Unsere Buchempfehlungen im Oktober
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Lübbe 18,00€
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Arttu Tuominen: "Was wir ihnen antun"
Ein Thriller so ganz nach meinem Geschmack!
Der Prolog lässt Schlimmes ahnen: junges Mädchen auf einsamem Spielplatz trifft "Peter Pan" und wird nur wenige Stunden später von der verzeifelten Mutter als vermisst gemeldet. Kommissarin Linda Toivonen leitet die nötigen Schritte ein, und wir LeserInnen befürchten zu recht, dass die Suche nicht zum gewünschten Erfolg führen wird. Als die Leiche der 13 jährigen Laura Tage später aus dem Fluss geborgen wird, ist klar, dass ein Gewaltverbrechen vorliegt... Als Linda im Umfeld der Toten auf Verbindungen zu ihrer eigenen Tochter stößt, macht sich Panik bei ihr breit. Darüber hinaus wird sie gedanklich immer wieder in ihre eigene Jugend geworfen. Einst träumte sie von einer großen Karriere als Modell und zog mit 16 Jahren gegen den Willen der alkoholabhängigen Mutter nach Mailand. Währenddessen läuft die Suche nach dem Mörder auf Hochtouren. Aber erst als bekannt wird, dass ähnliche Fälle von vermissten jungen Frauen seit Jahren unaufgeklärt in verschiedenen Polizeiarchiven Finnlands lagern, scheint ein roter Faden gefunden zu sein. Ungünstig, dass ausgerechnet in der heißen Phase der Ermittlungen sowohl bei Linda, als auch bei ihrer Vorgesetzten private Krisen wie Bomben einschlagen...
Andrea Westerkamp
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Fischer 18,00€
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Theresa Hannig: "Parts per million - Gewalt ist eine Option"
Ein brandaktueller und zudem noch sehr spannender Roman zu einem brisanten Thema, was will man mehr.
Die mäßig erfolgreiche Autorin Johanna Stromann hat eine leichte Schreibkrise, als sie auf dem Weg zu einem Termin eine Gruppe junger Klimaaktivisten beobachtet, die eine Straße blockieren. Johanna ist beeindruckt vom unbedingten Engagement und vor allem der Gewaltlosigkeit der jungen Leute, denen der blanke Hass und die Gewalt der Autofahrer entgegenschlägt. Und da liegt sie doch: die Idee für den nächsten Roman. Zu diesem Thema ein Buch – das wär’s. Johanna beginnt, Kontakte zu Aktivisten zu knüpfen - zunächst mal nur, um zu recherchieren. Doch je tiefer sie eintaucht, je enger der Kontakt zu Markus, Isa, Zoe und vielen anderen wird, desto mehr stellt sie sich die Frage, ob sie nicht selbst Teil der Bewegung werden muss. Nach anfänglicher großer Berichterstattung nimmt nämlich die Öffentlichkeit kaum noch Notiz von Aktionen der Klimabewegung, ist höchstens genervt von Blockaden und möchte sich nichts "verbieten" lassen... mit dem Flieger durch die Welt reisen, Fleisch essen, munter konsumieren, bis der Arzt kommt. Als Johanna zusammen mit ihrer Tochter an einer Demonstration teilnimmt, die aus dem Ruder läuft, und bei der sich auch die Polizei zweifelhaft verhält, beschließt sie, dass sie nicht länger neutral bleiben kann. Unter dem Vorwand, in Ruhe an ihrem Buch arbeiten zu müssen, fährt sie für eine Weile nach Berlin und taucht dort nicht nur ein in eine Art Guerilla-Truppe ein, sondern ist mehr und mehr bereit, illegale Aktionen zu befürworten und sogar zu entwickeln.
Es geht in diesem sehr spannenden Roman überhaupt nicht darum, Gewalt zu rechtfertigen oder zu verteidigen, es geht aber sehr wohl um die Verzweiflung vieler jüngerer Menschen angesichts der Bequemlichkeit und Verdrängungsfähigkeit vieler Menschen – und das Abrutschen in die Radikalität. Sehr zu empfehlen für alle Alters- und Lesegruppen, auch für junge Erwachsene.
Astrid Henning
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Galiani 23,00€
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Miriam Böttger: "Aus dem Haus"
Kann man ein ganzes Buch schreiben über den Auszug der Eltern aus dem eigenen Haus, dem Haus, das jahrzehntelang als Grund und Symbol für jegliches Unglück der Familie dienen musste? Man kann, und das auch noch so, dass man sich als Leser so manches Lachen nicht verkneifen kann. Es sei denn, man liebt Kassel, dann hat man es schwer mit diesem Roman.
Die ersten Jahre ihre Kindheit verlebt die inzwischen erwachsene Erzählerin mit ihren Eltern in Weinheim, da ist die Welt noch in Ordnung. Die ganze Familie eingebunden in den Ort, Nachbarschaft, Freundschaften, alles bestens. Doch dann wird der Vater befördert, eigentlich ein Grund zur Freude. Allerdings ist mit der Beförderung auch ein Umzug verbunden, denn die Firmenzentrale befindet sich in Kassel. Für den Vater Heimatstadt (nicht unbedingt geliebte), für die Mutter nahezu unerträglich. Wie man dort spricht, kaum auszuhalten! Und dann: Alles provinzielle und bigotte Protestanten! Außerdem pflegt der Kassler eine geradezu pathologisch liebevolle Beziehung zu Autos generell, nicht nur dem eigenen. Alles kaum auszuhalten für die Mutter, die sich von Stund an immer tiefer in ihr höchst eigenes Stimmungstief hineinarbeitet. Wie schreibt die Erzählerin so schön: „Die Negativität war der Norden ihres Kompasses“. Nach ein paar Jahren baut man ein Haus, aber auch hier: Alles läuft schief. Pfusch am Bau, ein Wasserrohrbruch nach dem nächsten, die Terrasse wurde vom Architekten völlig falsch platziert usw. Mag das Haus auf andere auch hell und freundlich wirken – das täuscht, sie wohnen ja schließlich nicht drin. Immer wieder erwägt man den Verkauf und beauftragt einen Makler, aber kein Käufer weit und breit. Doch nach Jahrzehnten der Lichtblick: Erstaunlicherweise findet man einen Interessenten, endlich wird man das Haus los. Und nun? Auch nicht recht. Der Umzug!
Wer Freude an Ironie und schwarzem Humor hat, ist hier goldrichtig. Miriam Böttger findet für die Gefühlslagen ihrer Romanfiguren so treffliche Bilder und schreibt wunderbare Dialoge. Eine Familiengeschichte, in der die Mitglieder sich selbst, aber gerne auch anderen dermaßen im Weg stehen, dass es schon fast tragisch ist. Wenn es nicht so lustig wäre.
Astrid Henning
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Rowohlt 28,00€
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Marco Meier: "Inge Feltrinelli - Das erste Leben"
Ich liebe Biografien von starken Frauen, die gut erzählt sind und sich dabei an die Fakten halten, auf Aufzeichnungen und Zeitzeugnissen sowie Zeitzeugenberichten basieren. Im besten Fall hat der Biograf bzw. Autor sogar mit dem/der Biografierten selbst gesprochen – so wie Marco Meier mit Inge Feltrinelli, geborene Schönthal, die 2018 im Alter von 88 Jahren verstarb und auf ein wahrlich bewegtes, erzählenswertes Leben zurückblicken konnte. (An dieser Stelle frage ich mich, welches Leben nicht erzählenswert ist... Jeder Mensch hat eine einzigartige Biografie. Nicht alle haben jedoch das Glück oder auch nur die Chance, darüber berichten zu dürfen bzw. berichten zu lassen. Wie viele Lebensgeschichten bleiben unerzählt, ungehört… Aber das ist ein anderes Thema.)
Inge Schönthal wird 1930 als Tochter eines jüdischen Vaters und einer nicht-jüdischen Mutter in das Leben einer Essener Mittelstandsfamilie hineingeboren. Trudel Rosenthal ist eine Kämpfernatur, erkämpft sich Privilegien für ihre Tochter im aufstrebenden Naziregime und sorgt dafür, dass ihr Mann gerade noch rechtzeitig Deutschland verlassen kann. Inge ist noch klein, als sie ihren geliebten Väti auf unbestimmte Zeit verliert. Jahrzehnte später wird sie ihn als junge Frau in New York wiedertreffen. Bis dahin hat sie nicht nur einen neuen Vater erhalten (und ebenfalls verloren), sondern auch Geschwister, ein neues Leben als Teil einer Offiziersfamilie in Göttingen, wo sie eine trotz der Kriegswirren recht glückliche Kindheit und Jugend verbringt, und schließlich aus eigenem Engagement eine fundierte Ausbildung zur Fotografin und Fotolaborantin bei Rosmarie Pierer in Hamburg – die Stadt, welche nach Kriegsende als DIE deutsche Medienstadt aufstrebt, mit Sitz vieler großer, namhafter Zeitungen, Magazine und Illustrierter wie DIE ZEIT, DER SPIEGEL, STERN, BILD. Mit ihrem Charme und ihrem offensiven und zielstrebigen Auftreten erobert sich die junge, attraktive, smarte Inge nicht nur einen Platz in diversen Männerherzen, sondern auch einen anerkannten Status im männerdominierten Beruf des Fotoreporters, und verschafft sich Zutritt in Kreise der High Society auf mehreren Kontinenten. Sie wird mit Journalismus- und Verlagsgrößen wie Rowohlt, Springer, Steiner u.a. bekannt und zählt einige von ihnen für Jahrzehnte zu ihren engsten Vertrauten. In diesem Zuge lernt sie auch den italienischen Verlagserben Giangiacomo Feltrinelli kennen und lieben…
Die Geschichte der Fotoreporterin Inge Feltrinelli liest sich dynamisch, rasant, witzig. Wir bekommen nicht nur (intime) Einblicke in Inges Leben, sondern auch in das vieler Berühmtheiten: Anekdoten, Momentaufnahmen und die Schilderung besonderer Begegnungen, zum Beispiel mit Ernest Hemingway, Picasso, Greta Garbo und Elisabeth Arden werden sehr persönlich und bildhaft dargestellt. A propos bildhaft: Diverse Schwarzweißaufnahmen aus etlichen Stationen des Lebens der Inge Schönthal, später Feltrinelli, bereichern Meiers biografischen Text. Es ist die Geschichte eines kleinen Mädchens, einer jungen Frau, einer bekannten Fotoreporterin, aber auch ein Buch über die deutsche Verlagsgeschichte der Nachkriegszeit, über die Geschichte der Fotoreportage, über die Entwicklung der Kameratechnik, über politische, wirtschaftliche sowie gesellschaftliche Facetten der Nachkriegszeit. Wir begleiten Inge per AnhalterIn mit dem Auto nach Paris und Italien, entdecken Kuba, Brasilien und New York. Für LeserInnen, die sich für Verlagswesen, Fotografiegeschichte, Journalismus in der Nachkriegszeit interessieren, ist Marco Meiers Buch über Inge Feltrinelli ein Muss. Aber auch Menschen, die einfach eine spannende, informative, unterhaltsame Biografie über eine toughe Frau in den 1950er Jahren lesen möchten, kann ich dieses Buch ausdrücklich empfehlen! Ein Stück illustrativ und lebhaft dargestellter Zeitgeschichte! Absolut lesenswert!
Nina Chaberny-Bleckwedel
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Unsere Buchempfehlungen im September
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Droemer 22,00€
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Peter Huth: "Der Honigmann"
Ein Roman, in dem sich ganz bestimmt viele Leser und Leserinnen wiedererkennen werden.
Ein kleiner Ort nicht weit entfernt von Berlin, das ist Fischbach. Hier wohnen neben den ursprünglichen Dorfbewohnern inzwischen jede Menge gutverdienende Familien, nach dem Motto: arbeiten in Berlin, leben in Fischbach. Fast alle haben Kinder, oft in ähnlichem Alter, die hier in einem wahrhaft idyllischen Rahmen ihre Kindheit verleben. Man stromert durch die Gärten, am Wochenende wird zusammen gegrillt, die dörfliche Grundschule ist inzwischen leicht Montessori-angehaucht – alles perfekt für die Klientel, die inzwischen Fischbach „übernommen“ hat. Die Eltern sind meist Akademiker, früher hat man die Nächte in den Clubs von Berlin durchgetanzt, aber diese wilden Zeiten sind jetzt vorbei. Dennoch: Man ist jung geblieben, tolerant (in Maßen) und immer am Puls der Zeit. Direkt gegenüber der Schule gibt es seit einiger Zeit einen neuen Laden, hier be-sorgt man hübsche Deko, exquisiten Tee und ganz besondere Honigsorten. Dass der Betreiber, ein älterer Herr, zudem auch noch ein immer offenes Ohr – und einen Kakao – für die Kinder hat, macht die Sache perfekt, alle lieben den „Honigmann“. Bis – ja, bis eine besorgniserregende Nachricht über den Honigmann die Runde macht, die das Zeug hat, die Idylle zu sprengen. Was erstmal in bester Absicht beginnt, bekommt eine ungeahnte Dynamik und eskaliert in einer bedrohlichen Art und Weise.
Peter Huth hat hier einen ungemein klugen Roman vorgelegt, der nicht nur sehr fein beobachtet ist, sondern uns auch mit eigenen Verhaltensweisen konfrontiert. Wie tolerant sind wir wirklich, wenn es darauf ankommt? Wie bereit sind wir, unsere eigene Lebensweise zu hinterfragen? Und hat wirklich jeder eine zweite Chance verdient?
Astrid Henning
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Rütten & Loening 22,00€
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Kristin Hannah: "Die Frauen jenseits des Flusses"
Mit „Die Nachtigall. Zwei Schwestern. Die eine kämpft für Freiheit. Die andere für die Liebe.“ hat Kristin Hannah vor ein paar Jahren im Sturm mein Leserinnenherz erobert. Sprachlich ansprechend, gut recherchiert und packend erzählt hat sie den Frauen, in diesem Fall zwei Französinnen, die eine kaum beachtete, jedoch tragende Rolle im Geschehen des Zweiten Weltkrieges spielten, eine Stimme gegeben. Wie sehr habe ich mich daher gefreut, als Hannahs neuestes Buch „Die Frauen jenseits des Flusses“, „The Women“ im Original, angekündigt wurde! Und wie enttäuscht war ich nach der Lektüre der ersten Seiten. So kitschig?! So hollywood-like?! Ihr Ernst??? Aber ich habe mich nicht beirren lassen, weitergelesen – und: Es hat mich gepackt! 536 Seiten Unterhaltung vom Feinsten (Ja, tatsächlich ließe sich daraus hervor-ragend ein Hollywood-Film machen. Oder vielleicht hat sie auch die Szenen, die Bilder ihres Romans solchen entnommen?), Entsetzen, Staunen, Ungläubigkeit, Mitgefühl – für die US-amerikanischen Frauen, die eine nicht nur nicht beachtete, sondern zu ihrer Zeit verleugnete Rolle im Vietnamkrieg spielten.
Nachdem ihr großer Bruder Finley aus Überzeugung als Marinesoldat nach Vietnam gegangen ist – und nicht mehr zurückkehrte -, beschließt Frankie, Tochter aus wohlhabendem Hause auf Corona Island, Kalifornien, sich mit ihren Fähig-keiten als ausgebildete Krankenschwester im Kriegsgebiet nützlich zu machen. Schon das Vorhaben in die Tat umzusetzen, erweist sich als schwieriger als gedacht; in ihrer Familie stößt sie auf pure Ablehnung. Nicht weil sie ebenfalls getötet werden könnte, sondern weil Frauen aus Sicht ihres gesellschaftlich hoch angesehenen Vaters nichts im Krieg zu suchen haben. Persönlich verletzt, jedoch mit eisernem Willen und einer klaren Mission, findet Frankie letztlich eine Einheit, die auch Frauen bzw. Krankenschwestern, die noch nicht viel Berufserfahrung haben, ins Einsatzgebiet schickt. In Vietnam angekommen, wird Frankie ins kalte Wasser geworfen - und erlebt die Hölle. (Haben Sie schon einmal einen amerikanischen Film über den Vietnamkrieg gesehen? So liest sich das erste Drittel von „Frauen jenseits des Flusses“…) Doch sie hält durch, ist gut in ihrem Job, findet schnell zwei Freundinnen, Barb und Ethel, und die drei jungen Frauen helfen und unterstützen sich gegenseitig in ihrer Arbeit und darin, den täglichen Horror im Frontlazarett zu ertragen. Natürlich spielen auch Männer eine Rolle: Frankie verliebt sich erst in den Soldaten Jamie, findet später in dem Piloten Rye, einem engen Freund ihres verstorbenen Bruders, ihre große Liebe – und muss erneut mit dem unsäglichen Schmerz des Verlusts klarkommen. Doch mindestens genauso schmerzvoll ist die Situation, mit der sie nach ihrer Rückkehr nach Kalifornien konfrontiert wird. Denn während die männlichen Vietnamveteranen als Kriegshelden gefeiert und auf dem Weg in ihr altes Leben unterstützt werden, in ersten Ansätzen auch psychologische Hilfe bekommen, wird die Tatsache, dass Frankie und viele andere Frauen ebenfalls wichtige Kriegs-akteure waren, mit ihrem medizinischen Einsatz einen bedeutenden Dienst für ihr Land in Vietnam geleistet haben, schlichtweg geleugnet, gesellschaftlich wie privat. (Frankie hat keine Chance auf einen Platz an der Heldenwand im Büro ihres Vaters…) Mit offenkundigen Symptomen von dem, was wir heute als Posttrauma-tische Belastungsstörung betiteln würden, kämpft Frankie sich durch den High Society-Alltag von Corona Island, vor allem durch die alptraumgeplagten Nächte, nimmt an Protestmärschen und Demonstrationen gegen den Krieg teil, sucht einen Sinn im Leben fernab des Kampfgebietes, wo immer noch täglich so viele junge Männer (und Frauen) sinnlos sterben.
Der Großteil von Hannahs Vietnamkriegsroman handelt von einer jungen Frau, die nach dem Durchleben der Hölle von Familie und Vaterland verraten wird, durch die besten Jahre ihres jungen Lebens taumelt und immer wieder, wenn sie gerade neuen Boden unter den Füßen gefunden hat, von neuen Schicksalsschlägen um-gehauen wird. Er handelt davon, wie viel ungleich schwerer es die weiblichen Vietnamveteranen gehabt haben müssen. Und wieder legt Kristin Hannah ihren Finger in eine gesellschaftshistorische Wunde, gibt jenen Frauen eine Stimme, die bisher wohl nur im kleinen, privaten Raum gehört wurden. Wenn überhaupt. „Die Frauen jenseits des Flusses“ – absolut lesenswert!
Nina Chaberny-Bleckwedel
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Insel Verlag 23,00€
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Volker Jarck: "Und später für immer"
Mit „Und später für immer“ beleuchtet Volker Jarck eine von unzähligen Facetten des Zweiten Weltkrieges, auf nur 200 Seiten mit wenigen Worten auf den Punkt gebracht, die Leserschaft mitten in Kopf, Herz und Seele treffend. „[…] und über Dortmund gingen mehr als 900 000 Kilo Bomben nieder, im Schneeregen. Niemand schlief, noch nicht einmal schlecht.“ (S. 75) Das Gute an dieser Kriegslektüre ist, dass wir wissen, dass sie gut ausgeht. Das macht den Inhalt erträglicher. Denn die Figur des jungen Funkers Johann, der rund acht Wochen vor Kriegsende vom Fliegerhorst Stade desertiert und sich bei Tante und Onkel auf dem Heuboden versteckt, ist Jarcks Großvater nachempfunden, der akribisch Kriegstagebuch führte. Dieser hat ganz offensichtlich überlebt, würde es doch sonst den Volker, ergo den Roman „Und später für immer“ nicht geben.
Johann und drei weitere junge Männer seiner Einheit, darunter auch der Haupt-mann selbst, durchschauen im März 1945 die aussichtslose Lage des Deutschen Reiches und beschließen zu desertieren, als sie den Befehl zu einer Luftabwehr-offensive gegen die Briten erhalten. Johanns Ziel, die Scheune seiner Verwandten, befindet sich keine 100 Kilometer entfernt; die Flucht dorthin übersteht er unbe-schadet. Gut versorgt durch seine Tante, heißt es, auszuharren, nicht verrückt zu werden, bis Deutschland kapituliert und der Krieg endlich, endlich vorüber ist. Neben seinen Brüdern, der eine gefallen, der andere verschollen, gelten Johanns einzige Gedanken seiner frisch angetrauten Frau Emmi und dem ungeborenen Kind, die er durch den Verzicht der Kontaktaufnahme zu schützen versucht. Abgesehen vom verletzten Knie, von den Alpträumen und den schmerzhaften Erinnerungen an seine Kindheit auf dem Land mit den Brüdern sowie an die noch sehr frischen Kriegserlebnisse ist Johanns Situation im Versteck erst einmal geprägt von Sicherheit und Zuversicht. Bis die 15-jährige Tochter vom Nachbarhof ihn entdeckt. Nicht klar, wie intelligent dieses Mädchen wirklich ist, welches Spielchen sie spielt, hängt Johanns Überleben an einem seidenen Faden…
Trotz der Schwere des Inhalts habe ich diese Geschichte über das Schicksal eines jungen Soldaten im Zweiten Weltkrieg, welche wohl beispielhaft für so viele steht, gerne gelesen. Ja, tatsächlich gerne! Denn die Frankfurter Neue Presse hat recht, wenn sie schreibt: „Volker Jarcks Kunst besteht darin, das Große und Schwere des Lebens ganz leicht erzählen zu können und das Leichte ganz großartig.“
Nina Chaberny-Bleckwedel
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Kiepenheuer & Witsch 24,00€
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Alina Bronsky: "Pi mal Daumen"
Ein gegensätzlicheres Paar lässt sich kaum denken als die beiden Protagonisten in Alina Bronskys neuem Roman: Oskar, 16 Jahre, hochbegabt und sozial, nun ja, sagen wir mal noch entwicklungsfähig, und Moni Konsinsky, Mitte 50, gerne im Leopardenlook unterwegs und sehr, sehr blond. Nicht Natur, versteht sich. Und doch sitzen diese beiden gemeinsam in einem Vorlesungssaal der Uni und studieren: Mathematik, 1. Semester. Oskar ist davon überzeugt, dass Moni sich verirrt haben muss, jemand wie sie gehört im Uni-Kosmos in die Kantinenküche, ist als Putzfrau unterwegs, bestenfalls als niedere Schreibkraft. Aber, weit gefehlt, tatsächlich hat sich Moni fürs Studium eingeschrieben und belebt die Vorlesungen gerne mit Verspätung, beladen mit einer großen, blauen IKEA-Tüte, auf alle Wechselfälle des Lebens vorbereitet. Wie sie dort den Alltag allerdings bewältigen will, mit drei Jobs, einer ziemlich lebensuntüchtigen Familie samt dreier Enkel und einem sehr, sehr weichen Herzen, das ist Oskar ein Rätsel. Er selbst wiederum ist ein ziemlicher Sonderling. Mathematisch hochbegabt, eindeutig, aber für alle in seinem Umfeld wirklich anstrengend. Eine gewisse autistische Ader lässt sich nicht verleugnen, es fällt Oskar extrem schwer, sich die „normalen“ Verhaltensweisen seiner Mitmenschen zu erklären. Aber Moni etwas auf die Sprünge helfen, das kann man schon machen, zumal unangenehmerweise bestimmte Hausarbeiten als Gruppenarbeit zu erledigen sind, für Oskar die Höchststrafe. Aber kann man ja mit Moni machen, Zeit hat sie eh nie, unterbelichtet ist sie mit Sicherheit auch, also: win/win für beide, Oskar hat seine Ruhe und Moni kriegt ihre Punkte.
Was aus diesem seltsamen Paar wird, welche Entwicklung die beiden nehmen, das macht Spaß zu lesen und zeigt uns, mit welchen Vorurteilen wir alle so unterwegs sind. Wem billigen wir Intelligenz und Bildung zu? Wer fällt von vornherein durch unser gesellschaftliches Raster? Und ganz abgesehen davon, erfahren wir auch noch so einiges über Monis über-raschenden familiären Hintergrund, mathematische Brillanz inbegriffen.
Astrid Henning
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Dumont 24,00€
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Roisin Maguire: "Mitternachtsschwimmer"
Mit „Mitternachtsschwimmer“ ist Roisin Maguire ein wunderbar leiser und zugleich sehr nachdrücklicher und atmosphärisch dichter Roman gelungen. Er spielt an der irischen Küste, die die Autorin immer wieder klar und bildgewaltig in Szene setzt. In dem kleinen Dorf Ballybrady, das mit seinen liebenswerten, teils etwas eigen-willigen Bewohnern Schauplatz der Geschichte ist.
Im Mittelpunkt steht Grace, die allein und zurückgezogen lebt und ihre Tage mit Schwimmen, Quilten und ihrem Hund „Hund“ verbringt. Vordergründig wirkt sie eigensinnig und stur, hat aber durchaus auch eine mitfühlende und verletzliche Seite. Eine traumatische Erfahrung, von der wir nichts Genaues erfahren, scheint sie entsprechend geprägt zu haben. Um Geld zu verdienen, vermietet Grace ein Cottage an Touristen, in das sich der Städter Evan für ein Woche einbucht. Emotional völlig aus der Bahn geworfen, droht er an dem Tod seiner kleinen Tochter zu zerbrechen, muss mitansehen, wie seine Ehe auf dem Spiel steht und er auch beruflich immer mehr ins Hintertreffen gerät. In Ballybrady will er nun wieder zu sich selbst finden. Doch aus einer Woche wird eine Auszeit auf unbestimmte Zeit: Das Coronavirus breitet sich aus und der Lockdown zwingt ihn dazu, in Ballybrady zu bleiben. Die Einheimischen begegnen dem deprimiert und zerbrechlich wirkenden Großstädter anfangs recht argwöhnisch, und auch Evan kann mit den Dorfbewohnern nicht viel anfangen. Insbesondere Grace in ihrer unnahbaren, ruppigen Art bleibt für ihn zunächst ein Rätsel. Als Evans achtjähriger gehörloser Sohn Luca unerwartet vor der Tür steht, überfordert das Evan noch zusätzlich und es ist Grace, die auf ganz eigene Weise einen Zugang zu dem verschlossenen Jungen findet. Nach und nach scheinen die Protagonisten die Vorbehalte einander gegenüber abzulegen und eine zarte Annäherung sowie gegenseitiges Vertrauen beginnen sich zu entwickeln.
„Ich glaube, (…) dass jeder Mensch eine öffentliche Seite hat, die er herzeigt und die von der Sonne gebräunt wird, und eine Unterseite, die im Verborgenen bleibt, (…). Nur wenn man beides im Gleichgewicht hält, kann man glücklich sein“ sagt Evan auf Seite 338/339. Dieses Zitat beschreibt sehr zutreffend, worum es in diesem Buch letztlich geht. Und es ist die Autorin Maguire, die uns diese Botschaft ohne Schnörkel und falsches Pathos, dafür aber humorvoll und mit viel Wärme und Empathie für ihre Charaktere vermittelt. Absolute Leseempfehlung für gemütliche Herbstabende.
Bettina Ziehe
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Atrium Verlag 24,00€
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Anne Holt: "Das elfte Manuskript"
In Anne Holts Neuerscheinung "Das elfte Manuskript" treffen drei Geschichten in einem Buch zusammen.
Der osloer Kommissar Henrik Holme steht vor einem seiner kniffligsten Fälle als die verunstaltete Leiche einer Frau in dem Kofferraum eines Unschuldigen auftaucht, die weder vermisst gemeldet wurde noch in irgendeinem System auffindbar ist. Währenddessen versucht Ebba Braut in ihrem neuen Job als Lektorin bei dem größten Verlag Oslos die in den Ruhestand getretene Kommissarin Hanne Wilhelmsen durch die Veröffentlichung ihres Debütromans zu leiten, doch diese erweist sich als unaufgeschlossen. Letztlich ist am Tag vor Ebbas Einstieg in den Verlag ein unersetzliches Manuskript des elften Buches von der erfolgreichsten Osloer Autorin in Ebbas neuem Büro verloren gegangen. Diese drei Geschichts-stränge weben sich im laufe des Krimis zu einem überraschend cleveren Ende zusammen.
"Das elfte Manuskript" war ein wahrer Krimischmaus für mich. Sowohl Anne Holts Erzählstil als auch wie klar und trotzdem einfallsreich sie die drei Geschichten zusammengeknüpft hat, haben das Leseerlebnis zu einem Vergnügen werden lassen. Dadurch, dass die Charaktere zwar ausgefallen sind, aber realistisch wirken und Anne Holt immer wieder zwischen den Erzählsträngen springt ohne den Leser zu verwirren habe ich ihren Krimi an einem Abend verschlungen. Und als ich gegen Ende hin dann das clevere Cover verstanden habe hatte Holt mich schon komplett eingefangen.
Luca Klipp
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Unsere Buchempfehlungen im August
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Jutta Böttcher: "Was bleibt und was nicht"
„Das Hin- und Herschaukeln genießt sie, wenn niemand guckt, das Kuscheltuch auch, und die Finger im Mund bringen Wärme ins Herz. Manchmal kratzt sie immer noch Fitzelchen von der Tapete, isst sie auf und schluchzt ohne Grund.“
Die Erzählung beginnt 1952, dem Jahr, in dem die spätere Protagonistin geboren wird. Der Versuch einer Abtreibung misslingt, und so wird das Mädchen Jule in eine Familie hineingeboren, die lieber auf sie verzichtet hätte. Zu Unterordnung und Anpassung erzogen, gewöhnt sie sich daran, keine Fragen zu stellen, nicht zu verstehen. Die Schatten des Krieges lasten noch auf den Menschen und deren Sprache. Sie muss ihren eigenen Weg suchen, ohne Unterstützung durch die Familie. Sie hat keine Worte für das, was ihr widerfährt – Missbrauch, Vernachlässigung, Desinteresse. Die Erwachsenen dürfen alles, machen alles richtig – daran hält sie sich fest. Der erste Teil erzählt von Krieg, Flucht und Vertreibung. Die Familie, einst wohlhabende Gutsbesitzer in Schlesien, verlieren alles und müssen in Ostfriesland von Neuem beginnen. Der Vater trägt als ehemaliges Mitglied der Waffen-SS Mitverantwortung und versucht die Familie nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft irgendwie über Wasser zu halten. Im zweiten Teil des Buches beginnt die Ich-Erzählung des Mädchens. Als Jugendliche und spätere Studentin in Hamburg lässt sich Jule in den Sog der 68er-Bewegung ziehen, erlebt kuriose Treffen, Vollversammlungen und Meetings. Jemand nennt sie Mitläuferin - genau wie damals ihr Vater bei der Entnazifizierung bezeichnet wurde. Ihre große Liebe verläuft tragisch. Ihr Freund ist krank, aber sie verheimlicht seine depressiven Episoden, schämt sich für ihn und versucht ihn mit guten Worten und indem sie ihm alles abnimmt, verzweifelt von seinen Schlafattacken abzubringen. Er überlebt seine Krankheit nicht. Sein Tod stürzt sie in ein tiefes Loch.
Ihre Geschichte ist nicht nur eine ergreifende Erzählung über den Mut, sich selbst zu finden und immer wieder aufzustehen. Sie ist auch das Spiegelbild einer Gesellschaft im Wandel, die versucht, die Geister der Vergangenheit zu vertreiben.
Jutta Böttcher
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dtv 22,00€
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Holly Gramazio: "Ehemänner"
Verrückt, klug, sehr lustig und mal was völlig anderes: Das ist „Ehemänner“ von Holly Gramazio.
Stellen Sie sich vor, Sie kommen von einer etwas wilden Party nach Hause, haben vielleicht ein klitzekleines Bisschen zu viel getrunken, öffnen ihre Wohnungstür und vor Ihnen steht ein völlig unbekannter Mann. Genau das passiert Lauren, Anfang / Mitte 30, und natürlich glaubt sie sofort, jemand wolle sie überfallen. Aber irgendwie passt das alles nicht, der Mann kennt sie, ist total freundlich, bringt ihr den Schlaf-anzug und hat sogar Verständnis dafür, dass Lauren heute Nacht lieber allein im Gästezimmer schlafen will. Also doch deutlich zu viel getrunken?? Am nächsten Morgen muss Lauren feststellen, dass sie offenbar verheiratet ist, der Sperr-bildschirm ihres Handys zeigt sie selbst und eben diesen Mann – Hochzeitsfoto anscheinend. Was ist da los? Zeit, die Gedanken zu sortieren, ab nach draußen auf einen Spaziergang, allein natürlich. Als Lauren wieder nach Hause kommt, immer noch seeeehr durcheinander, will ihr Ehemann (er heißt Michael und ist Architekt, wie sie inzwischen durch Chat- nachrichten ihres Handys herausbekommen hat) nur kurz was vom Dachboden holen, aber herunterkommt: ein ganz anderer Mann! Michael ist dort oben offen-sichtlich verschwunden, aber auch der zweite Typ ist völlig vertraut mit Lauren und: Die beiden sind verheiratet. Es dauert nicht lange und Lauren kapiert, dass der Dachboden offenbar Ehemänner hervor - aber genauso auch zum Verschwinden bringt. Übrigens zwecklos, das Ganze mit dem Handy filmen zu wollen, nichts zu sehen. Jeweils verändert, wenn auch nur in Nuancen, ist die Einrichtung der Wohnung, der Inhalt des Kühlschranks etc. Gleich bleiben hingegen die Nachbarschaft, Laurens Verwandtschaft und Freunde.
Möglicherweise denken Sie jetzt: Völlig abgedreht, was soll das denn? Den Sinn hinter dieser ständigen Tauscherei, die sehr bald aktiv von Lauren betrieben wird, denn, na ja, da könnte doch noch was Besseres kommen, versteht man sehr bald. Spannend wird es, als Bohai vom Dachboden herunterkommt, ihr männliches Gegenstück sozusagen, der bereits seit vier Jahren durch die Welt der Ehefrauen reist. Ich kann nur empfehlen, sich auf diese wirklich intelligente Unterhaltung einzu-lassen und bin sicher, die ganze Szenerie wird Ihnen sehr bald weniger verrückt vorkommen, als sie jetzt vielleicht denken. Sehr frisch, viele Dialoge, als Film wäre das eine Screwball-Comedy.
Astrid Henning
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Rowohlt 24,00€
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Ruth-Maria Thomas: "Die schönste Version"
Die Geschichte von Jella und Yannick beginnt um 2010 irgendwo in Ostdeutschland. Die Beiden sind schwer verliebt – und es ist wunderschön. Sie haben fest vor, nicht in die gleichen Fallen zu tappen wie andere Liebespaare, doch dann, nach drei Seiten, ein harter Bruch: Nur ein paar Monate später liegt Jella in ihrem alten Kinderzimmer zu Hause und fragt sich, was passiert ist. Die blauen Würgemale am Hals, der heftige Streit, die körperliche Auseinandersetzung – wie sind sie dorthin gekommen. Jellas Nachdenken betrifft nicht nur ihre Liebesgeschichte mit Yannick, sie fängt an, ganz allgemein über ihre ersten Erfahrungen mit Beziehungen zu reflektieren. Sie denkt an ihren ersten Freund, da war sie 15, wie stolz sie war, dass sich ein deut-lich älterer „Typ“ für sie interessiert hat. Ist doch klar, dass der schon Erfahrungen hatte und nicht lange rumgefragt hat. Oder?
Ruth Maria Thomas beschreibt schonungslos und genau, wie Mädchen und Frauen sich auf Beziehungen einlassen, die ihnen in keinster Weise guttun. Obwohl sie sich für selbstbewusst, aufgeklärt, vielleicht sogar feministisch halten - und selbst in Beziehungen übrigens auch nicht die reinen Engel sind – was aber natürlich über-haupt keine Rechtfertigung für Gewalt ist! Ein Buch, von dem ich mir wünsche, dass es möglichst viele junge Frauen lesen – und das bitte, bitte möglichst viele (junge) Männer lesen. Ich weiß, das wird kaum passieren. Auch eine Leseempfehlung für alle Eltern – bitte nicht am sehr direkten Ton rummäkeln: Jella ist Anfang 20, die Sprache scheint mir sehr stimmig.
Das Buch hat es auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis geschafft, was für eine Leistung für ein Debut!
Astrid Henning
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Fischer 25,00€
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Tana French: "Feuerjagd"
Die Autorin lebt und arbeitet in Dublin. Durch ihren Vater, einem amerikanischen Ökonom und ihre italienischen Mutter besitzt sie noch zwei weitere Staats-angehörigkeiten. Auch wenn sie als Heranwachsende mit ihren Eltern an vielen verschiedenen Orten weltweit wohnte, so spielen ihre Geschichten hauptsächlich in Irland.
In "Der Sucher" lernten wir bereits den Chicagoer Excop Cal Hooper kennen. Im Westen Irlands liegt das kleines Dorf Ardnakelty, in dem Cal ein kleines gemütliches Cottage erworben hat. Hier will er zur Ruhe kommen, hier möchte er in erste Linie angeln, ein wenig tischlern und ganz viel lesen und das Leben genießen... Auch in der aktuellen Episode um den sympathischen Amerikaner wird ihm der Wunsch nach Entschleunigung nur bedingt gewährt: Zwei Männer kommen ins Dorf. Der eine hat seine Familie lange Zeit sich selbst überlassen, der andere spekuliert auf die Gutgläubigkeit der Dorfbewohner. Beide planen den großen Coup ihres Lebens.... Derweil liegen die Nerven der Dörfler etwas blank: das Weter macht den Farmern zu schaffen, Ernte und Viehbestände sind durch die anhaltende Hitze bedroht. Im Pub geht es abends entsprechend hoch her. Manchmal reicht ein Funke aus, um einen Flächenbrand zu entfesseln. Die junge 15jährige Trey, deren Vater so unvermittelt in ihr ohnehin schon schwieriges Leben platzt, wird Zeugin einer Intrige. Immer noch sinnt sie auf Rache. Der sinnlose Tod ihres geliebten Bruders ist nicht gesühnt, und so will sie die üblen Machenschaften ihres Vaters und seines Kompagnons für ihre eigenen Zwecke nutzen. Die Situation spitzt sich mehr und mehr zu, und Cal sieht sich ungewollt erneut in der Rolle des Ermittlers....
Wunderbar atmosphärischer Roman(-Krimi), der Lust auf kleine irische Dörfer macht, vorausgesetzt, sie liegen nicht direkt neben Ardnakelty!
Andrea Westerkamp
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Kjona Verlag 24,00€
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Jane Campbell: "Bei aller Liebe"
Ich lehne mich mal weit aus dem Fenster: Wenn Sie Marianna Leky mögen, werden Sie Jane Campbell… na, mindestens auch mögen, vielleicht tatsächlich sogar lieben.
Ebenfalls im Bereich der Psychoanalyse tätig, aber mit drei Jahrzenten mehr Berufs- und Lebenserfahrung als die Leky, hat Jane Campbell uns in einem Alter von 80 Jahren mit ihrem ersten Roman „Bei aller Liebe“ ein haptisch wie inhaltlich wunderschönes, sanftes Buch geschenkt, in dem es intensiv menschelt. Ein komplexes Beziehungs- und nur schwer durchschaubares Verwandtschafts-geflecht machen es schwer, den Inhalt von diesem Roman wiederzugeben. Zusammenfassen lässt er sich schon gar nicht.
Nur so viel: Der hochbetagte Professor Malcolm Miller erzählt uns im ersten Kapitel, dass er gedenkt, nach über einem halben Jahrhundert sein Versprechen einzulösen, welches er seiner sterbenden Schwester Sophie 1946 gegeben hat, nämlich ihren Brief an jenen Mann weiterzuleiten, der vermutlich der leibliche Vater ihrer Tochter Agnes ist, und zwar am Tag der Hochzeit von deren Tochter Elfie. Was Malcolm damit auslöst, hat er nicht erwartet. Durch die Tatsache, dass das nichts ahnende Vater-Tochter-Pärchen längst eine Beziehung ganz anderer Art miteinander verbindet (nicht die Art, die Sie jetzt vermuten!), spricht die Ironie des Schicksals – oder einfach der so häufig einfach kaum zu glaubende Lauf des Lebens. Eine Handvoll weiterer Frauen- und Männerfiguren, ebenfalls alle mehr oder minder eng mit den Protagonist:innen und/ oder untereinander verbandelt, führen zwar zu einer verwirrenden Komplexität des Personengefüges, erklären aber die sehr authentischen intensiven, vielschichtigen, zum Teil ambivalenten Emotionen und Gedankenspiele der Hauptpersonen und machen den Roman so warm, so lebens-echt, dass es pure Lesefreude ist.
Die klug ausgewählten, jedem Kapitel vorangestellten Zitate bekannter Psycho-analytiker und Philosophen strotzen nur so vor Tiefsinnigkeit und Lebensweisheit und runden, neben einer angenehmen Portion Sarkasmus sowie einem leicht zugänglichen Erzählstil, das Lesevergnügen auf hohem Niveau ab.
Nina Chaberny-Bleckwedel
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Unsere Buchempfehlungen im Juni
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Tropen Verlag 17,00€
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Susanne Tägder: "Das Schweigen des Wassers"
Wer Krimis mag, die immer auch etwas über die Gesellschaft erzählen, über die Zeit, in der sie spielen, der ist mit diesem Buch bestens bedient.
Die Handlung spielt Anfang der 90er Jahre in einem kleinen Ort in MVP, die erste Wende-Euphorie ist bereits verflogen, aber sowas von. Besser-Wessis bevölkern den Osten, viele Ostdeutsche haben ihre Jobs verloren – und jede Menge Illusionen noch dazu. Hauptkommissar Groth ist frisch aus Hamburg nach Wechtershagen gezogen: der Ort, an dem er aufgewachsen und zur Schule gegangen ist. Danach hatte er den Osten verlassen, lange in Hamburg gelebt und ist nun zurückgekehrt. Doch Groth ist ein Fremdkörper in Wechtershagen und wird von seinen KollegInnen argwöhnisch beäugt. Eines Tages steht ein ziemlich abgerissener Typ vorm Fenster seines Büros, barfuß, ungepflegt und behauptet, verfolgt zu werden, zwei Tage später ist dieser Mann tot. Es handelte sich um Siegmar Eck, Bootsverleiher im Ort und eine etwas tragische Gestalt: In jungen Jahren wurde er beschuldigt, die knapp 20-jährige Jutta Timm nach einem Tanzvergnügen vergewaltigt und ermordet zu haben. Zwar später freigesprochen, aber – irgendwas hängen bleibt immer. Ecks Leiche wird im See gefunden, eine Verletzung am Kopf soll von einem Ruderboot stammen, an das er beim Sturz ins Wasser gestoßen ist. Unfall also, klare Sache. Nur Groth beschäftigt der Fall weiter: Was für ein merkwürdiger Zufall, dass jemand, der sich bedroht fühlt, zwei Tage später einen tödlichen Unfall hat. Zusammen mit seinem Kollegen Gerstacker ermittelt Groth weiter und stellt schnell fest, dass es einen Zusammenhang mit dem Fall der ermordeten Jutta Timm gibt – und dass die Spuren weit in die höhere Politik führen. Nicht jeder sieht es da gerne, wenn weiter gegraben wird.
Dieser Krimi wartet mit vielen Pluspunkten auf: sehr atmosphärisch, politische Hintergründe, vielschichtige Charaktere, nichts ist schwarz oder weiß. Ich hoffe sehr, dass Susanne Tägder neben ihrem Beruf als Richterin noch Zeit für weitere Krimis um Kommissar Groth bleibt!
Astrid Henning
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Droemer 22,00€
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Iris Conrad: "Der Glashund"
Berlin, Mitte der 30er Jahre: Henriette ist ein typischer Teenager, sie stammt aus einem gutbürgerlichen jüdischen Elternhaus und auch wenn es bereits Einschränkungen für jüdische Mitbürger gibt, verlebt sie bislang noch eine recht sorgenfreie Zeit. Doch damit ist es bald vorbei, Henriette muss das Gymnasium verlassen, Ihr Großvater muss als Anwalt seinen Beruf aufgeben, die Familie ihre großzügige Wohnung räumen. Wenig später werden die Großeltern „abgeholt“ und Henriette und ihre Mutter werden als Zwangsarbeiterinnen in einem Rüstungsbetrieb verpflichtet. Einem früheren Mitschüler von Henriette ergeht es gerade andersherum: Als Schüler gehörte Rolf nicht zu den „angesagten“ Jungs in der Klasse, Henriette hat ihn sogar einmal sehr böse auflaufen lassen, aber nun arbeitet er im Reichshauptsicherheitsamt, fühlt sich nicht nur mächtig – sondern ist es auch in gewisser Hinsicht. Seine Abteilung organisiert die Transporte von Juden in den Osten, in die KZs. Seine Schmach in Bezug auf Henriette hat er nicht vergessen und setzt nun alles daran, sich zu rächen und sie abtransportieren zu lassen. Doch Henriette ist inzwischen abgetaucht und versucht, als „Illegale“ zu überleben, ohne gelben Stern, mit falscher Identität, immer mit der Angst entdeckt und erkannt zu werden. Zum Glück gibt es Ben, einen Mitschüler aus der Kunstakademie, ebenso wie Henriette untergetaucht. Zusammen setzen sie alles daran, den Krieg zu überleben.
„Der Glashund“ ist ein Buch, das nur schwer aus der Hand legen kann, weil man so nah dran ist an der Geschichte von Henriette. Eine Empfehlung auf jeden Fall (auch) für jüngere Leser.
Astrid Henning
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Schöffling & Co 24,00€
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Margaret Kennedy: "Die englische Scheidung"
"Alec und ich werden getrennte Wege gehen. Wir lassen uns scheiden." "Wir haben beide versucht, eine gute, gelingende Ehe zu führen, aber es hat nicht geklappt. Ich schreibe dir, weil wir beschlossen haben, die Sache so schnell wie möglich hinter uns zu bringen." So beginnt der Brief, den die 37 jährige Betsy an ihre Mutter schreibt. Alec und sie hätten die Entscheidung einvernehmlich getroffen, schließlich seien die Kinder nun alt genug, um das zu verstehen. Das sehen Kenneth, Eliza und Daphne jedoch völlig anders. Konservativ, wie Kinder in der Regel denken, möchten sie auf keinen Fall die gewohnte Familienordnung unterbrochen sehen. Betsy widerum hat seit längerer Zeit das Gefühl, ihre Ehe sei nicht mehr zu retten. Zwar funktionieren sie als Paar nach außen hin immer noch hervorragend, aber das reicht ihr nicht mehr. Ehemann Alec, ein erfolgreicher Verfasser von Libretti, möchte vor allem eins: seine Ruhe (und ab und an mal eine kleine amouröse Zerstreuung). Beide Schwiegermütter reagieren entsetzt. Dieser Skandal! Die Gesellschaft! Was sollen denn ihre Bridgefreundinnen denken? Während Betsys Mutter vor Schreck erst einmal krank wird, stattet Alecs Mutter der Familie einen unangekündigten Besuch ab - mit ungeahnten Folgen. Und als die schlichte, aber ausnehmend reizvolle Ersatzgouvernante den Hausherren küsst, da eskaliert die Situation endgültig....
1936 wurde dieser Roman in England veröffentlicht. Fast neunzig Jahre sind seither vergangen, dennoch wirkt das Buch in keinster Weise antiquiert oder angestaubt. Uns erwartet eine brillante Gesellschaftssatire mit feinstem britischen Humor. Die Frage, ob Scheidung eine private oder öffentliche Angelegenheit sein sollte, wird von allen Seiten beleuchtet und lässt nur einen Schluss zu: in gewissen Kreisen hat man unbedingt Mitspracherecht darüber, wer mit wem verkehrt....
Andrea Westerkamp
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Penguin Verlag 24,00€
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Beatrice Salvioni: "Malnata"
Monza, 1935. Ein kleiner Ort im mit Faschismus geprägten Italien. Dort lässt Beatrice Salvioni in ihrem Debütroman "Malnata" die zum Gehorsam erzogene Ich Erzählerin Francesca auf die Malnata "Die Unheilbringende" Maddalena stoßen.
Trotz ihren unterschiedlichen Weltansichten und ihrer Erziehung bemühen sich die beiden um die Freundschaft der anderen seitdem Francesca Maddalena geholfen hat Kirschen vom Markt zu klauen. Die beiden lernen sich in den Monaten der Sommerferien kennen und nähern sich durch die Eidechsenschwanzjagd, Katzenkratzer und dem Tod ihrer jeweiligen jüngeren Brüder für die sie sich beide schuldig fühlen, an. Mit den beiden Mädchen treffen Welten aufeinander, die trotz dem drohenden Krieg, der Frauenfeindlichkeit und ihrem unterschiedlichen sozialen Stand miteinander harmonieren. Sowohl Francesca als auch Maddalena, die Malnata, wachsen mit den neuen Herausforderungen, die dieses Zusammentreffen bringt, die Mädchen in ihrem Alter allerdings noch gar nicht meistern müssen sollten.
Für mich ist Malnata ein wunderschönes Buch über das erzwungene, vorschnelle Erwachsenwerden zweier intelligenter junger Mädchen die sich gegenseitig halt und Raum zum Wachsen geben. Malnata hat eines der schönsten Freundschaften die ich seit langem in Literatur vorgefunden habe, vor Allem Maddalena ist ein wundervoller Charakter der fantastisch umgesetzt wurde.
Luca Klipp
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Unsere Buchempfehlungen im Mai
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dtv 13,00€
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Benjamin Cors: "Krähentage"
"An einem kalten, grauen Wintertag tappst die über 80-jährige Irene Nowak mit ihrem Einkaufstrolley am frühen Morgen auf dem Weg vom Bäcker nach Hause über die Gehwege der Hochhaussiedlung. „Sie sollten sich bei dem Wetter etwas Wärmeres anziehen“, rät ihr eine junge Nachbarin. Kalt ist es Frau Nowak tatsächlich. Doch den sprichwörtlichen Tod kann sie sich nicht mehr holen - denn sie ist zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon längst nicht mehr am Leben." (Zitat Krimicouch)
Jakob Krogh und Mila Weiss heißen die gemeinsamen Leiter der neu gegründeten Gruppe 4, der Sondereinheit für komplexe Serienstraftaten. Bereits an ihrem ersten Arbeitstag werden die beiden Ermittler zu einem Tatort gerufen. Frau Nowak, eine 80 jährige allein lebende Frau wurde tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Die Leiche der Frau weist zahlreiche Verletzungen auf, u.a. hervorgerufen durch zwei Krähen, die in dem hermetisch abgeriegelten Sterbezimmer offensichtlich Hunger hatten.... Während der Pathologe einen Todeszeitpunkt vor ca. drei Tagen errechnet, schwört die Nachbarin von Frau Nowak, die alte Dame noch morgens auf der Straße getroffen zu haben! Die Polizei steht vor einem Rätsel, die verschiedenen Aussagen scheinen nicht zusammen zu passen. Währenddessen dürfen sich schon wieder zwei Krähen satt essen...
Dieser neue Thriller des Krimi-Routiniers Benjamin Cors fesselte mich von der ersten Zeile an. Zugegebenermaßen ist die Tatortbeschreibung nichts für Zartbesaitete, aber alle anderen kommen mit herrlich spannenden Gruselmomenten auf ihre Kosten.
Andrea Westerkamp
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Bertelsmann 18,00€
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Tatiana de Rosnay: "Célestine und die kleinen Wunder von Paris"
In dieser Erzählung geht es um den achtzehnjährigen Martin Dujeu, der mit seinem Vater in einem vornehmen Pariser Viertel wohnt und um die obdachlose Célestine du Bac, die auf einem Pappkarton in einem Torbogen gegenüber von Martins Hauseingang lebt. Zwischen beiden entwickelt sich eine wunderbare, zarte Freundschaft, die die Autorin mit viel Feingefühl beschreibt.
Martin ist verschlossen und wenig interessiert an seiner Umwelt. Er hat ein eher distanziertes Verhältnis zu seinem Vater, liebt vor allem seinen kleinen Hund Germinal und hat mit dem lebensfrohen Oscar eigentlich nur einen wirklichen Freund. Im Alter von 2 Jahren verliert Martin seine Mutter bei einem Flugzeugabsturz, die seitdem als verschollen gilt. Dieser Verlust wirkt noch immer nach. Auch sein Vater Victor scheint die Liebe seines Lebens verloren zu haben und versucht darüber mit verschiedenen Liebschaften hinwegzukommen. Beide tragen unterschwellig eine stumme Traurigkeit in sich. Bei seinen täglichen Spaziergängen mit Germinal fällt Martin die Stadtstreicherin Célestine auf, die beständig auf ihrem Platz unter dem Torbogen hockt. Er sieht sie häufig schreiben, was seine Neugierde weckt, da er selbst gerade heimlich an einem Roman schreibt. So versucht er Kontakt mit ihr aufzunehmen und lässt sich auch durch ihre sehr rüde und kratzbürstige Art nicht abschrecken. Mit der Zeit fassen sie Vertrauen zueinander und es entspinnt sich eine wirklich zu Herzen gehende Freundschaft. Nachdem sie schließlich erfolgreich darum gefeilscht haben, jeweils das Geschriebene des anderen lesen zu dürfen, nehmen wundersame Geschehnisse ihren Lauf.
Natürlich ist die gesamte Geschichte mit ihrer besonderen Freundschaft und all den kleinen Wundern, die geschehen, ziemlich unrealistisch, aber genau das macht für mich den Charme dieses Textes aus. Er ist ein modernes Märchen für Erwachsene und erzählt nicht nur von Freundschaft, sondern auch von Liebe und von Vertrauen in sich und das Leben. Er wirkt leicht und ein bisschen kapriziös, und er ist auf liebevolle Art zutiefst französisch, ohne dabei kitschig zu werden. Der in Marokko spielende Handlungsstrang im zweiten Teil des Buches fällt zwar nach meinem Dafürhalten gegenüber dem in Paris spielenden Teil etwas ab, aber insgesamt ist dieses kleine Buch eine großartige Sommerlektüre für alle, dies sich gerne mal ein bisschen wegträumen möchten.
Bettina Ziehe
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Eichborn Verlag 24,00€
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Rebecca F. Kuang: "Yellowface"
June Hayward und Athena Liu sind befreundet, seit sie sich gemeinsam durch literaturwissenschaftliche Vorlesungen quälen mussten. Ihre Bekanntschaft ist aber vor allem von Spannungen geprägt, denn während Athena schon während des Studiums großen Erfolg mit ihrem Debüt feiert, geht Junes erster Roman in der Masse an Neuerscheinungen unter. June macht vor allem die chinesisch-amerikanische Herkunft Athenas für ihren Erfolg verantwortlich und glaubt, als Weiße kein Gehör bei den großen Verlagen zu finden. Aufgrund des Ruhms ihrer vermeintlichen Freundin distanziert sie sich von Athena. Diese scheint aber weiterhin ihre Nähe zu suchen. Bis es zu einem tragischen Unfall kommt, in einer Nacht, in der auch June plötzlich nichts mehr will, als an dieser Freundschaft festzuhalten. Als Athena aber stirbt, stiehlt June, ohne nachzudenken, das Roh-Manuskript für den nächsten Roman der erfolgreichen Autorin – mit ungeahnten Folgen.
June macht sich daran, das Manuskript zu überarbeiten und Athena so ein Denkmal zu bereiten. Doch je mehr Arbeit sie in den Roman steckt, desto mehr empfindet sie ihre Veränderungen als schöpferisch und formgebend, bis sie selbst beginnt die Autorschaft infrage zu stellen ... Aber wer darf eigentlich eine Geschichte erzählen und wessen Stimme ist laut genug, um in dem Gewirr an Veröffentlichungen Gehör zu finden?
Rebecca F. Kuang hat schon mit ihrem wundervoll aufwendigen Fantasy-Roman „Babel“ bewiesen, dass sie es versteht, Sprache und ihre Institutionalisierung unterhaltsam zu hinterfragen. Während sie in „Babel“ einen fiktiv kolonial geprägten Sprachgebrauch und die unübersetzbaren Zwischentöne von Worten beschrieb, lässt sich „Yellowface“ im Vergleich noch kurzweiliger weglesen. Kuang nimmt dabei in bitterböser Satire den Kulturbetrieb samt seinem inhärenten Rassismus aufs Korn, hinterfragt aber auch Sensibilitäten bezüglich Political Correctness und Cancel Culture auf ambivalente Art und Weise, ohne Antworten vorzugeben. Wenn ich gezwungen wäre, das Genre zu definieren, würde ich wohl sagen: Eine unterhaltende Literaturthriller-Satire, die ich sehr empfehlen kann.
Mattes Daugardt
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dtv 16,00€ 12 - 99 Jahre
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Kimberley Brubaker Bradley: "Gras unter meinen Füßen"
London, während des 2. Weltkriegs: Die neunjährige Ada hat die Wohnung, in der sie mit ihrem jüngeren Bruder Jamie und ihrer Mutter lebt, noch nie verlassen. Sie wurde mit einem sogenannten Klumpfuß geboren. Obwohl man diese Fehlstellung des Fußes bei Babys auch damals schon behandeln konnte, wurde dies bei Ada nie versucht. Denn ihre Mutter ist eine schreckliche, lieblose Person, die sich kaum um sich selbst kümmern kann und die sich für Ada und ihren Fuß schrecklich schämt. Deshalb besucht Ada keine Schule und ist auch nie mit anderen Kindern zusammengekommen. Außer mit ihrem jüngeren Bruder, um den sie sich liebevoll kümmert. Mit viel Mühe, Jamies Hilfe und einem Paar selbst gebauter Krücken kann Ada sich zumindest in der Wohnung einigermaßen fortbewegen, ohne krabbeln zu müssen.
Als alle Kinder aus London aufs Land verschickt werden sollen, weil die Gefahr für sie wegen der fallenden Bomben zu groß wird, sieht Ada ihre Chance zur Flucht. Mit Unterstützung ihres Bruders gelingt es ihr, sich unter die Kinder am Bahnhof zu mischen. Im allgemein herrschenden Chaos wird sie einfach mitgenommen. So landen die beiden Kinder auf dem Land in Cornwall bei Susan, die keine eigenen Kinder hat und die die beiden mehr oder minder gezwungenermaßen bei sich aufnimmt. Sie ist eine eigenbrödlerische, wortkarge, aber trotzdem liebevolle Person, die erschüttert darüber ist, wie Ada bisher ihr Leben verbringen musste. Mit Susans Hilfe und dem kleinen Pony Butter, das hinterm Haus auf der Weide wohnt, macht Ada zum ersten Mal die Erfahrung, dass sie Dinge gut kann und dass die Tatsache, nicht laufen zu können wie alle anderen, nicht ihr ganzes Leben bestimmen muss. Susan merkt schnell, was für ein kluges, starkes Mädchen Ada ist und welche Potenziale in ihr schlummern. Ada bringt sich auf dem sturen, aber freundlichen Butter mit ungeheurer Willensstärke das Reiten bei, findet so Freunde und spürt zum ersten Mal in ihrem Leben, dass sie ein liebenswerter, wertvoller Mensch ist. Allerdings schwebt über allem immer die Gefahr, dass die beiden Kinder wieder zurück zu ihrer grausamen, lieblosen Mutter nach London müssen.
Mich hat dieses Buch sehr berührt. Ich habe Ada und Jamie sehr schnell ins Herz geschlossen und die ganze Zeit gehofft, dass alles gut für die beiden ausgehen wird. Nebenbei erfährt man einiges über die Kriegszeit auf dem Land. Auch Adas Liebe zu Pony Butter und die Tatsache, dass das Pony ihr quasi seine vier Beine „leiht“, um schneller vorwärts zu kommen, fand ich sehr schön und einfühlsam erzählt. Ein wirklich lesenswertes Jugendbuch für Kinder ab 12 Jahren!
Sabine Christ
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Unsere Buchempfehlungen im April
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S. Fischer 18,00€
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Lize Spit: "Der ehrliche Finder"
Flandern war in diesem Jahr Gastland der Leipziger Buchmesse – und Lize Spit eine Autorin aus dieser Region. „Der ehrliche Finder“ ist der dritte Roman dieser noch jungen Autorin, diesmal beschränkt sie sich auf knapp 130 Seiten.
Erzählt wird die Freundschaft zwischen zwei Jungs, Jimmy und Tristan, knapp 10 Jahre alt. Jimmy ist ein kluges Kerlchen, vielleicht etwas zu klug, in der Schule jedenfalls eher ein Außenseiter, von den Älteren gemobbt und ohne Freunde. Zuhause läuft es gerade auch nicht besonders rund, Jimmys Vater hat als Versicherungsmakler offensichtlich einige Kunden um viel Geld gebracht – und die Familie verlassen. Da ist es für Jimmy ein großes Glück, als Tristan neu in seine Klasse kommt. Tristan, der mit seinen Eltern und sieben Geschwistern aus dem Kosovo nach Belgien geflohen ist, und der nun neben Jimmy in der Schulbank sitzt. Für beide Jungs ist diese Freundschaft ein Gewinn: Jimmy sorgt dafür, dass Tristan die Sprache lernt und in der Schule gut mitkommt, und Jimmy hat endlich einen Freund. Spits Roman umfasst nur ca. 24 Stunden, es ist der Tag, an dem Jimmy das erste Mal bei seinem Freund übernachten darf, in dessen Familie er sich pudelwohl fühlt. Und es ist der Tag, an dem Tristans Familie Post vom Amt bekommen hat: Die Aufenthaltsgenehmigung der Familie ist nicht verlängert worden, jederzeit muss mit der Abschiebung gerechnet werden. Doch Tristan und seine ältere Schwester schmieden einen Plan, und hier kommt Jimmy ins Spiel. Dem dabei gar nicht wohl ist, der aber seine Freundschaft zu Tristan auch nicht gefährden will, mehr wird an dieser Stelle nicht verraten.
Ein Roman über Einsamkeit und Freundschaft, über Verzweiflung und Loyalität, auf jeden Fall ein Buch, das unter die Haut geht.
Astrid Henning
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Suhrkamp 25,00€
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Gerbrand Bakker: "Der Sohn des Friseurs"
Das Multitalent Bakker (Autor, Gärtner und gelegentlich auch Eislauftrainer) begibt sich in seinem neuen Roman auf Vatersuche.
Simon liebt sein unaufgeregtes Leben als Friseur. Bereits in der dritten Generation führt der Mitvierziger den Friseurladen seines Großvaters. Die Arbeit macht ihm Spaß, der Kundenansturm hält sich angenehm in Grenzen, und in Wallung gerät Simon lediglich, wenn seine Mutter am Telefon nervt, oder ein neuer Lover in seinem Bett liegt. Mehrmals pro Woche zieht er im Schwimmbad seine Bahnen - mehr Abwechslung vom Alltag braucht er nicht. Dann, eines Tages, wird Simons Ruhe massiv gestört. Ein Stammkunde mit schriftstellerischen Ambitionen beginnt, ihn über die Geschichte seines Vaters auszufragen. Jetzt, nach so vielen Jahren hinterfragt Simon, warum sein Vater am 27.März 1977 nach Teneriffa flog und seiner hochschwangeren Frau nichts davon erzählte. Erst nach dem tragischen Flugzeugunglück erfuhr die Mutter davon, dass ihr Mann an Bord gewesen war...
Eine launige "Väter-Söhne" Geschichte, die mit überraschenden Wendungen aufwartet!
Andrea Westerkamp
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Hoffmann & Campe 26,00€
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Ann-Helén Laestadius: "Die Zeit im Sommerlicht"
Von mir dürfen Sie nichts Leichtes, Schönes, Unterhaltsames im Sinne von locker-flockig wegzulesen erwarten. Ich scheine einen Hang zu schwerer Kost zu haben, zu dramatischer, erschütternder, lange nachwirkender Lektüre. Unterhaltsam ist sie meist dennoch, fesselnd, inspirierend und lehrreich. Und eigentlich immer macht ihr wahrer Kern, die Realitätsnähe, sei es zu historischen Ereignissen, sei es zu Biografien, für mich den Reiz solcher Lektüre aus. So auch in diesem Fall des neuen Romans der schwedisch-samischen Autorin Ann-Helén Laestadius, die mich schon mit ihrem Debüt im Erwachsenenbereich „Das Leuchten der Rentiere“ 2023 in ihren Bann gezogen hat.
Diesmal geht es weniger um die Tradition der Rentierzucht in Lappland. Die seit Jahrzehnten bestehende offene Diskriminierung der Samen durch den schwedischen Staat und seine Mitbürger steht jedoch auch in „Die Zeit im Sommerlicht“ im Fokus. Wussten Sie, dass die Kinder der Samen in den 1950 und 60er Jahren mit Eintritt ins Grundschulalter ihren Familien entrissen und in Internate, sogenannte Nomadenschulen, gebracht wurden, wo ihnen ihre Muttersprache und ihre Kultur aberzogen und sie „richtige“ Schweden werden sollten? Ihre Herkunft galt als Schande. Anhand der fiktiven Figuren Else-Maj, Anne-Risten, Marge, Jon-Ante und Nilsa aus einem kleinen Dorf im schwedischen Teil Lapplands erzählt Laestadius die Geschichte ihrer eigenen Mutter, die selbst zu solch einer Nomadenschule gehen musste. Dabei wechselt sie zwischen den Perspektiven der einzelnen Charaktere sowie den Zeiten um 1955 und 1985. In nüchternem, nichts beschönigendem Erzählstil lässt die Autorin uns teilhaben, beobachten, was die Kinder unter der grausamen Hausmutter, der „Hexe“ Rita Olsson, erleben und ertragen mussten – physische und psychische Gewalt, die erzwungene Trennung von den geliebten Eltern und Geschwistern, von allem Vertrauten – und welche Folgen dieses Schicksal für ihre Psyche und ihr späteres Leben hat. Ein kleiner Lichtblick im düsteren Alltag der Kleinen: die warmherzige, kinderliebende Betreuerin Anna, die ihr Bestes tut, das Schlimmste von den Kindern abzuwenden, sie zu trösten und ihnen Mut zuzusprechen. Doch gegen die vom Staat geschützten Grausamkeiten der Hausmutter ist auch Anna machtlos und läuft stets Gefahr, durch Akte der Menschlichkeit selbst zum Opfer zu werden. Außerdem befinden sich die Täter nicht nur in den Reihen des Internatspersonals; auch innerhalb der Schülerschaft gibt es einen Jungen, der mit seiner Gang anderen das Leben zur Hölle macht…
Durch die Zeiten- und Perspektivenwechsel erfahren wir nach und nach nicht nur von den prägenden Ereignissen während der Internatsjahre, sondern auch was aus den Mädchen und Jungen geworden ist, wie sie aufgrund der Traumata ihrer Kindheit, die kaum, eigentlich gar nicht aufgearbeitet wurden, weggeschlossen im Innersten auf dem Weg zum Erwachsenwerden und doch immer präsent, später mit ihrem Leben hadern, mit ihrem Körper, ihren Gefühlen, ihrem Gewissen, ihren Wurzeln, ihren ohnmächtigen, schweigenden Eltern. Und dann taucht plötzlich ihre alte Peinigern, gut verdrängt, aber nie vergessen, wieder auf, als Greisin nun… Ähnlich den zunehmend öffentlichen Berichten der sogenannten „Verschickungskinder“ hier in Deutschland gibt Ann-Helén Laestadius in ihrem rund 470 Seiten starken Roman jenen Samen eine Stimme, die zu traumatisiert sind, um sich laut zu äußern. Ein sehr lesenswertes, wichtiges Buch – für mehr Verständnis und gegen das Vergessen.
Nina Chaberny-Bleckwedel
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ebersbach & simon 24,00€
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Unda Hörner: "Solange es eine Heimat gibt"
Mai 1949: Thomas und Katia Mann reisen erstmals nach Ende des 2. Weltkriegs nach Europa und werden von ihrer Tochter Erika begleitet. In Stockholm erreicht die Familie die Nachricht vom Tod Klaus Manns, was insbesondere Erika zutiefst trifft. Ihr nur um ein Jahr jüngerer Bruder war ihr Seelenverwandter, fast eine Art Zwilling, sie wirft sich vor, nicht bei ihm in Cannes gewesen zu sein, obwohl sie wusste, dass es ihm seelisch nicht gut ging. Ausgehend von diesem Ereignis entwirft Unda Hörner diesen packenden Roman, diese Biographie, die einen Blick zurück auf das Leben Erikas und ihrer Familie wirft. Denn wie immer bei den Manns: Schreibt man über eine/n, schreibt man über alle.
Erika Mann begegnet uns als früh sehr selbstbewusste, politisch Denkende und Handelnde, die in den 20er Jahren zusammen mit ihrem Bruder Klaus alle Vergnügungen und Herausforderungen sucht und auslebt. Sie versteht sich als Schauspielerin, Kabarettistin, Journalistin, in den 30er und 40er Jahren vor allem als Kämpferin gegen die Nazis – und immer auch als enge Vertraute und Beraterin ihres Vaters. Doch nicht nur die Familie Mann spielt in diesem Buch eine Rolle, genauso begegnen wir weiteren Kulturschaffenden dieser Zeit, Menschen, die ihre Heimat verlieren und mühevoll versuchen, im Exil zu überleben und eine neue Heimat zu finden. Ein weiterer faszinierender Aspekt ist die Beschreibung Deutschlands in der unmittelbaren Nachkriegszeit, wo Erika Mann beobachtet, dass viele einflussreiche Nazis erfolgreich an der Aufhübschung ihrer Biografie und Wiederherstellung ihres Einflusses arbeiten.
Ein Roman sowohl für Kenner der Familie als auch für „Neueinsteiger“.
Astrid Henning
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Lübbe 24,00€
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Erin Litteken: "Wären wir Vögel am Himmel"
Genau wie ihren Debütroman „Denk ich an Kiew“ letzten Sommer konnte ich auch Erin Littekens neuen Roman „Wären wir Vögel am Himmel“, der 2023 unter dem vielleicht noch passenderen Originaltitel „Lost Daughters of the Ukraine“ erschienen ist, nicht aus der Hand legen. Diesmal kommt die Autorin erfreulicherweise ganz ohne den „Rosamunde Pilcher“-Strang aus. Keine triviale Liebesgeschichte im Präsens, um der Haupterzählung in der Vergangenheit einen Rahmen zu geben.
„Wären wir Vögel am Himmel“ spielt zwischen 1941 und 1949, ist stringent chronologisch aufgebaut, jedoch aus verschiedenen Perspektiven der weiblichen Hauptfiguren Lilija, Vika und Halya erzählt. Letztere war das Baby, welches bei „Denk ich an Kiew“ während des Holodomors in der sowjetisch besetzten Ukraine geboren wurde, seine Mutter an den Hungertod verlor und bei deren Schwester, welche die Hungerkatastrophe unter Stalin knapp überlebte, aufwuchs. Auch in Littekens neuem Roman ist das Leben der ukrainischen Menschen, hier mit Fokus auf einigen Frauenschicksalen, die vermutlich beispielhaft für unzählige der damaligen Zeit stehen, geprägt durch Besatzung, politische Wirren, Krieg und Verlust von Familienmitgliedern und Heimat. Viele Szenen sind nur schwer zu ertragen: wie eine Frau im Gefechtsfeuer eines Tieffliegers ihr Leben verliert und gleichzeitig mit ihrem Körper das Leben ihrer Tochter (Lilija) rettet oder wie der eindrücklich dargestellte Moment, als die Mutter (Vika) hilflos und verzweifelt mit ansehen muss, wie ihr dreizehnjähriger Sohn verschleppt wird, um tausende Kilometer entfernt in einem deutschen Arbeitslager Munition herzustellen... Die Gefahr, die von den Russen, Polen und Deutschen ausgeht, je nachdem in welchem Teil der Ukraine man geboren wurde bzw. lebt, treibt die Menschen in die Verzweiflung und in die Flucht. Weiter, immer weiter geht es nach Westen. Für die Einen im Viehwaggon auf dem Weg ins Arbeitslager, für die Anderen zu Fuß und mit dem Pferdewagen auf dem Weg in die vermeintliche Sicherheit…
Getragen wird der Roman vom Mut, der Stärke und der Zuversicht der Menschen, ihre Liebsten lebend wiederzusehen, von der Hoffnung auf ein Ende des Krieges und ein Leben in einer freien Ukraine. Glaubhaft dargestellte Wünsche, Träume und Sehnsüchte der Jungen, übermittelte Traditionen und Bräuche der Alten, ein realistisches und atmosphärisch gestaltetes Setting, das einen glauben lässt, man wäre live dabei, machen das Buch so lesenswert. Neben Littekens Erzählkunst erhält der Roman seine Intensität wohl durch die familiengeschichtlich bedingte Nähe zu den Charakteren, die gute historische Recherche und nicht zuletzt durch das Einbringen übermittelter Erlebnisse von Zeitzeugen. Auf der ersten Seite in seinen Bann gezogen, ließ mich „Wären wir Vögel am Himmel“ nach 400 Seiten und drei atemlosen Lesenächten wieder los, überwältigt und mit Herzklopfen, voller Schrecken und Demut, aber vor allem dem gestärkten Glauben an Mitmenschlichkeit und ein gutes Ende.
Nina Chaberny-Bleckwedel
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DuMont 25,00€
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Ann Napolitano: "Hallo du Schöne"
William Waters trägt die Einsamkeit in sich wie einen Sturm. Nur auf dem Basketballfeld geben seine Gedanken Ruhe. Als William aber der jungen Julia Padavano begegnet, stellt sich seine Welt auf den Kopf. Er, der sich nie als Teil einer Familie verstand, erlebt Julia und ihre Schwestern aus größter Nähe. Julia, die immer alles vorausplant. Sylvie, die lieber Tagträumen nachhängt und ihre Bücher liest. Die Zwillinge Cecelia und Emeline: Die eine ist Künstlerin, die andere kümmert sich fürsorglich um sie alle. William, geborgen in einer Stille, die nicht nur Frieden in sich birgt, beobachtet das Vierergespann von der Seitenlinie aus. Die Schwestern bewegen sich durch die Stadt wie eine Einheit und nichts scheint sie trennen zu können. Sie sind immer füreinander da und wehe dem, der sich einer von ihnen in den Weg stellt. Als Lesende fragen wir uns, wie nah sich Geschwister sein können, um dennoch den Platz zu haben, damit jede für sich wachsen kann. Bis wir uns unweigerlich fragen müssen, wie weit sie sich voneinander entfernen können, ohne sich zu verlieren. Denn als Williams Dunkelheit ihn und das helle Licht der Schwestern zu verschlucken droht, ist es nicht Julia, die ihm ihre Hilfe anbietet.
Über Jahrzehnte hinweg begleiten wir die Padavanos in dieser emotional mitreißenden italienisch-amerikanischen Familiensaga, die einen ganz besonderen Ton trifft. Ann Napolitano ist etwas Magisches gelungen. Ihr neues Buch so früh im Jahr zu lesen, stellte sich fast als ein großer Fehler heraus, denn ich bin nun überzeugt, dass ich mein Lieblingsbuch für das Jahr 2024 bereits gefunden habe. Man taucht gänzlich in das Chicago der Padavanos ab, ist dem Sog der Schwestern sofort verfallen, und genießt ein gänzlich unpolitisches Leseerlebnis, das sich zu keinem Zeitpunkt trivial anfühlt. Spätestens, wenn man die Bedeutung des Buchtitels begreift, ist man der Geschichte vollends verfallen… ich war es auf jeden Fall und denke noch viel über die besonderen Figuren nach, die komplex sind und sich von Beginn an wie wahre Freunde anfühlen. Kein Wunder, dass Obama und Oprah dieses Buch wärmstens empfehlen. Eine wundervolle Modernisierung der „Little Women“ von Louisa May Alcott.
Mattes Daugardt
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Unsere Buchempfehlungen im März
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Rowohlt Berlin 24,00€
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Jörg Hartmann: "Der Lärm des Lebens"
So mancher fühlte sich in den letzten Jahren berufen, ein Buch zu schreiben. Sagen wir mal so: Es gibt Schaupieler/innen, die können auch das – und von den anderen wollen wir lieber schweigen. Wir haben aber z.B. mit Joachim Meyerhoff und Edgar Selge zwei wunderbare Beispiele für Bücher, ohne die uns wirklich was fehlen würde, um nur zwei Namen zu nennen. Und zwischen diesen beiden Polen bewegt sich das Buch vom Schauspieler Jörg Hartmann, den viele als Kommissar Faber aus dem Dortmunder „Tatort“ kennen.
Hartmanns Buch hat sehr viele Facetten, und für alle findet er den richtigen Ton. Mal lustig und sehr lebendig, wenn er beschreibt, wie er sich als junger Schauspielschüler berühmten Regisseurinnen in den Weg stellt: „Darf ich Ihnen mal was vorspielen?“. Aber auch zart und berührend, wenn er von seinem dementen Vater erzählt, der doch ein so tatkräftiger, lebenslustiger Mensch war. Oder wenn er die Großeltern beschreibt, gehörlos – und das in der Nazizzeit, wo wir wissen, wie man mit beeinträchtigten Menschen umging.
Mit einem beeindruckenden Gefühl für Sprache erzählt Hartmann von seiner Kindheit im Ruhrpott, von der Enge der Kleinstadt, der er unbedingt als junger Mann entfliehen wollte, am liebsten nach Berlin – Sehnsuchtsort. Und dennoch: immer wieder das Heimkommen, das sich Besinnen auf die Wurzeln, gerade angesichts der eigenen Kinder. Ein wirklich schönes Buch ist das geworden, für alle, die Familiengeschichten mögen, mal witzig, mal nachdenklich und vor allem: sehr aufrichtig.
Astrid Henning
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Claassen-Verlag 25,00€
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Leo Vardiashvili: "Vor einem großen Walde"
Der Roman beginnt mit einer Frage, mit der auch das erste Kapitel überschrieben ist: „Wo ist Eka“? Einer Frage, auf der sich die ganze Handlung des Romans aufbaut.
Es ist Anfang der 90-er Jahre, als in Georgien ein Bürgerkrieg ausbricht, der viele Georgier zur Flucht zwingt. Und so verlässt auch Irakli mit seinen Söhnen Sandro und Saba das Land und zurück bleibt Eka, die Mutter der Jungen, die bald nachkommen soll, wenn der Vater das Geld dafür zusammen hat. Dieser Plan geht jedoch nicht auf, da London, wo die Jungen und der Vater leben, ein so teures Pflaster ist, dass kaum Geld für die Mutter gespart werden kann. Irakli leidet darunter zusehends, zumal er auch noch betrogen wird, als er endlich die nötige Summe beisammen hat und diese einem Boten anvertraut. Während die Jungen sich über die Jahre in ihrem neuen Leben einrichten, ihre Erinnerung an die Heimat mit der Zeit verblasst und auch die Sehnsucht nach der Mutter weniger wird, macht sich Irakli nach ca. 20 Jahren in England auf den Weg zurück nach Georgien, um Eka zu suchen, zu der der Kontakt schon lange abgerissen ist. In Tiflis verliert sich sehr bald die Spur des Vaters, so dass sich zunächst Sandro, der ältere der Brüder, ebenfalls auf den Weg macht, um binnen kürzester Zeit ebenfalls zu verschwinden, so dass es nun an Saba, dem Jüngsten ist, in das Land seiner Kindheit zu reisen, das ihm inzwischen völlig fremd geworden ist.
Wir begleiten in diesem atemberaubenden Roman Saba auf seinem Weg zurück zu seinen Wurzeln und durchleben mit ihm eine Zeit von ungeheurer Intensität. Es beginnt am Flughafen, wo er den Taxifahrer Nodar trifft, der ihn ab da begleiten wird, und setzt sich fort über eine fast atemlose Schnitzeljagd auf der Suche nach neuen Hinweisen zum Verbleib der Familie. Sandro legt mit Graffitis und versteckten Notizen in einer Geheimsprache aus Kindertagen eine Spur wie im Märchen bei Hänsel und Gretel, der Saba folgt und die ihn in teilweise lebensbedrohliche oder ausweglos erscheinende Situationen bringt. Durch diese Erlebnisse, die immer wieder imaginär von inzwischen verstorbenen Familienangehörigen und Freunden kommentiert und souffliert werden, lernt Saba Land und Leute sowie die Geschichte seiner Familie mit einer schmerzhaften Intensität kennen.
Es gibt nichts, was es nicht gibt in diesem Buch: Die Geschichte ist unglaublich spannend, dramatisch, traurig aber immer wieder auch heiter und vor allem herzlich und zutiefst menschlich. Leo Vardiashvili schafft es, in haarsträubenden, teils brutalen und grotesken Situationen immer wieder Funken von Warmherzigkeit, Mitmenschlichkeit und Hoffnung durchblitzen zu lassen. In einer oftmals lakonischen Sprache beschreibt er unfassbare Zustände von tiefster Armut, Härte und Traurigkeit, ohne pathetisch zu werden oder das Mitgefühl für seine Figuren zu verlieren. Er beschreibt die unglaubliche Gastfreundlichkeit der Georgier mit dem Satz „Ein Gast ist ein Geschenk von Gott“, der wiederholt vorkommt und verdeutlich, dass selbst in größter eigener Not die Menschlichkeit bleibt. Die Vielschichtigkeit der Personen, die versuchen in diesen schwierigen Umständen zu leben und zu überleben, ist immer sichtbar und macht auch eigentlich unverständliche Handlungen nachvollziehbar. Wir lernen in diesem Buch quasi nebenbei, was der Zerfall der Sowjetunion für die einzelnen Teilrepubliken bedeutet haben muss. Der Wegfall von Stabilität und die Suche nach einer eigenen Identität führten und führen immer wieder zu Unruhen und Kriegen und in deren Folge zu Flucht und Vertreibung. Was das für die Menschen und Familien in diesen Regionen – und auch in anderen Teilen der Welt – bedeutet, macht Leo Vardiashvili mit diesem unglaublich kraftvollen und spannenden Roman deutlich. Ich habe lange kein Buch mehr gelesen, das mich dermaßen gefangen hat und immer noch ein bisschen nachschwingt.
Bettina Ziehe
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Hanser Verlag 26,00€
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Percival Everett: "James"
"Witziger und dabei böser ist die amerikanische Gegenwartsliteratur lange nicht gewesen. Womöglich nicht mehr seit Mark Twain.“ Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.03.24.
"James" ist ein faszinierendes literarisches Werk, das uns Leserinnen und Leser in eine komplexe Welt entführt. Wer als Jugendlicher die Abenteuer des Huck Finn gelesen hat, wird sich an den Sklaven Jim gut erinnern: ein Bär von einem Mann rein äußerlich, dem Gehabe nach aber unauffällig, devot und "klein".
Everett verwandelt diesen Jim in, oder enttarnt ihn als einen Menschen mit großem Intellekt, einer enormen Raffinesse und der Gabe, immer wieder "durchsichtig" aufzutreten. und zwar genau dann, wenn die Weißen zu viel Interesse an ihm zeigen... > Jim, ich frage dich jetzt etwas. Warst du in Richter Thatchers Bibliothekszimmer?< > In seim was?< >Seiner Bibliothek.< >Sie mein, das Zimmer mit den ganzn Büchern drin?< >Ja.< >Nein, Maám. Gesehn habbich die Bücher, aber im Zimmer drin warch nich. Warum frahng Sie mich das?< >Ach, jemand hat ein paar Bücher aus dem Regal genommen.< Ich lacht. >Was sollchn min Buch?<
James soll verkauft werden. Mit Sicherheit würde er in diesem Fall seine Familie nie wieder sehen. Also bereitet er seine Flucht vor. Denn er baut darauf, in Freiheit genug Geld zu verdienen, um seine Frau und Tochter Lizzie eines Tages auslösen zu können. Mit an Bord seines nicht sehr stromtauglichen Floßes ist Huck Finn. Der hat so viel Angst vor seinem gewaltätigen Vater, dass er dringend die Gegend verlassen will. So schippern die beiden auf dem Mississippi, und führen bisweilen nahezu philosophische Gespräche, während sie sich die nächste Mahlzeit angeln... Und hinter der nächsten Biegung dieses gewaltigen Flusses lauert bereit eine neue Herausforderung! Absolut lesenswert!!!
Andrea Westerkamp
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KiWi 24,00€
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Jessy Wellmer: "Die enue Entfremdung"
Jessy Wellmer muss man mittlerweile nicht mehr großartig vorstellen, sie ist Moderatorin der Tagesthemen und hat u.a. die Dokumentation „Hört uns zu“ gedreht, Untertitel „Wir Ostdeutsche und der Westen“. Jessy Wellmer wurde 1979 in MVP geboren, hat nach dem Abitur im Westen studiert und lebt in Berlin Charlottenburg. Warum ist das so wichtig? Diese Vereinigung von Ost und West in ihrer Biografie macht sie auf beiden Seiten besonders glaubwürdig und sorgt dafür, dass sich Ost- wie Westdeutsche auf ihre Fragen offen einlassen.
Schon beim Nachdenken über dieses Buch, beim Schreiben dieses Textes wird das ganze Dilemma der letzten gut 34 Jahre deutlich: Noch immer drängen sich Vokabeln wie „beide Seiten“ auf, die Fremdheit ist bei vielen spürbar und seit Corona und insbesondere seit Ausbruch des Ukrainekriegs noch deutlicher zu spüren. Wellmer berichtet in sehr persönlichem Tonfall von ihrem eigenen Werdegang, hebt das Ganze dann aber auf eine gesamtdeutsche, sachliche Ebene – und entlässt niemand aus seiner Verantwortung, etwas, das mir an diesem Buch ganz besonders gefallen hat. Hier wird nicht mit Vorwurf und Schuldzuweisung gearbeitet, sondern aufgefordert, zu erzählen und mit wachem Verstand und viel Empathie zuzuhören – auf allen Seiten.
Astrid Henning
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KiWi 12,00€
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Marie Benedict: "Die einzige Frau im Raum"
Mit knapp 18 Jahren spürt Hedwig Eva Maria Kiesler bereits, über wie viel Macht sie als Frau verfügt, dank ihres außergewöhnlichen Aussehens! Mit Anfang 30 gilt sie als schönste Frau der Welt und gelangt unter dem Namen Hedy Lamarr zu Weltruhm. Dass ebenfalls eine geniale Wissenschaftlerin in ihr steckt, wird erst viel später bekannt!
1933 Wien Hedy feiert Premiere mit dem Theaterstück "Sissy", frenetischer Applaus belohnt die Schauspieler. Doch dann betreten mehrer Platzanweiser die Bühne - in den Armen halten sie Dutzende wunderschöne Rosensträuße und legen diese der entsetzten Hedy zu Füßen. Die Zuschauer, eben noch begeistert jubelnd werden Zeugen eines Fauxpas: diese in aller Öffentlichkeit zur Schau gestellten überbordenen Geste entspricht so gar nicht der üblichen Reserviertheit der feinen Gesellschaft. "Für eine unvergessliche Sissy. Ihr Friedrich Mandl" steht in Goldlettern auf dem beigelegten Kärtchen... Kurz darauf wird aus Fräulein Kiesler Frau Mandl, Gattin eines der einflussreichsten, erfolgreichsten und skrupellosesten Waffenfabrikanten der damaligen Zeit. Eine talentierten Jungschauspielerin avanciert zur Salondame, empfängt nahezu jeden Abend hochdekorierte Gäste, lauscht heimlich den Gesprächen der Mächtigen und hat als Jüdin zunehmend Angst vor der drohenden Zukunft. Als Fritz immer mehr zum gewaltätigen Ehemann wird, plant Hedy heimlich ihre Flucht...
Andrea Westerkamp
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Kjiona Verlag 16,99€
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Simone Kucher: "Die lichten Sommer"
„Richtig, richtig schön!“, so lautete das Fazit meiner Vorablektüre dieses zarten Büchleins mit dem stimmungsvollen Cover lange vor dem Erscheinungstermin. Nun ist es endlich auf dem Markt. Und ich brauche es nur anzuschauen und sofort ist diese enorme atmosphärische wie inhaltliche Intensität wieder da.
Liz ist fast volljährig, selbstbewusst und plietsch. Sie hätte das Potential, eine Ausbildung zu machen. Das sagt sogar ihr Abteilungsleiter in der Batteriefabrik, in der sie tagsüber arbeitet. Abends geht Liz ihrem Vater in der familiären Gastwirtschaft zur Hand, in dem kleinen süddeutschen Dorf, in dem die unfreiwillige Reise der aus der tschechischen Heimat vertriebenen Eltern nach dem Krieg geendet hatte. Mit Glück, Geschick und durch Anpassung haben sie sich herausgearbeitet aus den Flüchtlingsbaracken am Fluss, wo Elisabeth und ihre zwei Brüder geboren worden waren. Ja, Liz hätte das Potential, auf eigenen Füßen zu stehen; das Leben hat ihr mehr zu bieten als ein Hausfrauen- und Mutterdasein. Aber es sind die späten 1960er Jahre und die konservative Männerwelt kann nichts anfangen mit nach Unabhängigkeit strebenden Frauen. Liz fügt sich ihrem Schicksal, unterjocht von einem Vater, der die Härten des Lebens schon früh zu spüren bekommen hat und immer noch täglich damit kämpft, und ohne Unterstützung der Mutter, die so sehr mit sich selbst beschäftigt ist und mehr und mehr in ihren Tagträumen verschwindet. Während Liz sich abmüht mit den Umständen ihres Lebens, reist Nevenka in ihren Erinnerungen zurück an den Ort ihrer Kindheit, zu ihren Eltern und ihrer Schwester, zu ihrer geliebten Freundin, zu den lichten Sommern auf den Feldern vor den Toren von Brünn…
Die Theater- und Hörspielautorin Simone Kucher, die sich bereits in dem WDR-Hörspiel „Von einem zum anderen Tag“ mit der Vertreibungsgeschichte ihrer Großmutter beschäftigte, erzählt in ihrem Debütroman die Geschichte zweier Frauen, die wohl beispielhaft für die deutsche Nachkriegszeit steht. Sie erzählt von gesellschaftlichen und familiären Zwängen, von Kindheitsorten, Vertreibung und Verlust, von Schmerz und Sehnsüchten, nicht zuletzt von einer durch ein generationenübergreifendes Traum belastete Mutter-Tochter-Beziehung – jedoch „so zart und sinnlich und zugleich so aufgeklärt“ (Daniela Dröscher), eben richtig, richtig schön!
Nina Chaberny-Bleckwedel
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Unsere Buchempfehlungen im Februar
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Insel Verlag 23,00€
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Helga Bürster: "Als wir an Wunder glaubten"
Ein kleines Dorf in der Moorlandschaft nicht weit von Oldenburg. Vier Jahre nach Kriegsende hat zwar die unmittelbare Bedrohung aufgehört, aber ansonsten haben sich die Lebensverhältnisse in Unnerloh nicht gebessert. Die meisten Bewohner leben von der Hand in den Mund, man wohnt in kleinen, feuchten Katen und hat mit Glück ein paar Hühner, vielleicht ein Schwein und eine Kuh. Alte Gewissheiten haben sich in Rauch aufgelöst, eine sichere Zukunft scheint nicht in Sicht, kein Wunder, dass es allerorten Wunderheiler, Wanderprediger und allerlei Spökenkiekerei gibt. Jeden Tag sagt irgendjemand den Weltuntergang voraus – und so ist auch die Stimmung.
Hier lernen wir kurz nach Kriegsende (1949) Annie und Edith kennen. Zwei Frauen, deren Männer beide noch „im Krieg geblieben“ sind, beide haben Kinder im gleichen Alter, sie unterstützen sich in Zeiten der Not und sind sowas wie Freundinnen geworden. Als Annies Mann Josef aus dem Krieg nach Hause kommt, ist er eine gebrochene Gestalt. Er hat Schlimmstes erlebt, beide Beine sind amputiert und ist auch seelisch schwer verletzt. Die Freude über Josefs Rückkehr hält bei Annie nur kurz an, sie hat nun einen schwer verwundeten Ehemann zu pflegen, der viel zu viel Alkohol trinkt und muss sich zudem um Willi, ihren geistig behinderten Sohn kümmern. Ihr kleiner Hof wirft nichts ab, die Welt ist gegen sie, es ist wie verhext, so kommt es ihr vor. Ja, wie verhext, genau das ist das Stichwort – und hier kommt Edith ins Spiel. Hübsch ist sie ja, aber rote Haare hat sie und überhaupt: Mit Sicherheit ist sie eine „Töversche“, eine Hexe, und ihre Tochter Betty gleich mit.
Helga Bürster hat einen norddeutschen, atmosphärischen Roman geschrieben (übrigens immer wieder mit plattdeutschen Einsprengseln), der von einer Zeit handelt, in der alle Sicherheit verschwunden war und man für alte und neue Sünden dringend – neue – Schuldige brauchte. Wie passend, dass diese Geschichte im Moor, geradezu auf schwankendem Untergrund, spielt. Schon Annette von Droste-Hülshoff wusste „Oh schaurig ist’s, über’s Moor zu gehen…“.
Astrid Henning
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dtv 17,00€
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Elizabeth Wein: "Code Name Verity"
Eine junge Schottin – hübsch, charmant und äußerst klug, dazu willensstark und bewundernswert tapfer – leistet als Geheimagentin „Verity“ Widerstand gegen die Nazis – bis sie durch einen Unfall im Herbst 1943 auf der französischen Seite des Ärmelkanals in die Hände der Gestapo gerät. Unter (angedrohter) Folter soll sie Informationen über ihre Mission preisgeben. Stoisch und nicht ohne ihren Hass auf die Deutschen zu verbergen, verfasst sie über Wochen einen detaillierten Bericht, spielt dabei mit der englischen, französischen und deutschen Sprache, mit ihren Peinigern und – wie wir jedoch erst viel später feststellen werden – auch mit der Wahrheit. „Verity“ ist darauf konzentriert, Zeit zu schinden. Denn auch wenn ihr ziemlich schnell klar wird, dass sie selbst kaum eine Chance hat, die Inhaftierung lebend zu beenden, so versucht sie doch mit aller ihr zur Verfügung stehenden Macht, ihre beste Freundin zu retten. Maddie war die Pilotin, die „Verity“ aus England in das feindliche Gebiet geflogen hat und dort mit ihr abgestürzt ist…
Einmal angefangen zu lesen, legt man dieses Buch nicht mehr aus den Händen. So fesselnd, geistreich, informativ, überraschend und zutiefst berührend ist diese fiktive Geschichte um die enge Frauenfreundschaft von „Verity“ und Maddie, welche vielleicht beispielhaft steht für jene Zeit! Mit „Code Name Verity“ rückt Elizabeth Wein die Geschichten und die Bedeutung sowohl der frühen Pilotinnen, jenen Frauen, die sich in der männerdominierten Welt der Luftfahrt mit Intelligenz und Ehrgeiz nicht nur privat die Fluglizenz erworben haben, sondern auch beruflich als Pilotinnen in und um den Zweiten Weltkrieg tätig waren, sowie aller mutigen und tapferen Frauen, die sich auf unterschiedlichste Weise am Widerstand gegen die Nazis beteiligt haben, in unser Bewusstsein und trägt dazu bei, sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Welch ein literarischer Schatz ist somit auch die deutsche Übersetzung des bereits 2012 erschienenen Originals!
Nina Chaberny-Bleckwedel
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Hanser Verlag 22,00€
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Alex Capus: "Das kleine Haus am Sonnenhang"
Freuen Sie sich auf einen leider nur kurzen Lesegenuss!
Gewohnt atmosphärisch reisen wir mit dem jungen Alex nach Italien. Am Hang liegt recht einsam ein kleines uriges Haus, indem der Journalist seinen ersten Roman schreiben möchte. Hier in der Abgeschiedenheit kommt Alex zur Ruhe, und gemeinsam mit seiner Freundin genießt er die Idylle. Schon bald spielt sich eine Routine ein, die regelmäßige Besuche im Dorf mit einschließen.
Nie war Alex Capus so "privat". Mit geradezu philosophischer Gelassenheit erzählt uns der Autor von den 90ern und lehrt uns so ganz nebenbei, wie wohltuend es sein kann, wenn man die kleinen Dinge des Lebens eben NICHT aus den Augen verliert.
Das perfekte Geschenk für entspanntes Lesevergnügen!
Andrea Westerkamp
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Rowohlt 26,00€
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Inger-Maria Mahlke: "Unsereins"
Lübeck um 1890: Da klingelt es bei allen von uns wahrscheinlich ganz gewaltig, „Buddenbrooks-Alarm“, sozusagen.
Inger-Maria Mahlke stammt selbst aus Lübeck und hat einen Lübecker Familien- und Gesellschaftsroman geschrieben, der den Zeitraum von etwa 1890 bis 1905 umfasst. Durch verschiedenste Perspektiven tauchen wir ein in sehr unterschiedliche Lebenswelten – vom Dienstpersonal bis zum Senator. Im Vordergrund steht die gutbürgerliche Familie Lindhorst: Friedrich Lindhorst ist Anwalt, sein Bruder sitzt im Senat, er selbst wird sich später auch erfolgreich um einen Sitz bewerben. Seine Frau Marie Lindhorst ist Tochter eines berühmten Dichters, gemeinsam hat man acht Kinder. Im Haushalt hilft Ida, von der Familie „ganz ok“ behandelt, aber eigentlich nicht mehr als ein nützliches Möbelstück. Die Kinder der Lindhorsts gehen unterschiedliche, nicht immer glückliche Wege, bei den Töchtern geht es v.a. darum, sie gut unter die Haube zu bringen. Dann haben wir Georg, Pensionatsschüler bei Pastor Leonhard. Er besucht das traditionsreiche Katharineum und eine Klasse über ihm: Tomy, genannt „der Pfau“, niemand anders als Thomas Mann. Eine weitere Figur ist Isenhagen, Ratsdiener des Senats, der 1. hier jede Menge Interna mitbekommt und 2. unglücklich in die Ehefrau seines Nachbarn verliebt ist.
Einige Randfiguren machen die Runde komplett und so entsteht das Portrait einer Gesellschaft in einer stolzen Hansestadt am Ende des 19. Jahrhunderts, damals übrigens der kleinste Staat im Deutschen Reich. Wie ein Mosaik bilden die einzelnen Szenen und Milieus ein komplettes Bild, von dessen Betrachtung man am meisten hat, wenn man das Buch nicht allzu häufig zur Seite legt.
Astrid Henning
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blanvalet 16,00€
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Tina N. Martin: "Gewittermann"
Bitterkalt ist´s in Schweden. Bei Minusgraden sollte man besser nicht halb entblößt im Schnee liegen...
Der 74jährige Evert Holm leidet allerdings nicht nur an extremen Erfrierungen. Seiner Männlichkeit beraubt, für ihn bedauerlicherweise nicht "post mortem", rafften ihn u. a. Stromstöße dahin. Auch der auf seinen nackten Bauch geritzte Blitz wird dem Multimillionär unangenehme Schmerzen zugefügt haben. Wahrlich kein schöner Tod! Als die Kommissare der Tochter von Holm die Todesnachricht überbringen, wird beiden schnell klar: um so einen Vater trauert niemand! Der Besuch beim Sohn von Holm gestaltet sich als schwierig, denn der junge Mann lebt seit Jahren in einer speziellen Einrichtung, da er unter starken Depresionen leidet und als suizidgefährdet gilt.
Idun Lind, die wir hier gemeinsam mit ihrem Kollegen Tareq zum 2. Mal bei den Ermittlungen beobachten dürfen, ist ebenso energisch, wie im "Apfelmädchen". Der verbale Schlagabtausch unter den Kollegen und Kolleginnen wirkt authentisch, und die personelle Situation der schwedischen Polizei ist absolut glaubwürdig. Mit Spannung erwartete ich den zweiten Band dieses Duos und bin ebenso be-geistert, wie vom ersten. Temporeich, mit Rafinesse und unerwarteten Wendungen "genießt" man diesen Thriller und freut sich auf den 3. Fall...
Andrea Westerkamp
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Suhrkamp Nova 19,99€
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Dana Vowinckel: "Gewässer im Ziplock"
Wow! Was für ein Buch! So intensiv, so vielschichtig, so berührend, so wichtig, so aktuell!
Dana Vowinckel, eine der neuen jungen – jüdischen – Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur, gewährt uns in ihrem Debütroman einen tiefen Einblick in eine israelisch-amerikanisch-deutsche Familie.
Wie jedes Jahr seit ihrer Kindheit verbringt die 15-jährige Margarita, aufgewachsen in Berlin bei ihrem alleinerziehenden, aus Israel stammenden Vater Avi, den Sommer bei ihren Großeltern mütterlicherseits in Chicago. Es ist heiß, langweilig, die Spleens der Großeltern nerven. Margarita sehnt sich nach ihren Freunden daheim, auch nach ihrem Vater, und zählt die Tage, bis sie endlich nach Hause fliegen darf. Doch statt wie geplant am Ende der Ferien nach Berlin zurück-zukehren, beschließen Avi und ihre Mutter Marsha, die zur Zeit in Jerusalem lebt und als Linguistin die Diglossie von Arabisch und Jiddisch erforscht, dass Margarita nach Israel reisen soll, um das Land ihrer Vorfahren besser kennenzulernen und im besten Fall eine Beziehung zu ihrer bis dato abwesenden Mutter aufzubauen. Widerstrebend lässt sich die Tochter darauf ein. Vorprogrammierte Konflikte diverser Art reihen sich aneinander. Margarita reagiert auf ihre Art, tut, was 15-Jährige in solchen Situationen eben tun… Währenddessen schwitzt Avi im hochsommerlichen Berlin, vermisst Margarita, sorgt sich, betet und singt, für sich privat und für die Gemeinde in der Synagoge. Der Chantor findet Ruhe und Halt in Ritualen, bevorzugt seine eigene Gesellschaft der anderer, isst und schläft auch manchmal, wartet auf Nachrichten, die selten kommen. Bis Marsha ihm plötzlich mitteilt, dass Margarita verschwunden ist. Aus seiner Lethargie gerissen, fliegt Avi sofort nach Israel. Die Tochter taucht nach kürzester Zeit wieder auf – eine ungeplante, konfliktreiche Familienzusammenführung nach dreizehn Jahren. Just als die Situation zu eskalieren droht, unterbricht sie eine Schreckensnachricht aus Chicago: Grandma Markovitz liegt mit einer schweren Hirnverletzung im Krankenhaus; wie es ausgeht, ist ungewiss. Statt in Berlin ins neue Schuljahr zu starten, fliegt Margarita also – auf Wunsch von Marsha – zusammen mit ihren Eltern wieder zurück nach Chicago, wo sie mit der Möglichkeit einer schwer-wiegenden Entscheidung konfrontiert wird. Die Erlebnisse und neu gewonnenen Erkenntnisse dieses Sommers bringen die Säulen von Margaritas, aber auch Avis und nicht zuletzt Marshas gesamtem bisherigen Leben ins Wanken.
„Gewässer im Ziplock“ lässt sich durch den auf derselben Zeitebene stattfindenden Perspektivenwechsel von Margarita und Avi auf ganz unterschiedliche Weise lesen: Ein Teenager nähert sich dem Text, liest die Geschichte vermutlich ganz anders, nimmt andere Aspekte in den Fokus als erwachsene Menschen, die sich leichter mit Avi identifizieren. Man merkt der Autorin an, welche Zuneigung sie zu ihren fiktiven Figuren empfindet, wie sie sich einfühlt in ihre authentischen Charaktere, die aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit und Komplexität real sein könnten. Dieser Roman, allein schon sprachlich abwechslungsreich durch den Perspektiven-wechsel der ProtagonistInnen sowie einen selbstverständlichen Wechsel zwischen Deutsch, Englisch und Hebräisch, ist ebenso vielschichtig in seinen Thematiken: alleinerziehender Vater, Eltern-Kind-Beziehung, Mann-Frau-Beziehung, Pubertät, Emanzipation, Feminismus, Identitätsfindung, Herkunft, Fremdsein, Linguistik, Essen und Nahrungsaufnahme finden genauso Eingang wie Angst, der Umgang mit Geschichte, kollektiver Erinnerung und kollektiver Schuld, jüdische Traditionen, jüdische Identität in Deutschland, in Israel und in den USA sowie die Frage nach dem „Jüdisch-genug-Sein“. Es geht ums Jüdisch-Sein, auch ums Deutsch-Sein, ja. Aber vor allem geht es ums Mensch-Sein.
Nina Chaberny-Bleckwedel
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Luchterhand 24,00€
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Elizabeth Strout: "Am Meer"
Pulitzer-Preisträgerin Elizabeth Strout hat mit ihrem neuen Buch „Am Meer“ den wohl zartesten Roman über den Lockdown geschrieben, den man sich vorstellen kann. Gleichzeitig ist das Buch aber so viel mehr als nur eine Geschichte über eine Pandemie und die politischen Ereignisse dieser Zeit, die noch gar nicht so lange zurückliegt, wie man es manchmal fühlt. Es ist ein wunderbar feinfühliger Familienroman, der vor Liebe zu seinen Figuren geradezu überquillt. Und der einen glücklich, auf die beste Weise gesättigt, beseelt und zufrieden zurücklässt.
Im März 2020 erhält Lucy Barton, erfolgreiche Schriftstellerin und Mutter zweier erwachsener Töchter, einen Anruf ihres Ex-Mannes William, der sie inständig bittet, geradezu auffordert, einen Koffer zu packen und gemeinsam mit ihm New York zu verlassen. Er hat in Maine, fernab jeglicher Zivilisation, auf einer einsamen Landzunge ein Haus für sie beide gemietet, in dem sie die nächste Zeit verbringen sollen. Doch aus den geplanten Wochen werden Monate, in denen Lucy und William und ihre komplizierte gemeinsame Vergangenheit zusammen sind in dem einsamen Haus am Meer. Auch nach ihrer Trennung haben sich die beiden stets gut verstanden, zum einem zum Wohle der gemeinsamen Töchter, zum anderen aufgrund einer gewissen Seelenverwandtschaft und aus einem tiefen gegenseitigen Verständnis heraus. Wie Tagebucheinträge lesen sich die Gedanken von Lucy, immer tiefer und tiefer dringen wir ein in ihre Psyche, gibt sie uns Einblicke in ihre Ängste, ihre Sorgen, die ganzen familiären Verstrickungen. Ihre Rolle als Mutter, die zu viel fühlt, der das Unglück ihrer Töchter so sehr unter die Haut geht, dass die beiden sich, wenn auch nur leicht, distanzieren müssen. Lucys Beziehung zu William, ihrem immer noch besten Freund, der sie aber als Ehemann betrogen und belogen hat, nun seltsam verwundbar erscheint, seiner aktuellen Frau hinterhertrauert und dennoch zarte Bande zu Lucy zu knüpfen versucht. Möglicherweise waren diese Bande aber auch nie zerschnitten… Jedoch: Lucy befindet sich in Trauer. Ihr zweiter Ehemann ist vor gerade mal einem guten Jahr verstorben, sie vermisst ihn so unendlich, seine Liebe, seine Ehrlichkeit, seine Zugewandtheit. Die ganze Situation jetzt ist für die sensible und überaus empathische Frau eine seltsame und gleichermaßen be- und entlastende. Der karge Frühling am dunklen Meer erfordert seinen zusätzlichen Tribut…
Lucy erzählt uns von ihren täglichen Spaziergängen am Meer entlang, während in New York die Corona-Katastrophe passiert und die allabendlichen Nachrichten Bilder in die Welt senden, die nicht zu ertragen sind. So viele Gedanken, so viele Situationen und nicht zuletzt diese Pandemie sind so gut bekannt, sie machen auf der einen Seite betroffen, offenbaren jedoch auf der anderen Seite auch immer die Hoffnung auf ein bisschen Glück und Zufriedenheit, ein stetes Weiterkommen und Weitergehen.
Heike Behrens
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Knaur TB 12,99€
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Kästner + Kästner: "Tatort Hafen - Tod an den Landungsbrücken"
Kästner und Kästner sind ein neues, und extrem vielversprechendes, Autorenduo aus Hamburg. Jedoch, so ganz unbekannt ist eine Person der beiden nicht: Frau Kästner nämlich hat unter dem Namen Angelique Mundt schon einige True-Crime-Veröffentlichungen auf den Weg gebracht.
Mittenmang im Hamburger Hafenbecken wird in einer sanft schaukelnden Barkasse die Leiche des Mannes gefunden, dem dieses Boot gehört: Dominic Lutteroth, erschlagen mit einem stumpfen Gegenstand, im Angesicht des nahenden Todes mit einem Lächeln im Gesicht. Sein väterlicher Skipper-Kumpel Hans Kruger hatte des Nächtens ungewöhnliches Licht in der Kajüte gesehen und nach dem Rechten geschaut. Dienstgruppenleiter Tom Bendixen vom Wasserschutzkommissariat übernimmt zunächst die Untersuchungen, muss aber zuständigkeitshalber an die Mordkommission des LKA abgeben, konkret an Jonna Jacbobi, eine versierte und erfahrene Kriminalkommissarin, die mit ihrem Team zu den kompetentesten und erfolgreichsten Ermittlern gehört. Allerdings steht sie aktuell mehr und mehr im Fokus ihrer direkten Vorgesetzten, die Jonna deutlich aus dem Kommissariat herauszumobben gedenkt, um ihrer eigenen Karriere Vorschub zu leisten. Jonna und ihr Kollege van der Waal preschen unter Zeitdruck vor, Tom, als ausgewiesener Experte des 75 Quadratkilometer großen Hamburger Hafens (das sind mehr als 10.000 Fußballfelder), unterstützt. In dieser eigenen Welt inmitten der Metropolstadt gelten auch eigene Gesetze und Gepflogenheiten, die zu beachten sind. Verdächtige im Mordfall Lutteroth gibt es schnell, es folgt ein wirrer Strauß an Lügen. Auch Lutteroths scheinbar untröstliche junge Gattin macht hinsichtlich sich widersprechender Aussagen keine Ausnahme – und die daraus resultierenden Ermittlungen führen mehr als einmal in die falsche Richtung. Zumal da auch noch ein großer Hai im Hafenbecken der Meinung ist, er könne schalten und walten, wie er es seit Jahren gewohnt ist. Schlussendlich jedoch führt dieser erfreulich solide Krimi zu einem nachvollziehbaren und logischen Ende.
„Tatort Hafen“ ist deswegen ein besonderes Leseerlebnis, weil das Autorenduo sich in seiner Geschichte bestens auskennt. Angélique Kästner ist promovierte Psycho-therapeutin und Spezialistin für Krisenintervention, und ihr Ehemann Andreas Kästner arbeitete rund dreißig Jahre als Hauptkommissar der Wasserschutzpolizei im Hamburger Hafen, was man auf jeder Seite bemerkt. Polizeijargon und Arbeitsabläufe sowie Schiffstypen und vieles mehr bieten eine eindringliche Atmosphäre, umfangreiches Wissen über Hamburg und seinen weltberühmten Hafen gibt es selbstredend obendrauf. Ohnehin ist der Megahafen der heimliche Hauptdarsteller, aber das war ja irgendwie von Beginn an zu erwarten und so ist „Tatort Hafen“ weit mehr als nur eine zusätzliche Hamburg-Krimiserie.
Heike Behrens
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Unsere Buchempfehlungen im Januar
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Rowohlt 24,00€
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Tobias Lehmkuhl: "Der doppelte Erich"
Dieses Buch ist wie gemacht, um es nach Kehlmanns „Lichtspiel“ zu lesen. In beiden Texten geht es darum, wie sich Künstler angesichts einer Diktatur im eigenen Land verhalten.
Erich Kästner war mit Sicherheit ein entschiedener Gegner der Nationalsozialisten, seine Bücher gehörten zu den ersten, die am 10. Mai 1933 verbrannt wurden – sogar in seiner Anwesenheit. Dennoch blieb Kästner, anders als viele seiner Freunde, wie z.B. Tucholsky oder Ossietzky, in Deutschland. Er selbst begründete das damit, Zeuge sein zu wollen, um später darüber zu schreiben. Tatsächlich gibt es aus einigen Kriegsjahren knappe Notizen, aus anderen Jahren wiederum nicht. Eine wichtige Rolle beim Gedanken an Emigration spielte sicherlich Kästners Mutter, die er auf keinen Fall alleine lassen wollte. Schon als Kind hatte er Verantwortung für sie übernommen und einige Male mit ihrem Suizid rechnen müssen, das hat Kästner sicherlich geprägt. Zum dritten spielte wohl eine Rolle, dass er die Dauer des Krieges und der Diktatur völlig unterschätzt hat.
Zwar durfte Kästner nicht mehr publizieren, unter Pseudonym hat er aber diverse „harmlose“ Theaterstücke und nicht zuletzt das Drehbuch zum großen UFA-Jubiläumsfilm „Münchhausen“ verfasst. Letzteres übrigens mit Goebbels Genehmigung, hier zeigt sich die Parallele zu Kehlmanns Roman um den Regisseur G. W. Pabst.
Lehmkuhl hat eine offene und ehrliche Beschreibung Kästners vorgelegt, beispielhaft sicherlich auch für Andere, die innerhalb Deutschlands irgendwie versucht haben durchzukommen.
Astrid Henning
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Kampa Verlag 24,00€
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Eva Ibbotson: "Was der Morgen bringt"
Vor vielen Jahren "lieh" ich mir aus dem Bücherschrank meiner Eltern einen Roman von Eva Ibbotson. Titel : Die Morgengab. Als ich nun mit "Was der Morgen bringt" begann, fühlte ich mich sofort ungemein wohl und geriet in einen absoluten Leserausch. Auf Seite 50 stellte ich fest, dass ich das Buch bereits kenne, allerdings unter einem anderen Titel (s.o.)... Sagen möchte ich Ihnen damit nur eines: lesen Sie es!
Die Geschichte beginnt 1938 in Wien. Professor Berger und seine Familie müssen Österreich überstürtzt verlassen und fliehen nach England. Ihre fast erwachsene Tochter Ruth hat bei ihrem Einreiseversuch mit Hilfe eines Studentenvisums nicht so viel Glück. Nur das entschlossene Eingreifen Professor Quinton Somervilles verhindert Schlimmeres. Der junge Freund ihres Vaters heiratet Ruth kurzerhand, und somit ist sie in Sicherheit. Diese Scheinehe löst zwar ein akutes Problem, stellt die beiden "Eheleute" jedoch ständig vor neue Herausforderungen. Die Regeln für eine möglichst schnelle Annullierung sind nicht immer so ganz klar.... Und während Ruth sehnsüchtig die Ankunft von Heini herbeisehnt, einem entfernten Vetter und ihre große Liebe, plant die High Society in London längst, den smarten und erfolgreichen Somerville als begehrten Junggesellen zu verkuppeln...
Die Schrecken des Krieges sind in diesem Roman gegenwärtig, werden aber nicht vorherrschend thematisiert. Besonders gut gefiel mir der herrlich britische Humor, und trotz der vorhersehbaren Handlung, fühlte ich mich bestens unterhalten!
Andrea Westerkamp
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dtv 24,00€
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Bodo Kirchhoff: "Seit er sein Leben mit einem Tier teilt"
In diesem Roman geht es um einen Mann kurz vor seinem 75. Geburtstag und die 4 ½ Lieben seines Lebens.
Der Mann ist Louis Arthur – kurz L.A. – Schongauer, der eher als älter denn als alt beschrieben wird, was in diesem Buch durchaus von Bedeutung ist. Bodo Kirchhoff, selbst inzwischen 75, lässt Schongauer immer wieder über das Älterwerden und die damit verbundenen Veränderungen für das eigene Leben sinnieren. Dazu gehört der Blick zurück auf das Vergangene genauso wie eine vorsichtige Vorausschau auf das noch zu Erwartende. Die Reflektionen Schongauers sind eingebettet in eine Handlung, die fast ausschließlich von Frauen getragen wird, die gefühlt die Rolle von Souffleusen übernehmen. Sie liefern immer wieder zuverlässig Stichworte, anhand derer sich das Leben des Protagonisten entspinnt. Die bescheidenen Nebenrollen des hilfsbereiten Albaners oder des besorgten Kardiologen sind in diesem Roman nicht mehr als episodisches Beiwerk. Schongauer, von dem wir erfahren, dass er einst in Hollywood als Nebendarsteller mit stets derselben Rolle des unsympathischen deutschen Nazis seinen Unterhalt verdiente, lebt allein mit seiner Hündin Ascha oberhalb des Gardasees und trifft dort zunächst auf Frida (ohne „e“), eine Reisebloggerin, die sich mit ihrem Wohnmobil verfahren hat und nun mit einer Panne in seiner Einfahrt steht. Als Vertreterin der Gen Z bildet sie den Gegenentwurf zu ihm und der anderen Frau, die wir noch kennenlernen. Dies ist Almut, eine attraktive, mäßig erfolgreiche Journalistin und frustrierte Arztgattin mittleren Alters. Ihr Projekt, die Hollywood-Zeit des inzwischen fast vergessenen Schongauers und vor allem dessen Beziehungen zu Frauen noch einmal aufzurollen, führt sie an den Gardasee. Zwischen diesen drei völlig unterschiedlichen, bunt zusammengewürfelten Personen entwickeln sich in der Folge immer wieder Gespräche, die die Tiefen und die damit verbundenen Wünsche, Ängste und Verletzlichkeiten zwischenmenschlicher Beziehungen andeuten. Es sind zumeist Zwiegespräche, die Schongauer entweder mit Frida oder Almut führt und die sich nahezu ausnahmslos um sein Leben und seine verlorenen Lieben drehen. Fast immer dabei: Hündin Ascha, die, wie schnell klar wird, die aktuelle Liebe seines Lebens ist. „Sie tut nichts, was sie nicht will. Wenn sie zu mir ins Bett kommt, will sie es so. Rufe ich sie aber und sie kommt nicht, will sie für sich sein. […] Ascha weiß nicht, dass es Liebe gibt, aber liebt.“ Unter anderem so beschreibt Schongauer sein Leben, das er mit einem Tier teilt. Die Klarheit und Unmittelbarkeit, mit der Ascha ihren Instinkten folgend lebt, scheint auf Schongauer eine magische Wirkung zu haben, die ihn beeindruckt, aber auch wehmütig werden lässt. Wehmütig vor allem, wenn er an die komplizierten Beziehungen in seinem Leben zurückdenkt, an denen wir beim Lesen teilhaben dürfen.
Bodo Kirchhoffs Roman lebt eindeutig von der Sprache und dem stilistischen Können des Autors. Oft hatte ich beim Lesen das Gefühl, mit vor Ort zu sein, die wundervolle Umgebung und ihre Magie zu spüren sowie die ambivalenten Charaktere in ihrem Agieren hautnah zu erleben. So gilt meine Leseempfehlung auch weniger der Handlung des Romans – hier ist es mir fast ein bisschen viel männliche Selbstbespiegelung – als vielmehr der Schreibkunst an sich, die zwar nicht ganz leicht zu lesen, aber in jedem Fall ein Genuss ist.
Bettina Ziehe
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Suhrkamp 25,00€
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Andreas Pflüger: "Wie Sterben geht"
Ein Spionagethriller der allerfeinsten Sorte, das ist „Wie sterben geht“.
Der Roman beginnt gleich mit einer aufregenden und ziemlich explosiven Szene, die wie ein Prolog funktioniert: 1983, Glienicker Brücke in Berlin, zwei Spione sollen ausgetauscht werden. Die junge Agentin Nina Winter soll auf der Westseite Rem Kukura identifizieren, mit dem sie in Moskau eng zusammengearbeitet hat. Als die beiden sich schon in die Augen sehen können, wird die Brücke durch einen Sprengsatz in die Luft gejagt – und der Roman setzt ein paar Jahre früher ein. Zu diesem Zeitpunkt wird Nina als junge Frau vom BND angeworben und arbeitet in der Zentrale in Pullach, wo sie am Schreibtisch Spionage-Informationen auswertet. Nina ist tough, schnell, mutig und spricht fließend Russisch, weshalb sie nach Moskau geschickt wird, um dort den wertvollsten Kontakt für den Westen, Rem Kukura, zu führen. Natürlich durchläuft sie vorher noch eine Art Hardcore-Schnell-Training für angehende Agentinnen, lernt Verfolger abzuschütteln, tote Briefkästen anzusteuern, ihre neue Identität im Schlaf herunterzubeten. Als vermeintliche Kulturbeauftragte reist sie dann nach Moskau, und wir mit ihr.
Ich kann gar nicht sehr viel mehr von diesem absolut rasanten Thriller erzählen, ohne zu viel zu verraten. Das Buch steckt voller Wendungen, Cliffhangern, Überraschungen, und das bis zur letzten Seite, tatsächlich. Andreas Pflüger hat äußerst akribisch recherchiert, als Leser hat man das Gefühl, dass man sich nach der Lektüre des Romans problemlos in Moskau zurechtfinden würde. Politik, Action, Geheimnis, Humor, auch Zynismus und sicher eine Prise Brutalität sind die Zutaten zu diesem Thriller, der einem Vergleich mit dem Altmeister John le Carré sicher standhalten kann.
Astrid Henning
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Unsere Buchempfehlung im Dezember
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S.Fischer 25,00€
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Daniel Speck: "Yoga Town"
Eine Familiengeschichte, 2 Indien-Reisen und jede Menge Zeitkolorit.
Getrieben von der Sehnsucht, den Zauber hinter dem Profanen zu entdecken, machen sich die Brüder Lou und Marc mit Lous Freundin Marie 1968 auf, der kleinbürgerlichen Enge des eigenen Zuhauses in Harburg zu entfliehen. Harburg, nur ein Buchstabe und doch Welten vom großen Nachbarn entfernt. Auf dem Hippie-Trail Richtung Osten stößt in Istanbul noch die geheimnisvolle Corinna zu ihnen und zu viert landen sie nach einigen Zwischenstationen in Rishikesh am Ufer des Ganges. Sie finden sich wieder im Ashram des Guru Maharishi, dem damals neben den Beatles auch zahlreiche andere Musikgrößen vertrauten auf ihrer Suche nach dem „peace of mind“. Als Weg zur Erleuchtung pries Maharishi die Transzendentale Meditation, auf die sich jedoch nur Marie einlassen konnte, während die Brüder und Corinna teils auf andere Mittel setzten und doch gefangen blieben in den eigenen Verstrickungen. Damit ist die sich anbahnende Katastrophe vorprogrammiert und führt letztlich dazu, dass nur Lou und Corinna nach Deutschland zurückkehren. 2019 unternimmt die Berliner Yogalehrerin Lucy (in the sky) - gefühlt die einzige Yogalehrerin in Deutschland, die noch nicht in Indien war - ebenfalls eine Reise nach Rishikesh. In erster Linie, um zusammen mit ihrem Vater Lou nach ihrer Mutter Corinna zu suchen, die, ganz entgegen ihrer sonstigen Art, ohne Ankündigung oder Erklärung spurlos verschwunden ist. In zweiter Linie aber auch, um vielleicht ihr eigenes Leben zu klären, ihren Seelenfrieden zu finden. Lucy kennt die Geschichte ihrer Eltern nur lückenhaft und ahnt, dass ihr wesentliche Dinge bislang vorenthalten wurden, was sich während des Aufenthaltes in Indien langsam und schmerzhaft bestätigt. Truth is a pathless land – Jiddu Krishnamurti (S.175)
Daniel Speck schreibt atmosphärisch dicht und entwirft ein leuchtendes Kaleidoskop von Bildern, die das Indien der Flower-Power-Zeit vor dem inneren Auge seiner Leserschaft intensiv wieder heraufbeschwören. Ein Buch nicht nur für alle Blumenkinder von damals und heute, alle Sinnsuchenden, Musikliebhaber und Beatles-Fans, sondern auch für alle, die in der eher grauen Jahreszeit ein paar bunte Stunden genießen wollen, um ihren eigenen „peace of mind“ zu pflegen. Als Bonustrack gibt es bei den gängigen Streamingdiensten „Yoga Town auf die Ohren“ mit einer Playlist, die die im Buch genannten Titel beinhaltet.
Bettina Ziehe
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Unsere Buchempfehlungen im November
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Hanserblau 22,00€
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Dietlind Falk: "No regrets"
Tattoos und alles was damit zusammenhängt, ist wirklich nicht meine Sorte. Wenn ich Sie also jetzt trotzdem ins „No regrets“ entführe, einem Tattoo-Laden irgendwo zwischen Duisburg und Dortmund, muss das schon einen besonderen Grund haben.
Dieser Grund hat vor allem zwei Namen, und dann eigentlich noch ganz viele mehr. Hänk und Muddy sind zwei in die Jahre gekommene, etwas abgehalfterte Typen, die seit vielen, vielen Jahren zusammen das „No regrets“ betreiben, einen Tattooshop der alten Sorte. Wobei „betreiben“ eigentlich ein bisschen übertrieben ist. Es kommen halt Menschen, die sich ein Tattoo stechen lassen wollen und die mehr oder weniger freundlich empfangen, aber sehr fachmännisch bedient werden. Früher stachen Hänk und Muddy Rosen, Anker und Fussballwappen, heute kommen die Leute mit dem verrücktesten Quatsch: „Also, ich will einen Diamant, der in einer Handfläche zu einem Silbersee schmilzt, so mit schimmernder Oberfläche, aber die Hand ist auch zur Hälfte ein Widder. Ich bin Widder.“ Kein Kommentar. Auf jeden Fall braucht das „No regrets“ frischen Wind und da passt es prima, dass sich vor ein paar Tagen eine junge Tätowiererin vorgestellt hat: Luz hat heute ihren ersten Tag und wird für geradezu tektonische Verschiebungen im Laden sorgen. Und lernt sehr schnell das gesamte Umfeld des Studios kennen: Laber-Jochen, Schotter, Tanja und Manfred und vor allem Rudi, den Meister des Lettering, dessen Eltern immer noch glauben, dass er jeden Morgen brav zur Uni geht.
Dieser Roman ist ein wunderbares Buch über Freundschaft, die allem Wandel trotzt, und ganz allgemein darüber, worauf es im Leben wirklich ankommt. Ein Buch, bei dem ich mehrmals laut gelacht habe, das aber auch wirklich anrührende Szenen hat. Unglaublich, wie lebendig Falk ihre Romanfiguren werden lässt und welches Gespür sie für Schilderungen von Atmosphäre hat. Sprachlich natürlich kein Mädchenpensionat, aber das wäre in diesem Umfeld auch höchst albern.
Astrid Henning
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Berlin Verlag 22,00€
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Jan Peter Bremer: "Nachhausekommen"
Eine Kindheit auf dem Land, das klingt doch nach Idylle, nach unbeschwertem Aufwachsen – irgendwie nach Bullerbü.
Für Jan Peter Bremer war es allerdings alles andere als das. Er ist fünf Jahre alt, als seine Eltern Mitte der 70er Jahre mit ihm aus Berlin ins Wendland ziehen, genauer nach Gümse, ein sehr kleines Dorf am östlichsten Rand von damals „Westdeutschland“. Erschwerend kommt hinzu, dass Jan Peters Eltern so gar nicht in die vorhandene dörfliche Struktur passen, die konservativ und bäuerlich geprägt ist. Jan Peters Vater nämlich ist Künstler, zwar erfolgreich und bekannt – das aber sicher nicht im Wendland. Im Schlepptau haben die Bremers befreundete Maler, Schriftsteller etc., es entsteht eine kleine Künstlerkolonie, was die Sache nicht besser macht. Alles Terroristen, zumindest Sympathisanten, Langschläfer, Faulpelze, mithin: keine rechtschaffenen Leute. Und was Eltern ihren Kindern vorbeten, wird oftmals übernommen, so dass Jan Peter keine schöne Grundschulzeit in der Dorfschule erwartet. Die besten Schultage sind die, in denen er weitestgehend unbemerkt bleibt, das passiert allerdings so gut wie nie. In kürzester Zeit haben sich alle Jungs auf ihn eingeschossen, machen ihn lächerlich, verspotten, beschimpfen und demütigen ihn. Ist es da verwunderlich, dass Jan Peter kein guter Schüler wird? So blockiert vor Angst und Blamage ist Lernen fast unmöglich. Nachmittags müssen zwar Hausarbeiten gemacht werden, aber dann beginnt eben doch der schöne Teil des Tages, wenn auch etwas einsam: draußen auf dem riesigen Gelände rumstromern, zu den Schafen gehen, im See schwimmen usw. Da wundert es nicht, dass hier ein eher in sich gekehrtes, träumerisches und fantasievolles Kind heranwächst, dessen Rettung viel, viel später das Schreiben werden wird.
Jan Peter Bremers Beschreibung seiner Kindheit und Jugend ist ganz fein und zart. Man spürt die Tortur der Schulzeit, taucht aber ebenso ein in die reiche Fantasiewelt dieses Kindes, die Teil der Rettung ist. Im Hintergrund immer das Lebensgefühl und die Gesellschaft der 70er in der BRD, beides wird in Bremers Erzählung nochmal sehr präsent.
Astrid Henning
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Arche 24,00€
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Heather Marshall: "Frag nach Jane"
Kennen Sie den Film „Call Jane“ (2022)? Angelehnt an diesen hat die junge kanadische Geschichts- und Politikwissenschaftlerin Heather Marshall in ihrem über 400 Seiten starken Debütroman „Frag nach Jane“ auf eindrückliche Weise und hohem Erzählniveau die Geschichte der Janes, einem illegalen Abtreibungs- netzwerk in den USA der 1960er und frühen 70er Jahre, auf ihre Heimat Toronto in Kanada übertragen.
Die junge Evelyn wird 1960 von ihrer Familie genötigt, ihre Schwangerschaft unter strenger Geheimhaltung an dem kalten, unmenschlichen Ort "Sankt-Agnes-Heim für ledige Mütter“ zu verleben. Nur kurze Zeit nach der Entbindung nehmen die Nonnen den Mädchen ihre Neugeborenen weg und geben die Babys an anonyme Adoptiveltern. Physisch und psychisch zerschlagen, schwört Evelyn sich, nach ihrer Tochter zu suchen, bis sie sie gefunden hat, und der Generation junger, schwangerer Mädchen nach ihr ein solches Schicksal zu ersparen. Als Medizin- studentin kämpft sie Jahre später im Kreise willensstarker und risikobereiter Frauen für ein Recht auf Selbstbestimmung über den weiblichen Körper und nimmt von Beginn ihrer Gynäkologinnenlaufbahn an illegale Schwangerschaftsabbrüche vor, immer unter enormem Risiko, entdeckt und verhaftet zu werden. Dieses Risiko steigt noch, als Evelyn sich als eine von wenigen Ärztinnen der Untergrund- organisation Jane anschließt. Doch nur so erreicht sie noch mehr ungewollt schwangere Mädchen und Frauen und kann diese vor einer stümperhaften Abtreibung und deren Folgen bewahren. Die neunzehnjährige Nancy ist als geliebtes und überbehütetes Einzelkind im Toronto der 60er und 70er Jahre aufgewachsen. Nur sehr widerwillig lässt ihre Mutter sie zum Studium in die Stadt ziehen. Zum Glück hat Nancy noch ihre Großmutter, der sie jeden Kummer anvertrauen kann. Mit dem großen Geheimnis ihrer minderjährigen Cousine muss sie allerdings allein fertigwerden: Die Bilder von der stark blutenden Clara, die sie zu einer illegalen Abtreibung in einem dunklen, dreckigen Kellerraum begleitete und die danach fast ihr Leben verlor, verfolgen Nancy noch Jahre lang. Als sie mit Anfang 20 selbst in eine ähnliche Lage gerät, beschließt sie, einen anderen Weg einzuschlagen – und stößt dabei auf die Janes. Und noch eine weitere schicksalshafte Entdeckung verändert Nancys Leben… Angela wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich schwanger zu werden. Sie und ihre einfühlsame Frau Tina, die Professorin an der Universität von Toronto ist, haben bereits einen aufreibenden Behandlungsprozess der künstlichen Befruchtung hinter sich. In einer Kommode ihres Antiquitätengeschäftes findet Angela eines Tages zufällig einen sieben Jahre alten, nicht zugestellten Brief von 2010, dessen Inhalt ihr sehr ans Herz geht: Es ist das Geständnis einer verstorbenen Frau an ihre Tochter, dass diese nicht ihr leibliches Kind gewesen sei. Aufgrund ihrer eigenen Geschichte ist es Angela ein großes Bedürfnis, die Adressatin des Briefes ausfindig zu machen. Während ihrer langwierigen, scheinbar erfolglosen Recherche stößt sie nicht nur auf ungeheuerliche Wahrheiten über das ehemalige "Sankt-Agnes-Heim für ledige Mütter“, sondern auch auf Publikationen über die Geschichte illegaler Schwangerschaftsabbrüche in Kanada und die Rolle der Janes von einer gewissen Dr. Evelyn Taylor, die zufällig eine Kollegin von Tina ist…
Geschickt, spannend und mit einigen Überraschungsmomenten lässt Marshall die Lebensstränge der drei Frauen ineinanderfließen. Allerdings braucht es für die Lektüre von „Frag nach Jane“ aufgrund der Zeiten- und Perspektivenwechsel nicht nur Konzentration, sondern vor allem starke Nerven: Marshall erzählt derart eindrücklich, dass manche Szenen kaum zu ertragen sind. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – sollten möglichst viele Menschen dieses Buch lesen! Der Kampf um die Selbstbestimmung der Frau über ihren Körper ist leider in vielen Teilen unserer Welt noch immer sehr aktuell, das Recht auf einen legalen Schwangerschaftsabbruch noch längst nicht überall selbstverständlich. Mit ihrer gut recherchierten (fiktiven) Geschichte über die Janes hat sich Heather Marshall einem wichtigen Thema unserer Gesellschaft gewidmet und all den starken Frauen, Kämpferinnen und Opfern von illegalen Abtreibungen Tribut gezollt.
Nina Chaberny-Bleckwedel
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Ullstein Verlag 24,99€
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Jo Nesbø: "Das Nachthaus"
Der neue Nesbø, so ganz anders als alle vorangegangenen Thriller, so unglaublich gut und faszinierend, ein bizarrer Grusel mit Tiefgang.
In dem kleinen und sehr langweiligen Ort Balantyne wächst der 14jährige Richard bei Tante und Onkel auf. Richard ist anders als andere Jugendliche, er ist auf der einen Seite ein Querulant, ein Nicht-Angepasster, auf der anderen Seite ein Einzelgänger, ein seltsamer Kerl. Als Neuer in der Schule ist es für ihn extrem schwierig, Kontakte zu knüpfen und in die vorhandenen Strukturen hineinzu- kommen. Und so verbringt er, mehr aus der Not heraus, Zeit mit Tom, der ebenfalls keiner Gruppe so richtig angehört. Die beiden Jungs begeben sich eines späten Nachmittags verbotener-weise in den nahegelegenen Wald, auf die Brücke – ein Spielzeug fällt ins Wasser, und es passiert das Unfassbare: Tom verschwindet. Als Richard von der hiesigen Polizei verhört wird, erzählt er eine haarsträubende Geschichte: Er und Tom hätten einem Fremden einen Telefonstreich gespielt und Tom sei währenddessen von dem Telefonhörer sozusagen aufgesogen worden. Obgleich ich neuerdings recht gerne wieder Fantasy-Geschichten lese, war ich von diesem Plot zunächst, ich sage mal, überrascht und überrumpelt. Doch Herr Nesbo kann ja ausgesprochen gut mit der Sprache umgehen, so dass nach sehr kurzer Distanz die nicht ausformulierten Dinge zwischen den Zeilen meine Fantasie und meine kriminologische Ader zum Glühen brachten. Natürlich glaubt niemand Richards Geschichte, und als dann sein Klassenkamerad, der ihn zuhause besucht, ebenfalls verschwindet, wird die Lage brenzlig. In einem weiteren Verhör gibt Richard an, dass sich sein Kumpel in einen Käfer verwandelt (Achtung, Kafka!) und über die Regenrinne das Haus verlassen habe. Auch das klingt für alle mehr als abstrus, jedoch lernen wir nach und nach, in kleinen Schritten, Richards Persönlichkeit kennen, seine Ängste und seine Schuld im Herzen. Dieser Junge trägt mehr auf seinen schmalen Schultern als gut für ihn ist. Und in seiner aktuellen Situation, in der er als Verdächtiger und Lügner in zwei Vermisstenfällen behandelt wird, muss er sich auf die einzige Person verlassen, die ihm glaubt: Karen, die mit ihm zur Schule geht. Gemeinsam suchen sie nach Antworten und dem Ursprung des Bösen im Spiegelwald.
Nach dem ersten Teil dieses Buches, der uns Leser wahrlich hineinzieht in ein Geschehen, das unser aller Sein und Nichtsein gefährlich ins Wanken bringt, taucht man, vollkommen geflasht und vollends damit beschäftigt, die Orientierung wieder zu finden, auf – bereit für ein Weiter, in dem die Übergänge von Traum und Wirklichkeit fließend sind und man sich seiner eigenen Wahrnehmung nicht immer sicher sein kann. Erst im Laufe des dritten und letzten Teils des Buches folgt eine schlüssige Auflösung der bizarren und auch wirklich gruseligen Geschichte. Jo Nesbø hat es ein weiteres Mal geschafft, seine Leser und Leserinnen dermaßen in den Bann zu ziehen, dass es ein gerüttelt Maß an Selbstdisziplin braucht, das Buch für einen Moment beiseite zu legen.
Heike Behrens
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Lübbe 14,00€
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Tuomas Oskari: "Tage voller Zorn"
Helsinki im Dezember 2027
ZITAT " Seit der industriellen Revolution hat sich das Vermögen in den westlichen Ländern immer mehr auf einzelne reiche Privatpersonen und Familien sowie deren Unternehmen konzentriert. Eine Reihe anerkannter Wirtschaftswissenschaftler sagt voraus, dass sich durch Automatisierung und Entwicklung künstlicher Intelligenz die Konzentration des Reichtums auf diejenigen,die sowieso schon darüber verfügen, im 3.Jahrtausend weiter verstärken wird." Mit diesen Fakten startet das preisgekrönte Debüt des finnischen Politik- und Wirtschafts-journalisten Oskari. Bevor er diesen Thriller schrieb, arbeitete er lange Zeit als Auslandskorrespondent in den USA.
Lumi Nevasmaa ist 25 Jahre alt und wird ihren 26. Geburtstag nicht mehr feiern. Zwei randvolle Benzinkanister, Hüftgurt, Seile und ein Wurfgeschoss verstaut sie in einer reißfesten schwarzen Sporttasche. Drei Abschiedsbriefe hat Lumi geschrieben, zwei davon stecken ebenfalls in der Tasche. Während ein Taxi sie in eines der Nobelviertel von Helsinki fährt, beginnt es zu schneien. Die letzten Meter bis zu ihrem Ziel wird Lumi laufen. Eine alte Linde, die sie vor einigen Tagen entdeckt hat, scheint der perfekte Ort zu sein. Der Baum ist gut zu sehen vom Haus der bewussten Person. Und als Lumi sieht, dass das Licht hinter seinen Panoramafenstern noch brennt, weiß sie, dass er das folgende Spektakel nicht verpassen wird! Mit präzisen Griffen trifft sie alle Vorkehrungen. Lediglich das Übergießen mit Benzin lässt sie schaudern. Und als ihr gellender Schrei durch die Nacht dringt, in dem Moment, als die Flammen ihre Haut aufplatzen lassen, da meint sie, sein Silhouette am Fenster stehen zu sehen....
Andrea Westerkamp
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Fischer 24,00€
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Lynn Cullen: "Die Formel der Hoffnung"
Im Jahr 1949 tritt im Vanderbild Hospital Nashville eine junge Frau ihren Dienst an: Dr. Dorothy Millicent Horstmann, 1,85 m groß und schon daher schwer zu übersehen, wird als einzige Frau das hiesige, rein männliche, Ärzteteam unterstützen – und sie hat Großes vor.
Allen Widrigkeiten zum Trotze hat sie sich der Wissenschaft verschrieben und will erforschen, wie die Ansteckungswege der Kinderlähmung, dieser brutalen Krankheit, die so viel Leid über die Menschen bringt, erfolgen. Und nicht allein das: sie will zwingend einen Impfstoff entwickeln, der dieser Geißel entgegenwirken soll. Zu viele Patienten, zu viele Kinder, hat sie an der Eisernen Lunge um Luft ringen und sterben sehen. Jedoch ist es nicht einfach, sich in einer von Männern dominierten Welt zu behaupten. Trotz ihrer überragenden Ausbildung, ihres mehr als wachen Geistes, ihres Ehrgeizes und ihrer Hartnäckigkeit werden ihr täglich Steine in den Weg gelegt, wird sie, allein weil sie eine Frau ist, nicht recht ernst genommen. Die berühmten Forscher in ihrem Umfeld zweifeln an ihrer These zur Ausbreitung des Virus im Körper, aber sie will und sie wird ihnen beweisen, dass sie recht hat – um jeden Preis! Im Rennen gegen die Zeit wird sie zur Pionierin, die ihr privates Glück und ihr eigenes Leben aufs Spiel setzt. Dr. Dorothy Horstmann lässt sich von ihrem Weg nicht abbringen. Weder scheut sie die Konfrontation mit ihren Kollegen noch verliert sie ihr Ziel aus den Augen, die Wege von Polio identifizieren zu wollen. Aufwendig und schwierig ist die Suche nach einem wirksamen und zugleich sicheren Impfstoff, der umso notwendiger erscheint, als die endemischen Polioausbrüche überall auf der Welt eher zu- als abnehmen. Neben der Wissenschaft selbst und dem langwierigen Weg medizinischer Forschung wird hier einmal wieder die soziale Rolle der Frau sehr anschaulich beleuchtet. Vor allem das Misstrauen und die Missgunst, die Dorothy auch von Seiten anderer Frauen entgegenschlägt, macht tief betroffen. Es ist eine bereichernde Freude, Dr. Horstmann durch diese Geschichte zu begleiten, vor allem vor dem Hintergrund, dass ihre Intention, ihre Leidenschaft und die medizinischen Fakten der Realität entsprechen. Und es ist der Autorin vorzüglich gelungen, sämtliche Protagonisten so authentisch und lebendig darzustellen, dass man sich als Leser und Leserin quasi zugehörig fühlt, die unterschiedlichsten Emotionen im wahrsten Sinne mit fühlt. Da sind z.B. die Eltern der erkrankten Kinder, die morgens das Bett nicht verlassen können und nachmittags bereits in der Eisernen Lunge beatmet werden. Da sind aber auch die männlichen Kollegen von Dr. Horstmann, Dr. Jonas Salk und Dr. Albert Sabin (die man im übrigen heute noch als weltberühmte Wissenschaftler aus dem Bereich der Polio-Forschung kennt), die mit ihrer Arroganz, ihren Intrigen und ihrer Selbstherrlichkeit gelegentlich ein Gefühl der Wut aufkommen lassen.
Das Buch ist meisterhaft konstruiert, dabei absolut einfühlsam und sensibel. Ohne Dr. Dorothy Horstmann hätte es nie einen Impfstoff gegeben – und dieses Buch von Lynn Cullen rückt ihre brillante Arbeit in den Vordergrund und erinnert auch an all die Frauen, die sich in der Wissenschaft verdient gemacht haben und deren Name weiterhin einem breiten Publikum nicht geläufig sind. Ein großer Roman über eine, im doppelten Sinne, große Frau!
Heike Behrens
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C.Bertelsmann 24,00€
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Joana Osman: "Wo die Geister tanzen"
Romane über Fluchterfahrungen gibt es viele und immer wieder neue. In der Regel muss man sich als Leser*in wappnen: Häufig beinhalten diese Bücher Szenen, die nur schwer zu ertragen sind; wir werden mit allen erdenklichen und unvorstellbaren Grausamkeiten konfrontiert. Nicht so bei Joana Osman. Die gebürtige Deutsche mit arabisch palästinensischen Wurzeln und Mitbegründerin der Friedensbewegung „The Peace Factory“, berichtet auf 224 Seiten teils poetisch, teils fast nüchtern, durchweg sehr bildhaft, „in einem fast leichtfüßigen Ton, in dem sich Schmerz und Witz unwiderstehlich vermischen“, und völlig wertfrei von diesen Grausamkeiten, die ihre Familie so oder so ähnlich erlebt hat. Aus sechs dicht beschriebenen Notizbüchern ihres Onkels Mahmut, acht Tagebüchern ihres früh verstorbenen Vaters Mohammad, wahren Anekdoten und den Erzählungen anderer Familienmitglieder und Zeitzeugen sowie historischer Fachliteratur hat Joana Osman eine fiktive Geschichte ihrer Familie väterlicherseits kreiert. In einem Wechselspiel von Vergangenheit und Gegenwart, der Perspektive der Autorin selbst, wie sie durch einen zufälligen Fund ihrer Cousine in Istanbul zu der Geschichte gekommen ist und was sie dabei erlebt hat, und der Perspektive ihrer Großeltern und deren Söhne, Joana Osmans Vater und Onkel, zeichnet sie das Leben und die Flucht aus der palästinensischen Heimat Jaffa im heutigen Israel über Beirut im Libanon, die Türkei bis zum neuen Zuhause in Deutschland nach.
Dabei erfahren wir, wie die junge, hübsche Sabiha den viel älteren Ahmed Osman, der ein Kino in Jaffa besitzt, heiratet, wie sie 1948 im Zuge des ersten arabisch-israelischen Krieges ihre Heimat und ihr bisheriges Leben verlieren, mit ihren kleinen Kindern fliehen müssen um zu überleben, und auf der Odysse, die dort beginnt und Jahre, Jahrzehnte dauern wird, zeitweilig auch einander verlieren, sich selbst und viel zu früh zwei ihrer Söhne. Wir erfahren, wie die Familie unter menschenunwürdigen Zuständen haust, friert, wie die Jungen hungern, wie sie Gewalt und Feindseligkeit erleben, aber auch Mitmenschlichkeit und Hilfe und wie sie trotz allem ihren Lebensmut nicht verlieren, wie Mahmut, Mohammad, Ibrahim und Ismael größer werden, wie die (überlebenden) Jungen Zukunftspläne schmieden und wie zielstrebig sie den Traum von einem eigenen Pass und einer Staatenzugehörigkeit verfolgen. In einem Interview auf SR 2 KulturRadio sagt Joana Osman, dass sie so einen Roman, diese persönliche Geschichte, eigentlich nie habe schreiben wollen. Doch der Koffer mit den Tagebüchern habe sie nicht losgelassen und als sie schwanger wurde, habe sie gewusst, dass sie diese Geschichte schreiben muss, für ihr Kind, um nicht das Trauma ihrer Familie weiterzuvererben, sondern die Erinnerungen an seine Wurzeln lebendig zu halten. Sie wünsche sich, so Osman, dass ihr Roman, so wie Kunst und Literatur generell, zum Verständnis und im besten Fall zur Veränderung beiträgt, und glaubt, dass dies nur gelingen könne, wenn sich die Menschen, Individuen beider Seiten ihre Geschichten erzählen. Und viele Menschen zuhören – oder sie lesen.
Auf den letzten Seiten ihres Buches finden sich neben dem obligatorischen Autorinnendank ein Glossar von Begriffen des arabischen sowie jiddischen Sprachgebrauchs, ein Literaturverzeichnis Osmans Quellen sowie als Besonderheit ein Soundtrack namhafter englischsprachiger sowie im arabischen Kulturkreis berühmter palästinensischer Interpreten. Unbedingt reinhören! Es lohnt sich!
Nina Chaberny-Bleckwedel
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Diogenes 23,00€
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Elena Fischer: "Paradise Garden"
Zu Beginn jeden Monats, wenn noch genug Geld im Portemonnaie ist, essen Billie und ihre Mutter den größten Eisbecher im Café Paradise Garden...
Billie ist 14 Jahre alt, als ihre Mutter stirbt. Kein Kind sollte so früh ein Elternteil verlieren! Ihre Mutter und sie lebten irgendwo in einer deutschen Stadt im 17. Stock eines Hochhauses. Und dieses Haus mit seinen herrlich skurrilen Bewohnern ist ebenfalls Protagonist in dem wundervollen Debüt von Elena Fischer, so sagt es jedenfalls die Autorin selbst. Man hilft sich untereinander und passt auf sich auf. Nachbarin Luna leiht Billie Geld. Und damit macht sie sich im alten Nissan ihrer Mutter auf den Weg, um ihren unbekannten Vater aufzuspüren. Natürlich können/dürfen 14Jährige in der Regel nicht alleine Auto fahren. Aber dies ist ein Roman, und in einer fiktiven Welt ist eben auch das möglich...
Elena Fischers "coming-of age-road-trip" ist so bezaubernd und unterhaltsam geschrieben, dass ich das Buch liebend gerne ganz vielen Lesern und Leserinnen ab 14 Jahren empfehlen möchte. Kein Wunder, dass es für den deutschen Buchpreis 2023 nominiert wurde!
Andrea Westerkamp
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Unsere Buchempfehlung im Oktober
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Rowohlt 23,00€
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Ulrike Sterblich: "Drifter"
Im Vordergrund dieser Geschichte steht die Freundschaft zweier Männer, die, im selben Häuserblock in einfachen Verhältnissen aufgewachsen, ihr Leben inzwischen jeder auf eigene Weise erfolgreich gestaltet haben. Es scheint eine unverbrüchliche Freundschaft zu sein, getragen von einer Selbstverständlichkeit, die nichts hinterfragt, weil ohnehin beide im blinden Verständnis füreinander wissen, wie der jeweils andere tickt.
All das ändert sich schlagartig, als „Killer“, der eigentlich Marco Killmann heißt, am Ende einer Veranstaltung unter freiem Himmel vom Blitz getroffen wird. Dem ersten Anschein nach übersteht er das zwar relativ unversehrt, doch in der Folge zeigt er eine zunehmende Wesensveränderung, die vieles von dem infrage stellt, was bis dato selbstverständlich war und auch seinen Freund Wenzel Zahn stark verunsichert. Die beginnende Entfremdung und behutsame Wiederannäherung der beiden zieht sich wie ein roter Faden durch diesen Roman, der daneben zahlreiche andere, teils außerordentlich skurrile Ereignisse beschreibt. Killer schmeißt seinen Job hin, zieht zurück in den Häuserblock, in dem er aufgewachsen ist, und kümmert sich dort empathisch um seine Mutter und Mitmenschen, die bislang nicht zu seinem Umfeld gehörten. Wenzel hingegen plagt sich mit einem neuen Nachbarn, sucht den Kontakt zu der mysteriösen Vica, die er in der Bahn getroffen hat und versucht mit allen Mitteln den neuen Roman „Elektrokröte“ seines Lieblingsschriftstellers Drifter zu bekommen. Vica ihrerseits nutzt den Kontakt zu Wenzel und später auch zu Killer, um in einem Teil des besagten Häuserblocks ihre Firma mitsamt ihrer außergewöhnlichen und ziemlich schrägen Mitarbeiterschaft unterzubringen.
Vieles, was Ulrike Sterblich in diesem Roman erzählt, mutet an wie ein überdrehter, etwas fiebriger Traum - es erscheint unwirklich und manchmal schrill, ohne jedoch ins Lächerliche abzugleiten. Bemerkenswert finde ich, dass es der Autorin durchgehend gelingt, die Fäden der Handlung so im Blick zu behalten und miteinander zu verweben, dass bei all den wilden Verquickungen die Stringenz der Geschichte erhalten bleibt. Nichts von dem, was passiert, ist von Dauer, alles ist in beständiger Veränderung und die handelnden Personen sind jede für sich und alle zusammen „Drifter“, Treibende… Wer Lust hat, sich auf Ulrike Sterblichs Fabulierkunst einzulassen, wird mit einem wirklich besonderen Lesevergnügen und vielen wundervollen Sätzen und Gedanken belohnt. Hier ein kleines Beispiel von Seite 186: „Egal wie nah man an der Perfektion ist, man sieht immer nur die Differenz, das, was fehlt. […….] Man könnte sogar sagen, die Suche nach Perfektion ist überhaupt der Fehler. Der Makel liegt nicht in der lädierten Vollkommenheit, der Makel liegt darin, Vollkommenheit zu wollen.“
Bettina Ziehe
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