sich Sorgen, ihren drei Kindern nicht mehr ermöglichen zu können. Eines Tages kratzen sie etwas Geld zusammen und nehmen Dean, Nainoa „Noa“ und Kaui mit auf eine dieser überteuerten touristischen Bootstouren: Noa ist gerade mal sieben Jahre alt, als er aus dem beschleunigenden Boot fällt. Zu schnell ist er nur noch ein kleiner Punkt in der Nähe des Horizonts. Augie hält die beiden anderen Kinder in Schach, während Malia ins Wasser springt. Verzweifelt schwimmt sie ihrem Sohn entgegen, denn Haie beginnen sich um ihn zu kreisen und reißen das gefährliche Revolvergebiss weit auf… um den kleinen Noa, wie treue Labradore, sicher zurück zu seiner Mutter zu bringen.
Auf den Inseln verbreiten sich die Neuigkeiten schnell und Noa ist bald in aller Munde – die Macht der Götter scheint zurückgekehrt. Dean und Kaui geraten dabei immer mehr in den Hintergrund und versuchen sich im Schatten ihres Bruders selbst zu verwirklichen, aber auch Noa hat immer mehr mit seiner Last zu kämpfen…

In diesem besonderen Debutroman von Kawai Strong Washburn, begleiten wir eine Familie in ihrem Streben, ihr einheimisches Leben mit den externen Anforderungen unserer Zeit in Einklang zu bringen. In wechselnden Perspektiven kämpfen sie über drei Jahrzehnte hinweg mit dem kulturellen Identitätsverlust Hawaiis, der vor allem durch regen Tourismus und stetige Zuwanderung begünstigt wird. Behutsam beleuchtet Washburn dabei den Zerfall des amerikanischen Traums und verbindet ihn mit den letzten Überbleibseln der mythischen Vergangenheit von Hawaii. Definitiv ein Jahreshighlight und ein originelles, sprachgewaltiges Debut.

Mattes Daugardt

 


das leben vor uns 150x237

 

C.H.Beck Verlag 25,00€

 

Kristina Gorcheva-Newberry: "Das Leben vor uns"

„Das Leben vor uns“, das klingt wie eine Verheißung, wie die berechtigte Hoffnung auf eine bessere Zukunft, und das ist es auch, was die besten Freundinnen Anja und Milka unbedingt erreichen wollen.
Vorerst müssen sie sich aber noch mit dem tristen Grau am Moskauer Stadtrand abplagen, wo sie in den 80ern aufwachsen. 1982 ist Breschnew gerade gestorben, Gorbatschow mit Glasnost und Perestrojka aber noch weit entfernt. Dennoch bekommen Milka und Anja genug vom so völlig anderen Leben im Westen mit, um zu wissen, dass ihr Leben dringend anders werden muss als das ihrer Eltern: Ständig ist das Geld knapp, nicht nur für Lebensmittel muss man stundenlang anstehen und dann das nehmen was halt da ist, in der Schule zählen Linientreue und Disziplin.
Freiräume nehmen die beiden sich im Rumstromern nach der Schule, in den langen Sommerferien, die die Freundinnen gemeinsam mit Anjas Eltern in deren Datscha verbringen dürfen, und beim Träumen vom wilden Leben, während man zum 1000. Mal die leiernde Kassette mit „We are the champions“ hört. Und weil man in seiner Freizeit nicht viel anderes anfangen kann, kommen bald die Jungs ins Spiel, hier vor allem Lopatin und Trifonow – der eine gerissen und lebenshungrig, der andere Tschechow-begeistert und sensibel.

Man spürt, wie sich die gesamte Jugend zu dieser Zeit in Wartestellung befindet, jederzeit bereit zum Aufbruch, gehindert durch die Umstände und deswegen zu Grenzüberschreitungen immer bereit. Als Milka jedoch ungewollt schwanger wird, ist es vorbei mit der Leichtigkeit, die eh eine Illusion war und alles ändert sich.

Ein eindrucksvolles Debut, in dem die Autorin für ihre Figuren jederzeit den passenden Tonfall findet, mal roh und direkt, dann wieder sehr zart und verletzlich. Man spürt deutlich, dass in dieses Buch eigene Erfahrungen eingeflossen sind.

Astrid Henning

 


die definition von glueck 150x237

 

Julia Eisele 24,00€

 

Catherine Cusset: "Die Definition von Glück"

Das Leben von zwei Frauen, die scheinbar nichts miteinander zu schaffen haben, bringt uns auf wunderbar erzählte Weise, beginnend in den sechziger Jahren, die französische Autorin Cusset nahe.

Clarisse ist ein Freigeist, eine Lebenskünstlerin, obwohl ihr das Leben nicht immer freundlich mitgespielt hat. Trotz einer traumatischen Erfahrung als junges Mädchen, bereist sie ferne Länder und hängt ihr Herz bedenkenlos an Männer, die ihr nicht gut tun. Mit einem unerschütterlichen Lebenswillen zieht sie letztendlich drei Kinder alleine groß. Paris ist ihr Pflaster, eine kleine Dachgeschosswohnung ihre Oase. Mit dem Alter hadert sie, obwohl sie sich ihre Atrraktivität bewahrt. Dennoch, ein Leben ohne Begehren und mit einem Körper, der für die Liebe zu alt ist, ist für sie nicht vorstellbar.
Ganz anders die pragmatische Ève. Auch sie wuchs in Frankreich auf, ging aber der Liebe wegen mit ihrem Mann in die USA, lebt nun in New York mit zwei recht anstrengenden Töchtern. Obwohl sie ein Studium absolviert hat, merkt sie schon bald, dass ihr das geistig anspruchsvolle Arbeiten nicht gelingt in der Rolle der Mutter, Haus- und Ehefrau. Sie baut ein erfolgreiches Cateringunternehmen auf, das sich schnell einen guten Namen erarbeitet.
Was die beiden so verschiedenen Frauen verbindet, das erfahren wir im letzten Teil des Buches, wo sich für beide überraschend, ein enges Band zwischen ihnen entspinnt. Bis das der Tod sie scheidet...

Mit französischer Leichtigkeit und einem intimen Blick in das Seelenleben der Protagonistinnen erzählt uns Frau Cusset über Frausein mit den entsprechenden Bedürfnissen, Ängsten, der Mutterrolle mit all ihren Facetten und dem Älterwerden und dem Spiegel der Männerwelt. Ich kam beim Lesen in einen regelrechten Sog und kann mir vorstellen, dass es vielen Frauen ganz genauso gehen wird bei der Lektüre dieses eindrucksvollen Romanes.

Annette Matthaei

 


die tote im sturm 150x237

 

Limes Verlag 16,00€

 

Kristina Ohlsson: "Die Tote im Sturm"

August Strindberg, nein, nicht verwandt mit DEM Strindberg, hat die Nase voll von Stockholm. Während der vergangenen Jahre hat er viel Geld verdient und wenig gelebt. Das soll nun anders werden. Spontan erwirbt er ein ehemaliges Bestattungsunternehmen im beschaulichen Hovenäset, und möchte darin einen Seconhand-Laden eröffnen. Noch muss allerdings kurzfristig einiges renoviert werden. Angeblich hat das Unwetter der vergangenen Tage im Haus feuchte Stellen hinterlassen, so der Makler... Vorübergehend zieht August in ein gemütliches Ferienhaus.

Während August noch seine diversen Umzugskartons von rechts nach links schiebt, wird es im Dorf unruhig: die Lehrerin Agnes ist spurlos verschwunden! Eine fieberhafte Suche beginnt, an der sich auch der neue Bewohner beteiligt. Acht Tage nach ihrem Verschwinden gibt es noch immer keine heiße Spur.Die sympathische Kommissarin Maria bezweifelt, dass man Agnes lebend finden wird. Und in dieser angespannten Stimmung erfährt August, dass viele Jahren zuvor ein junges Mädchen in seinem idyllischen Ferienhaus zum letzten Mal lebend gesehen wurde...

August & Maria ergeben ein ungewöhnliches, aber dadurch umso passenderes Team. Kristina Ohlsson unterhält auf spannende Art und Weise, ohne blutgetränkte Horrorszenarien zu ersinnen. Ein für mich absolut gelungener Auftakt zu einer neuen Krimireihe!

Andrea Westerkamp

 


snowflake 150x237

 

mareverlag 24,00€

 

Louise Nealon: "Snowflake"

"Heute ist mein erster Tag an der Uni, und ich habe den Zug verpasst. Billy war sich ganz sicher, dass ich ihn noch kriege. Er hat zu lange mit dem Melken gebraucht und konnte mich erst danach zum Bahnhof fahren. Also komme ich jetzt zu spät. Wozu, weiß ich allerdings nicht so genau. Ich brauche Freunde, aber bis zum Mittag sind bestimmt schon alle guten weg. Es ist Orientierungswoche, und ich habe Collegefilme gesehen – wenn ich an der Uni meine zukünftig beste Freundin oder meine große Liebe treffe, dann am ersten Tag."

Debbie ist ein echtes Mädchen vom Land. Aufgewachsen auf dem familieneigenen Milchviehbetrieb in der Region Kildare, wird sie künftig täglich nach Dublin pendeln, um dort im Trinity College zu studieren. Zwar ist die Welt in Kildare auch nicht unbedingt in Ordnung, eine depressive Mutter, die oftmals tagelang das Bett nicht verlässt, und ein unbekannter Erzeuger nahmen Debbies Kindheit die Unbeschwertheit, aber Onkel Billie sorgte bislang immer für eine gewisse Verlässlichkeit.
In der quirligen Xanther findet sie schon bald eine Freundin, aber das Leben auf der Farm steuert einer Katastrophe entgegen, die Debbies Abnabelung stark beeinflussen wird...

Mit Leichtigkeit und großem Einfühlungsvermögen schreibt diese junge irische Autorin in ihrem Debüt. Ihr Stil und die Geschichte erinnern an "Hardland" von Benedict Wells und/oder an Sally Rooney. Unbedingt empfehlenswert auch für junge Leser:innen!

Andrea Westerkamp

 

 

Unsere Buchempfehlungen im August

 


die ewigkeit ist ein guter ort 150x237

 

Kindler 22,00€

 

Tamar Noort: "Die Ewigkeit ist ein guter Ort"

Der Katalog ärztlicher Diagnosen muss um eine Krankheit erweitert werden: „Gottdemenz“ – was das bedeutet und wie man sie erkennt, dazu gleich mehr.

Elke ist Theologin, angehende Pastorin, momentan arbeitet sie in einem Hospiz und begleitet dort Sterbende und ihre Angehörigen. Eines Tages muss sie feststellen, dass ihr das ganz normale Vokabular der seelsorgerischen Tätigkeit abhanden gekommen ist, eindeutig ein Fall von Gottdemenz. Beim „Vater unser“ kommt sie über die erste Zeile nicht hinaus, das feste Repertoire an Kirchenliedern hat sich verflüchtigt und überhaupt klappt es mit dem Dialog mit Gott so gar nicht mehr. Dass Elke aus einem Pastorenhaushalt kommt und ihr Vater sie schon in seiner Gemeinde als Nachfolgerin sieht, macht die Lage nicht gerade entspannter. Noch dazu setzt sie die Beziehung zu Jan in den Sand, obwohl der sich gerade alle Mühe gibt, besonders empathisch und sensibel zu sein.
Doch dann wird Elke dringend gebraucht: Ihr Vater hatte einen Herzinfarkt und muss in die Reha, da liegt nahe, wer ihn vertreten soll… Aber eine Pastorin mit Gottdemenz? Wie gut, dass der Vater seine ganzen Predigten auf dem PC gespeichert hat, nach 10 Jahren kann man da schon mal wieder alten Stoff bringen, merkt doch keiner. Oder??
So ganz nebenbei erfahren wir dann auch, weshalb Elke eigentlich so neben der Spur ist, dem kann sie nämlich in ihrem Elternhaus nicht ausweichen: Ihr Bruder Chris starb mit 17 Jahren bei einem Badeunfall, nach einer Party war man noch an den See zum Paddeln gegangen, etwas alkoholisiert, keine gute Idee.

In Tama Noorts Debütroman geht es um die ganz großen Themen, und das mit leichter Hand und viel Humor: Wer will ich sein, was gibt mir Halt, wie überwindet man Schmerz, was bedeuten Freundschaft und Familie?  Ein wirklich gelungener Auftakt, hoffentlich liest man bald mehr von dieser Autorin.

Astrid Henning

 


tristania 150x237

 

Mare 24,00€

 

Marianna Kurtto: "Tristania"

Tristan da Cunha ist wohl der abgelegenste Ort, der auf dieser Erde von Menschen bewohnt wird. Knappe 100 Quadratkilometer misst die Insel auf der sich mächtig der Vulkan Queen Marys Peak erhebt. Sie ist Teil einer britischen Inselgruppe im südlichen Atlantik zu der unter anderem auch St.Helena, Napoleons letztes Exil, gehört. Zum afrikanischen wie zum südamerikanischen Kontinent sind es um die 3000 Seemeilen und es gab Jahre in denen die Inselbewohner (aktuell 243 Menschen) nicht mal aus der Ferne ein Schiff zu Gesicht bekamen. Am 8.Oktober 1961 brach der Vulkan aus und begrub das sonst grüne Eiland unter einer Schicht glühender Lavamassen. Fast alle Bewohner konnten sich mit Booten auf ein nur von Vögeln bewohntes Inselchen retten und wurden von einem englischen Schiff nach Kapstadt und von dort ins  britische Königreich gebracht. Dort wurde Ihnen  ein kleines Militärdorf in der Nähe von Southampton zur Verfügung gestellt. Doch trotz allen ungewohnten Komforts und der Vorteile der Zivilisation setzte die Mehrheit der Insulaner durch, 1965 zum Wiederaufbau auf ihre Insel zurückzukehren.

Schon als Sachbuch wäre es hochinteressant über dieses abgelegene Fleckchen Erde zu lesen. Die finnische Autorin Kurtto entschied sich zum Glück aber für einen Roman und hängt die Geschichte über den Vulkanausbruch an dem Leben unterschiedlichster Bewohner von Tristan da Cunha auf.
Lars war nie für das Leben des Fischers geboren und obwohl er Frau und Sohn hat, zieht es ihn als Händler in die weite Welt. Martha, kinderlos und vom Leben enttäuscht, träumt von Schiffen, die sie einfach nur fortbringen. Jon vermisst seinen Vater und sucht nach einem Goldschatz, von einem der ersten Siedler bei den Wasserfällen versteckt.

Es gibt noch mehr Dorfbewohner in deren Köpfe wir schauen dürfen, aber ein Großteil des Reizes dieses wirklich außergewöhnlichen Buches liegt in der Beschreibung der wunderschönen Natur. Selten war ich atmosphärisch derartig eingesogen. Ein typisches Buch des tollen Mareverlages, das ich ganz sicher nie mehr vergessen werde.

Annette Matthaei

 


denk ich an kiew 150x237

 

Lübbe 24,00€

 

Erin Litteken: "Denk ich an Kiew"

Und wieder so ein Buch, das einen komplett gefangen nimmt, schockiert und eindringlich darum bittet, gelesen und besprochen zu werden!

Die junge Cassie versucht, über den Verlust ihres Mannes hinwegzukommen, als ihre Mutter Anna sie dazu überredet, mit ihrer kleinen Tochter Birdie zu ihrer geliebten Großmutter Bobby zu ziehen, die tüdelig und gebrechlich wird. Die alte Frau versteckt neuerdings an den merkwürdigsten Orten Lebensmittel und macht Notizen auf kleinen Zetteln in ihrer Muttersprache Ukrainisch. Außerdem findet Cassie ein sehr altes, in Leder gebundenes Tagebuch in kyrillischer Schrift. Die leidenschaftliche Schriftstellerin, die seit dem Tod ihres Mannes ein Jahr zuvor kein Wort mehr geschrieben hat, erhofft sich, in den Aufzeichnungen ihrer Großmutter endlich Antworten zu finden. Mit der Begründung, wichtig sei die Zukunft, nicht die Vergangenheit, hat sich Bobby seit jeher allen Fragen Cassies vehement verweigert; ihr Leben, bevor sie in die USA gekommen war, ist Tochter und Enkelin ein Rätsel. Doch nun scheint die Vergangenheit die alte Frau einzuholen. Auf Bobbys Bitte hin übersetzt der junge, sympathische und attraktive Nachbar Nick, dessen kürzlich verstorbene Großmutter ebenfalls aus der Ukraine stammte, die Tagebucheintragungen peu à peu für Cassie ins Englische. Diese ist erschüttert von der unfassbar tragischen Lebensgeschichte ihrer Großmutter und erfüllt ihr deren letzten Wunsch: diese Geschichte niederzuschreiben und endlich zu veröffentlichen…
Denn Bobby, die eigentlich Katja heißt, ist Überlebende des Holodomor 1931/1932, der unter Stalin gezielt herbeigeführten Hungersnot im damals sowjetischen Teil der Ukraine. Katja führte in ihrer Bauernfamilie mit ausreichend Vieh und Land ein gutes, sicheres und behütetes Leben, bis russische Parteigenossen und deren ukrainische Aktivisten in ihr Dorf kamen und der jungen Frau (fast) alles nahmen – Besitz, Angehörige, Nahrung, Würde, nur ihren festen Glauben an eine bessere Zukunft und ihren eisernen Willen nicht – und der Kampf ums nackte Überleben begann. Katja musste ihrer Schwester Alina damals ein Versprechen geben, bei dem es um Leben und Tod ging, und ihrem jungen Ehemann schwören, dass sie der Welt berichten würde, welchem Terror und welch ungeheurem Leid das ukrainische Volk unter Stalin und den Bolschewiken ausgesetzt war.

Erin Litteken hat ihren von der eigenen Familiengeschichte inspirierten „Roman über die Unterdrückung des ukrainischen Volkes in der Vergangenheit“, der erschreckenderweise in einer Zeit erscheint, da die Ukrainer*innen schon wieder um ihr Leben und ihr Land kämpfen, in zwei sich abwechselnde Erzählstränge gegliedert: Cassies Geschichte Anfang der 2000er Jahre in Illinois / USA und Katjas Geschichte zwischen 1929 und 1932 in der Ost-Ukraine. Vielleicht bedarf es dieses literarischen Stilmittels, um dem Todschweigen der eigenen Vergangenheit, der Unerträglichkeit des Erinnerns Raum zu geben. Und um die eigentliche Geschichte, die so intensiv und grausam daherkommt, durch Unterbrechung nicht nur spannender, sondern vor allem erträglicher zu machen.
Der Teil des aktuelleren Erzählstranges gestaltet sich ein wenig schnulzig und auf jeden Fall vorhersehbar. Doch verknüpft die Autorin beide Stränge auf geschickte Weise, findet schlüssige Überleitungen und endet stets in Spannungsmomenten, so dass ich bei der Lektüre am liebsten jene Kapitel, die 2004 spielen, übersprungen und nur Katjas Jahre in der Ukraine gelesen hätte.
„Denk ich an Kiew“ ist ein Roman über Liebe, Familienbande, Verlust, Überlebenskampf, unterdrückte Traumata und unbeugsame Zuversicht, der ein kaum beachtetes, ja sogar verleugnetes brutales Kapitel der ukrainischen Geschichte ins Bewusstsein rückt, auf einfühlsame und doch schonungslose Weise. Dieses Buch klärt auf und rüttelt wach – in vielerlei Hinsicht. Dass ein Teil des Erlöses als Spende der Ukraine zugutekommt, ist nur ein weiterer guter Grund, dieses Buch zu kaufen.

Nina Chaberny-Bleckwedel

 


an den ufern von stellata 150x237

 

Ullstein Verlag 23,99€

 

Daniela Raimondi: "An den Ufern von Stellata"

Diese äußerst lebendige und unterhaltsame Familiengeschichte, die fast zwei Jahrhunderte umfasst, begeisterte mich dermaßen, dass ich sie Ihnen unbedingt vorstellen möchte!

510 Seiten lang begleiten wir die Familien Casadio, deren Haus in Stellata, irgendwo in der Nähe des Flusses Po steht.
Zu damaligen Zeiten reiste das fahrende Volk in ganz Europa umher, so auch die geheimnisvolle und bildschöne Viollca und ihr Clan. Auf ihrem Weg durch die Lombardei geraten die Planwagen in sintflutartige Regenfälle. Eine Weiterfahrt ist unmöglich, und der Dorfälteste von Stellat genehmigt eine längerfristige Rast auf dem Anger. Als sich der Eigenbrödler Giacomo Casadio von Violcca aus der Hand lesen lässt, geschieht das, was in der Familie niemand mehr für möglich hielt: er verliebt sich! Das ungleiche Paar heiratet, und die Schwiegereltern gewöhnen sich nur schwer an die "Exotin". Der Grundstein für eine ganz außergewöhnliche Nachkommenschaft ist aber damit gelegt.... Während sich der kleine Dollaro begeistert mit den Toten der Familie Casadio unterhält, werden später geborene andere Besonderheiten aufweisen können...

Während sieben Generationen Casadios an uns vorbei ziehen, tauchen wir tief in die gesellschaftspolitische Geschichte Italiens ab 1800 ein.

Andrea Westerkamp

 


der plot 150x237

 

Heyne Hardcore 16,00€

 

Jean Hanff Korelitz: "Der Plot"

Jakes‘ Zukunft sah auch schon mal besser aus: Sein erster Roman war ein beachtlicher Überraschungserfolg, das zweite Buch hat der Verlag pflichtschuldig veröffentlicht, das dritte Werk erschien dann bei einem kleinen No Name-Verlag und am vierten sitzt er seit mehreren Jahren. Über Wasser hält sich Jake als Dozent für Kreatives Schreiben,  eine Tätigkeit, die im Prinzip völlig unter seiner Würde ist und bei der er sich mit Menschen herumschlagen muss, die ihre Fähigkeiten total überschätzen.

Jetzt ist es wieder soweit, das jährliche Sommercamp in Ripley findet statt, Jake graut schon davor, aber er hat keine Wahl. Bereits am 2. Tag macht er Bekanntschaft mit Evan Parker, einem Studenten, der Jakes‘ Büro mit einer absolut blasierten und herablassenden Haltung betritt, total davon überzeugt, den Stoff für den nächsten Bestseller zu haben. Und damit meint er nicht einfach nur ein Buch, das sich „ganz gut“ verkaufen wird, sondern einen Mega-Bestseller, der alles in den Schatten stellen wird, der nach Verfilmung schreit, New York Times Platz 1 usw. Jake erkennt die Qualität des Stoffs, die Story ist ziemlich unwiderstehlich und Evan schreibt soweit ganz gut, aber ein paar Verbesserungen wären durchaus angebracht. Nichts zu machen, man fragt sich, wieso Evan überhaupt am Seminar teilnimmt.
Dann springen wir ein paar Jahre, Jakes‘ Situation hat sich in keiner Weise verbessert, da erinnert er sich an Evans Romanstoff, recherchiert und stellt fest, das Buch ist entweder nie geschrieben worden oder zumindest nicht erschienen. Wenig später hat Jake selbst das Buch fertig, mit geklauter Story, aber immerhin selbst geschrieben und tatsächlich passiert genau das, was Evan erwartet hatte: Das Buch erklimmt sämtliche Bestsellerlisten, Jake wird eingeladen in Oprahs Talkshow, Steven Spielberg wird es verfilmen und bald gibt es niemanden mehr, der seinen Roman nicht kennt. Jake schwimmt auf einer mächtigen Erfolgswelle, lernt durch das Buch sogar seine zukünftige Frau kennen und kann sein Glück kaum fassen. Bis…er die erste anonyme Twitter-Nachricht sieht: „Du bist ein Dieb. Das wissen wir beide.“

An dieser Stelle wird nichts weiter verraten, dass wäre übelstes Spoilern. Egal, ob Krimi- oder Nicht-Krimi-LeserIn: Schnappen Sie sich dieses Buch und tauchen ein in Jakes „Plot“.

Astrid Henning

 


freundin bleibst du immer 150x237

 

hanserblau 24,00€

 

Tomi Obaro: "Freundin bleibst Du immer"

Drei enge Freundinnen aus Studienzeiten treffen nach 30 Jahren das erste Mal wieder aufeinander. Anlass ist die prunkvolle Hochzeit der Tochter einer dieser Frauen in Lagos.

Sunmi, die Mutter der Braut, hat einen reichen Mann geheiratet und lebt mit ihm in einer riesigen Villa in der nigerianischen Hauptstadt. Die Ehe ist eine reine Zweckgemeinschaft. Lieblos geht das Paar miteinander um, tröstend für Sunmi ist einzig Prestige und materielles Prassen.
Anders ist es der früher so schüchternen Enitan ergangen. Sie hatte den unfassbaren Mut mit einem Oyinbo, einem Weißen europäischer Abstammung, nach Amerika durchzubrennen. Auch Charles und Enitan haben eine Tochter, Remi, die als Kind der freien westlichen Welt aufgewachsen ist, kein Blatt vor den Mund nimmt, zum Teil fassungslos der Rolle der Frau im männlich geprägten Nigeria gegenüber steht. Das Elternpaar hat sich im beidseitigen Einvernehmen getrennt, aber für Enitan steht es nicht zur Debatte, in ihr Heimatland zurückzukehren.
Die dritte im Bunde ist die damals bildschöne Zainab. Ihr flogen die Blicke der Männer zu. Doch im Gegensatz zu der eher leichtlebigen, frechen Sunmi, hielt sie sich keusch vor ihrer Heirat. Ihre große Liebe Ahmed und sie leben mit vier Kindern im Norden des Landes, führen eine Ehe, geprägt von Liebe und Respekt. Seit ein paar Jahren ist Ahmed nach einem schweren Schlaganfall gelähmt und Zainab kümmert sich rührend um ihn.

Dieser Roman handelt von drei sehr unterschiedliche Frauen mit sehr unterschiedlichen Lebenswegen, die eine unerschütterliche Freundschaft verbindet. Es ist eine Geschichte von schillernden Farben, afrikanischen Traditionen und starken Emotionen. Süffig und mitreißend.
"Nigeria erinnerte einen täglich an die eigene Sterblichkeit: Autounfälle, Überfälle, einstürzende Brücken, Flugzeugunglücke, ein besonders schlimmer Malaria-Verlauf, eine schlampige Bluttransfusion, eine Entführung mit fatalem Ausgang, Herzinfarkte durch Stress, Lebensmittelvergiftung, schwarze Magie, Armut. Und darum musste man leben, und zwar wild und hemmungslos, oft auch rücksichtslos und ausbeuterisch…“
Diese Erkenntnis sickert ein bei der Lektüre dieses tollen Buches und man fühlt sich mittendrin im heißen, brodelnden Nollywood.

Annette Matthaei

 


kummer aller art 150x237

 

Dumont 22,00€

 

Mariana Leky: "Kummer aller Art"

Das neue Buch von Mariana Leky ist da! Ehrlicherweise ist es mein erstes von dieser bekannten und beliebten Autorin. Aber ich kann alle Leky-Fans gut verstehen: Wenn ihre kurzen Texte schon dermaßen geistreich, witzig, lebensnah, tiefgründig ohne literarische Überforderung daherkommen, wie muss es sich dann erst mit ihren Romanen verhalten?

Diesmal beglückt Mariana Leky uns mit einer Sammlung ihrer überarbeiteten Kolumnen aus der „Psychologie Heute“, in denen sie uns von ihrem Umgang mit dem Leben berichtet. „Kummer aller Art“ folgt keinem bestimmten Handlungsstrang und keiner speziellen Thematik; Lekys Figuren – und auch die Autorin selbst – ringen mit ganz individuellen und alltäglichen Situationen, Sorgen und Problemen, mit ihrem Gewissen und ihrem inneren Schweinehund.
Einigen Personen begegnen wir dabei immer wieder, wie den Nachbar*innen der Ich-Erzählerin, dem klaustrophobischen Herrn Pohl oder der konfliktscheuen Frau Wiese, und bald fühlt man sich fast so, als würde man selbst mit in dem Haus wohnen und sich über eine frische Verliebtheit, schlaflose Nächte oder Erlebnisse in der Warteschlange beim Bäcker austauschen. Onkel Ulrich, bis vor Kurzem noch praktizierender Psychotherapeut, erhält in mehreren Texten das Wort bzw. ergreift es einfach, hat in jeder Situation einen analytischen oder gleich therapeutischen Kommentar parat. Und wie begegnet man der liebeskummerigen Teenager-Patentochter oder dem kleinen Patensohn mit dessen großen Fragen?

Alle Figuren Lekys stellen sich den großen und kleinen Fragen des Lebens, allein oder in der Begegnung mit anderen Menschen, finden manchmal sogar eine Antwort, eine Lösung; manchmal ist es aber auch einfach, wie es ist. Wie im echten Leben halt.

Es ist zu empfehlen, Mariana Lekys 39 literarische Kolumnen in wohl dosierten Portionen zu genießen, optimalerweise nur eine pro Tag, etwa zum Frühstück oder vor dem Schlafengehen. Das Buch reizt, es in einem Zuge durchzulesen. Vielleicht weil es sich anfühlt, als würde man aus dem eigenen Leben lesen, so sehr kann man sich mit den Charakteren identifizieren, so bekannt erscheint einem der Kummer aller Art, hier auf intelligente und humorvolle Weise relativiert und teils sogar aufgelöst. Doch es wäre schade drum. Zu viel Lebensweisheit steckt in jedem einzelnen Text; jeder einzelne Beitrag klingt lange nach, wenn man ihn nur lässt. Und ruft ein gutes, ein leichtes Gefühl hervor. Bei mir zumindest.

Nina Chaberny-Bleckwedel

 


london rules 150x237

 

Diogenes 18,00€

 

Mick Herron: "London Rules"

Jackson Lamb und seine lahmen Gäule in ihrem 5. Fall!

In Slough House (der Regent Park spricht eher von slow horse) lesen die in Ungnade gefallenen Agenten des Geheimdienstes die neueste Twitternachricht: Eine Söldnertruppe löschte brutal 20 Leben eines Dorfes in Derbyshire aus! Wenig später wird ein Pinguingehege im Londoner Zoo gesprengt. Während der MI5 Alarmstufe Rot signalisiert, sind unsere Lieblingsagenten unter Jackson Lamb noch damit beschäftigt, die Bleistifte zu spitzen...
Erst in dem Augenblick, als der Nerd vom Dienst Roderick Ho nur durch das beherzte Eingreifen von Kollegin Catherine Standish einem recht dilettantischen Attentat entgeht, kommt so etwas wie Bewegung in die Truppe. Das bedeutet: Jackson legt seine Füße auf den Schreibtisch und genehmigt sich einen ersten Drink!

Mick Herrons Krimis sind in ihrer Art einzigartig und unnachahmlich. Der scharfzüngige Humor, die teilweise derben, aber immer passenden, wenn auch stets politisch unkorrekten Sprüche sind grandios und das Tempo flott. Auch wenn die Fälle gegen Ende der 70er angesiedelt sind, besitzen sie eine verblüffenden Aktualität. Beste Unterhaltung auf die feine britische Art!

Andrea Westerkamp

 

 

Unsere Buchempfehlungen im Juni


die psychologin 150x237

 

BTB 16,00€

 

Helene Flood: "Die Psychologin"

Dieser Debütthriller aus Norwegen hat in eigenen Land sofort einen Senkrechtstart hinlegt. Und ich weiß ganz genau warum!!!

Sara, Anfang 30, lebt mit ihrem Mann Sigurd noch nicht lange in einem kleinen Häuschen mit großartigem Blick über Oslo. Normalerweise würden sich die beiden, er als ambitionierter Architekt, sie als halbherzige Psychologin für Jugendliche, eine solche Immobilie gar nicht leisten können. Doch Sigurd erbte sie von seinem Großvater. Dessen Leiche wurde erst nach Wochen auf dem Dachboden eben dieses Hauses gefunden. Schon ein bisschen gruselig, aber da das junge Paar sowieso das gesamte Haus renovieren muss, wird danach sicher ein anderes Karma herrschen.
In dieser Baustelle wacht nun Sara eines morgens auf, mit der Aussicht, ein Wochenende allein zu verbringen. Sigurd hat sich im Morgengrauen mit einem Kuss von ihr verabschiedet. Ein Angelwochenende mit seinen Freunden ist geplant. Ihr ist nicht wohl dabei. Seit einiger Zeit fühlt sie sich sehr einsam. Sie hat sich eine kleine Praxis im Haus eingerichtet, empfängt ihre wenigen Patienten dort. Tag für Tag im Bauschutt und ohne normale Sozialkontakte. Außerdem hat sie den Eindruck, dass Sigurd in den letzten Monaten den gemeinsamen Kinderwunsch nicht mehr mit ihr teilt. Seine Arbeit, die Renovierung und Geldnöte fressen zu viel Energie. Er wirkt abgeschlagen und gereizt. Immer häufiger kommt es zum Streit zwischen den beiden.
Am Vormittag erhält sie von ihm dennoch eine Nachricht auf der Mailbox, dass er angekommen sei und sich schon mit den Freunden amüsiere.  Vielleicht tut ihm und somit ihrer Beziehung eine kleine Auszeit gut. Beunruhigt ist Sara allerdings, als sie am Abend einen Anruf eben einer der Freunde erhält, ob sie wisse, wo Sigurd stecke. Hat er sie angelogen? Ist ihm etwas zugestoßen? Was ist passiert? Paranoia schiebt sie endgültig, als sie in der folgenden Nacht Geräusche im Haus vernimmt und feststellen muss, dass sie unbekannten Besuch hatte. Die benachrichtigte Polizei nimmt Sara ins Verhör, verdächtigt sie, anstatt ihr zu helfen. Ist sie schuldig am Verschwinden ihres Mannes?
Je mehr Wahrheiten ans Licht kommen, desto mehr entgleitet Sara ihr bisheriges Leben. Sie, die anderen Menschen hilft, Gedanken und Gefühle zu sortieren, gerät zunehmend in einen Strudel aus Angst, Verwirrtheit und Kontrollverlust.

Die Autorin Flood ist selbst Psychologin und fantastisch in der Lage uns Leser mit in den Sog vegetativem Unwohlseins und Panik zu ziehen. Ein echter Pageturner mit überraschendem Ende.

Annette Matthaei

 


auf der strae heien wir anders 150x237

 

Klett-Cotta 22,00€

 

Laura Cwiertnia: "Auf der Straße heißen wir anders"

Eher zufällig bin ich auf den beeindruckenden Debütroman von Laura Cwiertnia gestoßen; Klett-Cotta hatte ihn im Zuge seiner Neuerscheinungen im Frühjahr den Buchhandlungen als eBook empfohlen. Das Thema hat mich angesprochen: eine junge, identitätssuchende Frau aus Bremen mit armenischen Wurzeln, eine Familiengeschichte, in der das Trauma des Völkermordes an den Armeniern von 1915 seit Generationen stillschweigend weitervererbt wird. Nun möchte ich diesen autofiktionalen Roman „Auf der Straße heißen wir anders“ nicht mehr missen und unbedingt weiterempfehlen!

Wie die Autorin selbst, wächst ihre Protagonistin Karlotta, die sich selbst Karla nennt, in den 1980er und 90er Jahren als Tochter einer deutschen Mutter und eines armenischen Vaters in Bremen-Nord auf. Das Buch beginnt mit der Beerdigung der Großmutter Maryam, die als junge Frau und Mutter ihre Familie in Istanbul zurückgelassen hatte und alleine als Gastarbeiterin nach Deutschland gegangen war. Hinterlassen hat sie eine Liste mit vierzehn letzten Wünschen. Einer davon ist, einer gewissen Lilit in Armenien ein Armband zu bringen. Auf der Suche nach dieser Unbekannten, die zweifelsfrei etwas mit der Familienvergangenheit zu tun hat, reist Karla mit ihrem Vater Avi nach Armenien – und wir mit den beiden in die Vergangenheit, ins Istanbul und nach Jerusalem der 1950er und 60er Jahre, nach Armenien vor hundert Jahren. Dabei tauchen wir immer tiefer in das Leben der einzelnen Familienmitglieder ein.
Der Roman spielt auf zwei Erzählebenen, die sich zeitlich voneinander wegbewegen: Auf der Gegenwartsebene wird vorwärts aus Karlas Perspektive erzählt, wie sie ihren Vater nach der Beerdigung zu einer gemeinsamen Reise in dessen nie gesehenes Heimatland überredet, was und wer ihnen in Armenien begegnet, wie sich Avi und die Vater-Tochter-Beziehung verändern.
Auf der Vergangenheitsebene wird rückwärts erzählt: Die einzelnen Familienmitglieder, welche jeweils für eine Generation stehen, erhalten eigene Stimmen in eigenen Kapiteln und werden im Lauf des Buches immer jünger – bis wir im vorletzten Kapitel des Buches in der Kindheit der Urgroßmutter Armine landen und den alles verändernden Schicksalstag miterleben. Armines armenische Kindheit findet ein jähes Ende, als ihre Familie von den Türken ausgelöscht wird und sie nur durch einen Zufall überlebt. „Du kannst nicht mehr nach Hause. […] Sie sind nicht mehr da, keiner ist mehr da, dein Dorf gibt es nicht mehr, verstehst du?“
Fortan lebt Armine in der Türkei, bekommt ein Kind – Maryam – von einem sehr viel älteren Mann, mit dem sie eine lieblose Zweckpartnerschaft eingegangen ist. Aus dem armenischen Familiennachnamen Kuyumcyan haben die Beamten die türkische Version Kuyumcuoglu gemacht. Um nicht aufzufallen, nennt Maryam sich auf der Straße Meryem, verbirgt ihr rotes Haar unter einem Kopftuch, wird ihren eigenen Sohn später Ali rufen, obwohl er eigentlich Avedis/ Avi heißt.

Cwiertnia sagt in einem Interview, der Grund für die von ihr gewählte Erzählstruktur sei, dass in der Geschichte von Menschen die Erklärung dafür liege, warum sie so geworden seien, wie sie geworden sind. Deswegen wollte sie mehrere Generationen zu Wort kommen lassen. Um die Charaktere und ihr langes Schweigen zu erklären. „Auf der Straße heißen wir anders“ ist „auch ein Buch über das Schweigen, das Nicht-Erzählen“ eines transgenerationalen Traumas. Laura Cwiertnia hat ihre eigene Methode gefunden, dieses Schweigen zu brechen: Sie hat ein Buch geschrieben. Und sich damit die Legitimation errungen, Fragen zu stellen. Und sie hat Antworten bekommen: von Genozid-Forschern, Armenier*innen, ihrem Vater. Es ist Cwiertnia gelungen, aus ihren Rechercheergebnissen ein detailliertes, authentisches, lebendiges Bild vom Straßenleben in Istanbul in den 60er Jahren, von der Pogromnacht 1955 und von Jerusalem während des Sechstagekrieges 1967 zu zeichnen. Wir bekommen Einblick in armenische Bräuche, lernen ein Stück des heutigen Armeniens, aber auch das Leben in Bremen-Nord vor 30 Jahren kennen. Cwiertnia führt uns nah an ihre Charaktere heran, schildert eindrücklich deren Erlebnisse.
Mit knapp 200 Seiten ist es ein eher dünnes Buch, aber sehr gehaltvoll und vor allem lange nachklingend.

Nina Chaberny-Bleckwedel

 


eine frage der chemie 150x237

 

Piper 22,00€

 

Bonnie Garmus: "Eine Frage der Chemie"

„Die Fernsehsendung „Essen um sechs“ von und mit Elizabeth Zott ist nicht bloß die Einführung in die Chemie, es ist ein dreißigminütiger, fünfmal die Woche stattfindender Unterricht in Sachen Leben.“ Ein halbes Leben wird es dauern, dass Mrs. Zott diese Zeilen lesen wird und ihr Lächeln wiederfindet.

Die kleine Elizabeth Zott wächst in unguten Verhältnissen auf. Ihr Vater, ein geldgieriger Wanderprediger, landet im Knast. Die Mutter setzt sich wegen Steuerhinterziehung nach Südamerika ab, der geliebte Bruder stirbt. John, dem Elizabeth alles zu verdanken hat! Nimmt er doch seine kleine, hochintelligente Schwester an die Hand, bringt ihr Lesen und Schreiben bei und öffnet ihr die Wunderwelt der Bibliotheken. Sein Verschwinden hinterlässt eine tiefe Wunde in der Seele des Mädchens.
Doch die Wissenschaft hilft! Die Chemie, das ist ihr Leben. Mit einem scharfen, analytischen Verstand gesegnet, nimmt sie in der Männerdominierten Welt der Wissenschaften kein Blatt vor den Mund. Zudem ist sie noch bekennende Atheistin. Das kommt überhaupt nicht gut in den USA der frühen 50er Jahren. Diese leidvolle Erfahrung muss Elizabeth mehr als einmal machen.
Doch das Leben scheint sich zu wandeln, als sie am Institut Hastings den berühmten Chemiker Calvin Evans kennenlernt, der sich auf den ersten Blick in die bildhübsche, junge Frau verliebt. Tatsächlich führen die beiden eine wunderschöne Liebesbeziehung auf Augenhöhe. Er nimmt sie ernst in ihrem Streben und sieht in ihr die brillante  Wissenschaftlerin, die sie ist. Leider währt das Glück nicht lange. Ein zweiter Verlust lässt sie verzweifeln. Doch Calvin hat ihr ein zunächst ungewolltes Geschenk hinterlassen. Elizabeth ist schwanger – und unverheiratet. Damals ein Grund zur Kündigung, doch die zähe Frau gibt nicht auf. In ihrer Küche richtet sie sich ein Labor ein, versorgt das schreiende Töchterchen und bekommt tatsächlich eine neue Lebenschance. Ihr Aussehen verhilft ihr zu einer Sendung im Nachmittagsfernsehen. Eine, wie man heute sagen würde, Kochshow, aber mit dem feinen, wichtigen Unterschied, dass sie nicht nur Rezepte, sondern  gegen alle Widerstände ihre Lebensklugheit per Bildschirm an die Frau bringt. Nicht lange wird es dauern und die weibliche Bevölkerung ganz Amerikas hängt an Elizabeth Zotts Lippen...

Witzig und skurril geschrieben, gehört dieser Roman zu einem der Highlights in diesem Frühjahr, der sich einer breiten Leserschaft erfreuen wird. Einfach gut!!!

Annette Matthaei



das fluestern der bienen 150x237

 

Ullstein 12,99€

 

Sofia Segovia: "Das Flüstern der Bienen"

Auf den ersten Blick nahm mich das Cover mit den farbig gezeichneten Orangen, deren Blüten und Blättern und den Bienen für sich ein. „Sommer!“, dachte ich. Nun, 475 Seiten später, weiß ich, dass das Buch eher wenig mit dieser Jahreszeit zu tun hat. (Mit Maja Lundes „Die Geschichte der Bienen“ übrigens auch nichts!) Dennoch war ich keineswegs enttäuscht! Segovias historischer Familienroman, der in ihrer Heimat wochenlang in den Bestsellerlisten verweilte, liest sich streckenweise wie ein Krimi und ist umso spannender, da er im fernen Mexiko spielt.
„Der Roman erzählt von der Liebe für das Land, das Leben, die Familie und von einem Verrat, der alles enden lassen kann.“ So steht es im Klappentext. Das Außergewöhnliche, was diesen Roman so besonders macht, ist die Magie, die Übersinnlichkeit, verkörpert durch das von einem Bienenschwarm umgebene Findelkind Simonopio, das nur die Sprache der Natur spricht…

Simonopio, der aufgrund seiner angeborenen Gaumenspalte nie richtig sprechen lernt und von abergläubischen Mitmenschen als vom Teufel geküsstes Kind gefürchtet wird, hat eine besondere Gabe: Mit all seinen Sinnen nimmt er die Natur und seine Umwelt wahr, spürt, was in den Mitgliedern seiner Familie vorgeht, und kann Geschehnisse vorhersehen. Der elternlose Junge wächst zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf der Hacienda La Amistad auf, unweit der kleinen mexikanischen Stadt Linares, am Fuße der Berge, umgeben von Zuckerrohrplantagen. Land und Gutshaus gehören seit Generationen der Familie Morales; die alte Nana Reja, die als Amme sämtliche Morales-Kinder – und noch viele mehr – gestillt hat, wird seit jeher mit vererbt. Schweigend und mit geschlossenen Augen verbringt sie die Tage auf der Veranda in ihrem geliebten Schaukelstuhl. Der Legende nach, ist sie die Einzige, die das ausgesetzte Baby hat schreien hören. Sie nimmt sich seiner an, bringt ihn auf die Hacienda und weicht ihm nicht mehr von der Seite, bis er groß genug ist, um alleine über die Ländereien, bis in die Berge zu streifen, immer begleitet von seinem Schwarm Bienen, deren Flüstern er verstehen kann… Don Francisco Morales und seine Frau Beatriz Cortés de Morales, die zu der Zeit zwei Töchter haben, nehmen Simonopio als Patenkind in ihre Familie auf und lieben ihn wie einen eigenen Sohn. Dank Simonopios Gabe, von der nur Nana Reja zu wissen scheint, entgehen sie mehrmals dem Unglück, überstehen sowohl die Spanische Grippe als auch den Bürgerkrieg der Mexikanischen Revolution relativ unbeschadet. Bei der Umstrukturierung der Zuckerrohrfelder in Orangenplantagen im Zuge der Landreform sind Simonopios magisches Gespür und einzigartiger Wissensschatz über die Natur Gold wert für den Großgrundbesitzer Morales, der zwar immer wirtschaftlich, aber auch sozial agiert und seine Pächter und Landarbeiter gut behandelt und bezahlt. Letzteres sehen jedoch nicht alle so: Anselmo Espiricueta hasst seine Existenz als Leibeigener und möchte sich und seine Familie um jeden Preis aus der Knechtschaft seines Patróns befreien. Simonopio ist ihm dabei ein riesiger Dorn im Auge…

Vielleicht geht Segovia nicht kritisch genug mit den Klassenunterschieden der mexikanischen Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts um, zeichnet ein etwas zu schwarz-weißes Bild des faulen, gewalttätigen indigenen Angehörigen der niederen Arbeiterschicht, der seinem Herrn zu Dank verpflichtet sei, und des gönnerhaften weißen Großgrundbesitzers, der seine Arbeiter zwar vermeintlich sozial und fair behandelt, ihnen faktisch aber jede Chance auf Freiheit und eigenen Besitz verwehrt. Wer sich an diesem Punkt nicht allzu sehr stört, wird sich verlieren in der Geschichte der Familie Morales, mit ihnen lachen, lieben und leiden. Segovia erzählt sie aus mehreren Perspektiven, lässt uns tief eintauchen in die Gedanken und Gefühlswelten des kindlich-sensiblen Simonopio, des verbitterten Anselmo Espiricueta, des gutherzigen Familienoberhauptes, dessen starker Gattin, und nicht zuletzt deren spät geborenen leiblichen Sohnes, Francisco Morales, der uns als alter Mann in der Ich-Perspektive rückblickend an seinen beglückenden wie schmerzhaften Erinnerungen teilhaben lässt.  Segovia verknüpft dabei in wunderschöner, teils fast poetischer Sprache Imagination und Realität und lässt einem angesichts der unerschütterlichen Liebe, Zuneigung und gegenseitigen Unterstützung des Ehepaares Morales das Herz aufgehen.
Dieses Buch beschreibt Zuversicht und Lebensmut in einer krisengebeutelten Gesellschaft. Nicht schmalzig! Einfach nur wohltuend!

Nina Chaberny-Bleckwedel

 


alles geben 150x237

 

Kiepenheuer & Witsch 22,00€

 

Neven Subotic: "Alles geben - Warum der Weg zu einer gerechten Welt bei uns selbst anfängt"

Der Fußballprofi Neven Subotic hat in den 32 Jahren seines Lebens so viel erlebt, dass seine Geschichte, und nicht nur seine sportliche, ein Buch füllen kann.

Anfang der 90er-Jahre flohen seine Eltern vor den Bürgerkriegswirren aus Bosnien nach Süddeutschland und fingen bei Null in einem fremden Land an, erlernten die Sprache, die Bräuche, integrierten sich. Und als ihre Aufenthaltsgenehmigung ablief und die Abschiebung in die alte Heimat drohte, zog die Familie beherzt weiter, Richtung Salt Lake City in den USA. Dort begann Neven Fußball zu spielen und wurde ziemlich schnell gesichtet und in die amerikanische Jugend-Nationalmannschaft berufen.
Als junger Mann von 17 Jahren folgte er einem Angebot und kehrte als Profisportler nach Deutschland zurück. Seine Karriere entwickelte sich rasant: Subotic spielte für Mainz 05, folgte Jürgen Klopp nach Dortmund, gewann Deutsche Meisterschaften, triumphierte im Pokalfinale – kurz: er war ganz oben, galt als einer der besten Verteidiger der Liga. Subotic verdiente Millionen Euro, es folgten rauschende Nächte, schnelle und teure Autos, eine riesige Villa mit allen Schikanen – also genau das, wann man so von einem erfolgsverwöhnten Star erwartet.
Aber es kamen auch Zweifel auf und Scham. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere entschied er, seine Leidenschaft und sein Geld denjenigen zu widmen, die ein Leben im anderen Extrem führen müssen, die Tag um Tag bangen müssen, nicht genug Wasser zum Trinken zu haben, die Tag um Tag weite Wege auf sich nehmen müssen, eine Quelle zu erreichen, die ihnen ihr Überleben sichert. Neven Subotic gründete nach langen und gründlichen Recherchearbeiten eine Stiftung, die Menschen in Äthiopien Zugang zu sauberem Wasser ermöglichen sollte. Mittlerweile fließen fast seine gesamte Zeit und ein Großteil seines Geldes in dieses Projekt. Voran ging ein jahrelanger Prozess der Reflexion und Selbstanalyse – und am Ende dieses Denkprozesses aus seinem privilegierten Status heraus und in einem der reichsten Länder der Welt lebend, stand für ihn fest, dass es um globale Gerechtigkeit gehen müsse – er nennt das selbst einen logischen Ansatz.

Subotic erzählt in seinem Buch ungeschönt von seinem sportlichen und gesellschaftlichen Werdegang, er lässt den Leser teilhaben an seinen Gedanken, seinen Zweifeln und seinen Wünschen. Mittlerweile ist er ein Experte auf dem Gebiet des Brunnenbaus, immer wieder interviewt er Fachleute und Politiker für die Webseite seiner Stiftung. Hunderte von Brunnen haben er und seine Mitstreiter in Äthiopien finanziert und gebaut, seit kurzer Zeit auch in Tansania und Kenia. Seine Partner sind durchweg lokale Organisationen, die Mitarbeiter kommen aus dem jeweiligen Land. Zweimal jährlich reist Neven Subotic selbst in die Regionen – und auch davon berichtet er: von kulturellen Unterschieden, von Gesprächen, von Menschen, die selbstlos ihr Leben den Ärmsten der Armen widmen, und das mit Begeisterung und Freude. Wenn er von diesen Begegnungen erzählt, von den Kindern und der Unmittelbarkeit der Hilfe vor Ort, dann spürt man seine Begeisterung, seinen inneren Auftrag und seine Vision. Es ist ja auch so, dass Wasser indirekt in die Bildung fließt. Die Mädchen und Jungen können die Schule besuchen und müssen eben nicht stundenlang zum nächsten Wasserloch laufen, um den täglichen Bedarf zu decken.
Das soziale Engagement von Neven Subotic ist mehr als eine Passion – es ist sein Lebensmittelpunkt.

Heike Kasten

 


der unbekannte 150x237

 

Blanvalet 15,00€

 

Christine Brand: "Der Unbekannte"

Als ihre Mutter Margret sie dringend um Hilfe bittet, passt es gerade eigentlich überhaupt nicht ins Leben der jungen, engagierten Journalistin Milla; doch irgendetwas in der Stimme ihrer Mutter lässt sie aufhorchen und bringt sie dazu, trotz all ihrer eigenen momentanen Probleme (und das sind nicht wenige), doch zu ihr zu fahren. Dort angekommen trifft sie auf eine unglaubliche Szenerie: Ausgerechnet der Schweizer Nationalratspräsident liegt tot - ... und nackt...-  im Bett der Mutter, offenbar verstorben an einem Herzinfarkt...
Da ist guter Rat teuer: Ihren Freund, den Polizeikommissar Sandro Baldini, kann Milla schlecht zu Hilfe holen. Sie will ihrer Mutter um jeden Preis ersparen, ins Kreuzfeuer der Medien zu geraten. Also muss der Tote so schnell wie möglich aus der Wohnung. Dies gelingt mit Hilfe von Millas Onkel, der ein Bestattungsunternehmen leitet.

Währenddessen kämpft Millas blinder Freund Nathaniel mit seiner Vergangenheit. Als er ein kleiner Junge war, brachte sein Vater seine Mutter, seine Schwester und schließlich sich selbst um und verletzte Nathaniel so schwer, dass er sein Augenlicht verlor, jedoch als Einziger überlebte. So zumindest wurde dem kleinen Jungen die Geschichte wieder und wieder erzählt. Nun möchte seine Freundin Gundula gerne ein Kind, doch Nathaniel fühlt sich einfach nicht bereit für diese große Verantwortung. Er beschließt, sich endlich seiner Vergangenheit zu stellen, fordert die alten Fallakten an und stößt dabei auf einige Ungereimtheiten. Wie kann es sein, dass der damalige leitende Ermittler, Felix Winter, der auch heute noch im Polizeikommissariat arbeitet, einige Akten einfach nicht mehr findet? Immer tiefer gräbt Nathaniel in den Abgründen seiner Vergangenheit, und die Geschichte, auf die er stößt, bringt absolut alles in seinem Leben ins Wanken. Auf der Suche nach Antworten begibt er sich zusammen mit seiner Blindenhündin Alisha in tödliche Gefahr...
Nathaniel versucht, Hilfe von Milla zu bekommen, doch deren Probleme nehmen ebenfalls gerade überhand: Der Politiker ist leider mitnichten einem unglücklichen Herzanfall erlegen, sondern wurde mit dem Gift der Herbstzeitlose umgebracht! Und ausgerechnet im Regal von Millas Mutter steckt ein Buch über Giftpflanzen und deren tödlicher Wirkung...

Auch der vierte Fall der Krimiautorin Christina Brand um die Journalistin Milla und den blinden Nathaniel Brenner ist wieder sehr spannend, hält viele unerwartete Wendungen bereit und lässt den Leser das Buch bis zum Ende nicht mehr aus der Hand legen!
Ich mochte auch schon die drei Vorläuferbände, allerdings kann man diesen Band auch völlig unabhängig von den anderen lesen. Ein wahres Krimivergnügen - raffiniert und nicht allzu blutrünstig!

Sabine Christ

 


die toten von fleat house 150x237

 

Goldmann Verlag 22,00€

 

Lucinda Riley: "Die Toten von Fleat House"

Wir befinden uns in Norfolk, Großbritannien, genauer gesagt in der ehrwürdigen St. Stephen`s School, die von Kindern betuchter Eltern besucht wird, die ihrem Nachwuchs die bestmögliche Schulbildung, aber auch eine vernünftige traditionelle Erziehung angedeihen lassen möchten. Das Internatsleben ist gerade für die jüngeren Schüler nicht immer einfach, es gab schon mehr als einen Fall von Mobbing und Drangsalierung. Einer, der ausgesprochen gerne die kleineren Jungen quält, ist Charlie, ein provokanter Großkotz, der sein Leben auf der Überholspur feiert. Leider nicht mit dem Einverständnis seines konservativen Vaters, der ihn als Nachfolger in seiner Anwaltskanzlei sehen will.
Eines Morgens nun wird Charlie tot in seinem Wohnheimzimmer in Fleat House aufgefunden – und was zunächst wie ein tödlicher epileptischer Anfall aussieht, entpuppt sich rasch als anaphylaktischer Schock! Charlie war hochgradig allergisch auf Aspirin. Seine abendliche Tablettenration musste ausgetauscht worden sein!

Natürlich darf ein solcher rufschädigender Fall die Mauern der Schule unter keinen Umständen verlassen. Daher beginnen die polizeilichen Ermittlungen unter besonders diskreten Umständen und werden geleitet von der charismatischen Jazz Hunter, die sich nach einer beruflichen Auszeit aus persönlichen Gründen einem, wie immer deutlicher wird, verzwickten Mordfall gegenüber sieht. Doch bevor sich Jazz überhaupt einen Reim auf Situation machen kann, begeht ein Lehrer Selbstmord und ein Kind verschwindet.
Jazz versucht, in den verschlossenen Kosmos des Internats vorzudringen und sticht in ein Netz von Beziehungen, emotionalen Abhängigkeiten und offenen Rechnungen.
Und sie erkennt, dass sie weit in die Vergangenheit zurückgehen muss, wenn sie das Rätsel von Fleat House enthüllen will. Clever verfolgt sie diverse Spuren, stößt dabei immer wieder auf eisiges Schweigen oder einsilbige Antworten – der Ruf von Schule und Familien soll zwingend gewahrt bleiben. Trotzdem: ganz offensichtlich waren viele Personen nicht gut auf Charlie Cavendish zu sprechen!

Schwierig ist die Rolle von Charlies Eltern einzuordnen: Da ist auf der einen Seite der erfolgsverwöhnte, ehrgeizige Vater, den der Tod seines Sohnes irgendwie nicht weiter berührt, da ist auf der anderen Seite die Mutter, eine beherrschte, aber undurchsichtige Frau, die sicherlich trauert, aber… DI Jazz trifft sie an unvermuteten Orten an, zudem bei Menschen, die sie leugnete zu kennen.

Heike Kasten

 


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Ullstein 11,99€

 

Beate Maly: "Die Frauen von Schönbrunn"

Im Sommer 1914 wird Emma Mosers Traum wahr: Sie bekommt eine Stelle als Tierpflegerin im Wiener Tierpark Schönbrunn. Eigentlich möchte Emma in die Fußstapfen ihres Vaters treten, der als Tierarzt jahrzehntelang im Zoo arbeitete. Doch Frauen sind in Wien nicht zum Studium der Veterinärmedizin zugelassen. Dafür müsste Emma nach Zürich gehen - doch das Geld ist knapp.

Dann bricht der Erste Weltkrieg aus und das sorglose Leben im schönen Wien findet ein jähes Ende: Emmas Vater und der Ehemann ihrer hochschwangeren Schwester Greta, Gustav, werden eingezogen. Auch die meisten Pfleger aus dem Zoo müssen als Soldaten in den Krieg und so lastet die meiste Verantwortung für die Tiere nun auf Emma. Diese wiegt schwer: Der Winter bricht herein und in Zeiten, in denen schon Nahrung für die Menschen knapp ist, bleibt für die Tiere erst recht nicht viel übrig. Dazu kommt, dass Emma erkennt, wie wenig artgerecht die Tiere gehalten werden, und sie verzweifelt - gegen die Widerstände des Zoodirektors und des unangenehmen Zoologen von Kochauf - versucht, etwas Abwechslung in den Käfigen und Gehegen zu schaffen. Greta bemüht sich, für Essen und Haushalt zu sorgen, während Emma im Zoo für ihre Schützlinge sorgt und das wenige Geld verdient, das ihnen das Überleben sichert.
Die Bevölkerung hungert und friert, und die Rufe, den Zoo in diesen Notzeiten zu schließen, werden immer lauter. Emma kämpft zusammen mit Julius Winter, einem jungen Arzt, der verletzt aus dem Krieg nach Wien zurückgekehrt ist, um das Überleben der Tiere. Zunehmend fühlt Emma sich zu ihm hingezogen; Julius jedoch wird von seinen schrecklichen Kriegserinnerungen gequält und ertränkt seine Sorgen regelmäßig in Alkohol. Als die Schwestern auch noch die Nachricht erreicht, dass Gustav gefallen und der Vater vermisst wird, scheint die Lage hoffnungslos zu werden. Doch Emma weigert sich aufzugeben!

Ein wunderbarer Schmöker über die Geschichte des Wiener Tiergartens und zwei starke Frauen in einer schwierigen Zeit, nebenbei eine angenehme Liebesgeschichte... nicht zu schwer und angenehm flüssig zu lesen!

Sabine Christ